Wiedersehensfreude

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Der Fahrgast bemühte sich die Nerven nicht zu verlieren, obwohl ihn die junge Frau auf dem Sitzbank gegenüber mit ihrer Nervosität fast um den Verstand zu bringen drohte. Ihr ruckartiges Klopfen der Fingerspitzen auf das kleine Tischchen zwischen ihnen, die Nägel, die jedes dunkle Pochen mit ein helles Knirschen versahen, ihr vor Aufregung erhitztes Gesicht, das sie so nahe an die Glasscheibe drückte, dass der Mann glaubte, ihre Nase müsste nach der Fahrt platt sein. Lara bemerkte von all dem nichts. Selbst wenn sie die enervierten Blicke ihrer Mitfahrer wahrgenommen hätte, wäre es ihr gleichgültig gewesen, denn für sie spielte einzig und allein die Tatsache eine Rolle, dass sie in wenigen Minuten im Hauptbahnhof einfahren würde. Dort, auf dem Bahnsteig, würde er auf sie warten. Sam würde dastehen, die Hände möglicherweise in den Hosentaschen verborgen, um sie vor der beissenden Kälte zu schützen, doch er würde auf sie warten.
Als der Zug langsam wie eine Schnecke in die Bahnhofshalle einfuhr, hielt es Lara nicht mehr aus und obwohl sie erst in ein paar Minuten aus dem Wagon steigen konnte, schulterte sie die Tasche mit ihren wichtigsten Habseligkeiten, quetschte sich zwischen den schon aufstehenden Passagieren des Nachtzugs durch, um einen Platz möglichst nahe bei der Türe zu ergattern. Als die automatischen Türhälften endlich den Durchgang zu Laras Freund freigaben, konnte sie dem Gefährt gar nicht schnell genug entkommen. Mit zügigen Schritten lief Lara dem Perron entlang, bis sie ihn endlich vor einem alten und schrulligen Ehepaar stehend vorfand. Sein Blick durchsuchte noch immer die strömende Menge.
„Sam, hier bin ich!“, rief Lara ihm zu und mit einem grossen Lächeln auf dem Gesicht überbrückte er die letzte Distanz zwischen ihnen und schloss Lara fest in seine grossen Arme.
„Du hast mir so gefehlt“, murmelte er in ihre Winterjacke. Sie grinste. „Du mir erst! Deutschland ist einfach nicht das Wahre ohne dich.“
„Genau deshalb kommst du mich ja besuchen. Im Sommer komme ich dich besuchen und du zeigst mir alle diesen fabelhaften Orte, die ohne mich einfach nicht das Wahre sind.“
Lara lachte, stellte sich auf die Zehenspitzen und drücke Sam einen kalten und gleichzeitig warmen Kuss auf den Mund. „Das habe ich auch vermisst“, hauchte Sam an ihren Lippen. „Mhm“ war neben einem weiteren Kuss die einzige Antwort, die er erhielt. Schlussendlich löste sich Lara von ihrem Freund und zog ihn an den Hand Richtung Ausgang. „Lass uns verschwinden. Es ist saukalt!“ Sam lachte heiser. Das musste noch die letzten Erinnerungen an eine Erkältung sein, überlegte sich Lara, er hatte mir gar nichts davon erzählt.
„Warst du krank?“, fragte sie. „Nur eine kleine Grippe, nichts Schlimmes. Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst, so kurz bevor du nach Hause kommst“, fügte er hinzu, als er ihren Blick sah. „Hättest du was gesagt, wäre ich nicht ohne eine riesige Tüte Hustenbonbons abgereist. Die sind echt lecker“, grinste sie. Er stimmte in ihr Lachen mit ein, dann stockte Sam. „Du warst in diesem Fall auch krank?“ Kopfschütteln. „Nein, nicht ich. Kati hat sich eine Erkältung eingefangen und da mussten wir alle verschiedenen Hustenbonbons kosten, um die beste Marke zu finden. Mein Gott, war das ein lustiger Abend. Irgendwann hatte ich das Gefühl, ich könne meine klebrigen Zähne nicht mehr von einander lösen.“
„Kati?“ Und während das wiedervereinte Paar in eines der blauen Trame stieg, erzählte Lara von ihren Abenteuern mit ihrer neuen Studienfreundin Kati, die sie von zwei Wochen bei einem Englischseminar kennengelernt hatte.

Blanc ÉclatantWhere stories live. Discover now