32: Sterben.

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‚Sterben kann gar nicht so schwer sein - bisher hat es noch jeder geschafft.' - Norman Mailer

Vielleicht ist sterben wirklich nicht so schwer, vielleicht haben wir nur Angst vor dem Tod, weil wir denken, dass sterben schwer ist. Aber vielleicht ist sterben ja doch ganz einfach? Zumindest für die Person, die stirbt. Für die Außenstehenden ist sterben ganz bestimmt nicht einfach, denn sie müssen weiterleben, ganz egal wie wichtig ihnen die tote Person war, sie werden immer weiter an sie erinnert. Vielleicht ist sterben einfach für mich, aber auf keinen Fall ist es einfach für meine Familie.

Oder für Jakob.

Es ist komisch von meiner ganzen Familie angestarrt zu werden, unter ihren trübseligen Blicken zu liegen, die aussehen, als würden sie einen tollen Laden, vollgestopft mit Dingen, die jeder der drei gerne hätte, nur von Außen ansehen und nicht betreten dürfen. Sie schauen mich an, als wäre ich das letzte Stück Hoffnung dieser Erde, welches dieser nun leise entgleitet. Aber es ist nichts neues für mich, ich bin das gewohnt.

Ich bin auch gewohnt, dass Papa am Fußende des Bettes sitzt, meine Füße auf seinen Oberschenkeln und er massiert sie sanft. Um mich zu beruhigen, sagt er, aber ich weiß, dass er das nur macht, um sich selbst zu beruhigen. Außerdem spüre ich den mittelfesten Druck seiner Hände, dank der drei Paar Kuschelsocken, die Mama mir vorsorglich übergezogen hat, so gut wie gar nicht. Beruhigen. Ein komisches Wort auf das man sich beim Anblick meiner Mutter kaum konzentrieren kann.

Weinend steht sie vor dem Fenster, den Rücken zu uns gekehrt und tut so, als würde dort draußen etwas passieren, das wichtiger ist als ihre Tochter, die nur zwei Meter von ihr entfernt in einem Bett an Schläuchen hängt, die sie gerade so am Leben halten. Ich finde sie ist ein bisschen zu hysterisch, immerhin bin ich noch am Leben. Sollte sie nicht eigentlich bei mir sein und nicht so tun als wäre ich jetzt schon tot?

Ich würde ihr gerne sagen, dass ich sie exzentrisch finde, aber die Schläuche, die in meiner Nase sowie meinem Mund verlaufen, hindern mich am Reden, versorgen mich aber mit der Luft, die ich zum Weiterleben brauche, aber von allein nicht mehr aufnehmen kann. Es ist nichts Neues für mich, diese Schläuche umarmten mich schon, als ich gerade frisch auf die Welt gekommen war.

Niemand muss es sagen, wir alle wissen, dass dies mein letzter Tag ist.

Timo sitzt wieder auf dem ungemütlichen Holzstuhl, den Cowboyhut auf dem Kopf, kippelt vor sich hin. Sein rechtes Bein wippt auf und ab, lässt ein dumpfes Klopfen auf dem grauen Linoleumboden erklingen. Ich weiß, dass es für ihn mindestens genauso schwer ist hier zu sitzen und darauf zu warten, dass mir das Herz stehen bleibt, wie unseren Eltern, aber er ist zu stolz, zu verschlossen zu jugendlich dafür es allen zu zeigen.

Er nestelt unbeholfen an seinem Handy rum, bis Papa ihn mahnend ansieht und er es zurück in seine graue Jogginghose schiebt. „Herzlichen Gruß von den Sheffields, soll ich ausrichten", murmelt Timo und ich lächle leicht, „Fuck, findet es noch jemand so scheiße kalt hier?" Fluchend zieht er die Ärmel seines Pullovers nun über seine ganzen Hände, reibt sie aneinander und haucht sie an. Er war schon immer eine Frostbeule.

Keine Ahnung, will ich sagen, ich spüre 50% meines Körpers mittlerweile nicht mehr, aber die Atemhelfer lassen nicht zu, dass ich auch nur ein Wort von mir gebe. Meine Mutter allerdings hat keinen Maulkorb, kein Sprechverbot erteilt bekommen und so lässt sie es sich nicht entgehen Timo auch im Trauerzustand zu ermahnen. „Hör auf solche Wörter zu benutzen!" „Es ist aber verfickt kalt hier! Machen die das, um die Fast-Leichen schon mal abzukühlen oder was soll die scheiße?!"

„Timo!" Rufen unsere Eltern gleichzeitig und schauen ihren, gegen die Trauer kämpfenden, Sohn fassungslos an. Ein heiseres Lachen, das sich mehr anhört wie das Röcheln eines sterbenden Walrosses, entflieht meiner Kehle, mein Bruder ist der Einzige der es als Lachen deuten kann. „Oh Gott, Louisa, geht's dir gut?" Mama beendet ihre Selbstmitleid-aus-dem-Fenster-schau Phase für einen kurzen Moment und geht mit schnellen Schritten auf mich zu. Ich hebe kurz den Arm, der mit einem ausgestreckten Daumen endet.

𝐴𝑢𝑓 𝑀𝑖𝑐ℎ 𝑊𝑎𝑟𝑡𝑒𝑛 𝐷𝑖𝑒 𝑆𝑡𝑒𝑟𝑛𝑒 ✔︎Where stories live. Discover now