Kapitel VI

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Ich sehe auf sie hinab. Ihre Gesichter wirken fremd, kalt, leer.
Ich kann es nicht begreifen.
Meine größte Angst hat sich verwirklicht.
Tod.
Fort.

Sie waren immer so gut zu mir gewesen, sie waren meine Familie, als ich keine mehr hatte.
Sie waren immer für mich da.
Zwölf Jahre waren sie meine einzige Sicherheit.
Zwölf Jahre opferten sie so viel für mich, riskierten so viel, gaben mir die Chance zu leben.

Und jetzt haben sie ihren letzten Atemzug gemacht und ich bin noch hier, muss ihre leblosen Körper sehen.

Wie in einer Trance falle ich auf den Boden neben Sally und greife ihre Hand. Sie ist nicht mehr warm.
Es muss direkt nach dem ich mich verabschiedet habe passiert sein.

Wenigstens konnte ich mich bedanken, doch ich hätte noch so viel, was ich ihnen erzählen würde wollen. Sofort habe ich das Gefühl, meine Zeit mit ihnen nicht genug ausgenutzt zu haben.
So viele Jahre und doch habe ich es nicht geschafft, ihnen zu sagen, dass ich sie wie Eltern liebe.
So viele Jahre und doch ist es in Sekunden vorbei. So schnell beendet, so unvorbereitet zerstört.

Wie ein Schlag, wie eine Explosion. Zuerst ist alles still.
Dann der Knall.
Zuletzt die Trümmer, die den Tod verdecken, bis man die gestorbenen Opfer herauszieht.

Wie kann es sein, dass andere Menschen dazu fähig sind, das hier ihres Gleichen anzutun?
Wie können Menschen über andere Menschen entscheiden, wer leben darf und wer nicht?
Wie kann es sein, dass die Friedenswächter und Präsident Snow so einfach Leben beenden können?

Das ist nicht gerecht, menschlich oder notwendig, wie sie behaupten. Niemand hat den Tod verdient, nicht mal sie selbst.

„Sie wussten die ganze Zeit, dass etwas passieren könnte. Sie wussten, was sie riskieren. Sie wussten, für was sie gekämpft haben", Sophias Stimme ist heiser. Sie läuft an mir vorbei in das Wohnzimmer, in der Tür stößt sie einen Schrei aus.
Crest folgt ihr langsam, er weiß, was sie geschockt hat.
Ich weiß es auch.

Aber ich kann nicht auch noch die Leichen der anderen Rebellen sehen.
Ich streiche mit den Fingerspitzen über Sallys Gesicht, ohne den freundlichen Glanz in ihren Augen sieht es unnatürlich aus, wie eine falsche Maske. Mir fällt ein, was Daven einst sagte, im Tod sehen alle Leute anders aus.
Ich erwarte, dass mir die Tränen hochkommen, doch es passiert nicht. Es ist so schrecklich, dass ich nicht mal weinen kann.

Mein Blick wandert zu Daven.
Auf seinem weißen Hemd wurde ein Wort mit schwarzer Kohle geschrieben: „Verräter."
Seine Augen sind geweitet, sein Mund geöffnet, seine Hand zeigt selbst am Boden noch in Sallys Richtung.
Hinter ihm liegen die zerstörten Einzelteile des Rollstuhls.

Ich ertrage es kaum, ihn und Sally so zu sehen, aber ich kann auch nicht wegschauen. Ich muss sie anstarren und versuche, es zu verstehen.

Einige Minuten sitze ich nur da.
Dann stehe ich auf und nehme den schwarzen Lieblingsmantel von Daven und lege ihn über die Aufschrift und die Schusswunde auf dem Hemd.
Er war kein Verräter, Verräter sind die, die ihn ermordet haben.

Ich nehme Sallys andere Hand und lege sie so, dass sich die Fingerspitzen der beiden berühren, so sind sie auch jetzt noch verbunden.

Jetzt kann ich aufstehen und zu Crest und Sophia gehen.
Im Wohnzimmer liegen drei Leichen. Sophia kniet erschüttert bei ihren Eltern, Tränen laufen ihr hübsches Gesicht hinunter.
Crest hält die Hand seines Vaters, sein Gesichtsausdruck ist schmerzverzerrt.

Ich will ihnen helfen, etwas tröstendes sagen, denn ich weiß wie es sich anfühlt.
Der Schmerz trifft mich jetzt schon das zweite Mal.

Plötzlich springt Sophia auf: „Wir müssen los, sie werden bald wieder kommen, um zu schauen, ob noch jemand gekommen ist. Sie wissen, dass unsere Eltern Kinder hatten, sie werden nach uns suchen. Uns bleibt wenig Zeit."

Schweigen - Hungergames FFWhere stories live. Discover now