Teil 6: Neue Welten

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Ich kann kaum erklären, was ich in dem Moment empfand, als ich mit den anderen Betreuern in U-Form um meine unbeliebte Stiefschwester saß. Wenn ich ehrlich bin, wusste ich nicht viel von ihr und wollte an diesem Zustand auch nichts ändern. Sie war eben da und lebte ihr Leben. Niemals wäre ich darauf gekommen, dass ihr Leben in einem Sommercamp für Ferienkinder stattfinden würde, was sie scheinbar auch noch leitete. Ich meine, es ist ein Feriencamp. Sie verdient ihr Geld mit glücklichen Kindern, das passte einfach so gar nicht zu ihr. 

Das letzte Mal als ich sie gesehen hatte, war meine Mutter damit beschäftigt, ein Abendessen vorzubereiten, was keinerlei Wünsche offen ließ. Sie stand seit mehreren Stunden in der Küche und es roch so fantastisch, dass ich neidisch wurde, dass sie sich so einen Aufwand für die "Tochter" machte, die weder hier wohnte, noch ihrem Fleisch und Blut entsprungen war. Lucy kam sehr selten hier her und immer wenn sie da war, verspürte ich eine unangenehme Kühle, die von ihr ausging und mich abschreckte. Auch an diesem Tag war es nicht anders. Als sie hereinkam, legte die große schlanke und zugegeben wirklich hübsche Brünette ihren langen Mantel ab und war nur in Pastelltönen gekleidet, das wirkte so edel und modern, dass ich schon nur deshalb eingeschüchtert war. Ich hingegen trug eintönig schwarz und fühlte mich ihr gegenüber wie ein kleines Mädchen. Lucy war höflich zu meiner Mum, aber meiner Meinung nach keinesfalls freundlich genug, wenn man bedachte, wie viel Mühe sie sich gab. Ich spürte, dass sie angespannt war, meine Mutter wollte unbedingt, dass es ein gemütlicher Abend werden würde, ein Familienabend. Normalerweise hätte ich mich sofort ausgeklinkt und wäre gar nicht erschienen, aber ihr zu liebe konnte ich das nicht tun. Dabei ging es eigentlich wieder nur um ihn. Er hatte einen Narren an Lucy gefressen, erzählte immer wieder, wie großartig sie sei, dass sie so erfolgreich studiere, dass sie so schön wäre, dass man sich nie um sie sorgen müsse, weil alles, was sie in die Hand nehme, einfach funktioniere. Mein Stiefvater sprach wirklich nicht oft von Menschen, die er bewunderte und genau darum war es meiner Mutter so wichtig, dass Lucy sie mochte. Einmal im Leben wollte meiner Mutter die Anerkennung die sie verflixt nochmal auch verdiente. Und sie hoffte ein gutes Verhältnis zu Lucy könne das hervorrufen. 

Ich weiß nicht ob Lucy wusste, wie wichtig meiner Mutter die Sache war, aber sie verhielt sich schrecklich. Sie erzählte nur von sich und ich bemerkte, dass sie und ihr Vater meine Mutter immer wieder durch kleine Sprüche in die Schranken wiesen. Als sie dann aber sagte, dass der Braten für eine Hausfrau sicher ganz okay sei, ihr aber nicht exotisch genug erschien, platzte mir der Kragen. Ich meine, ich war ein Teenager und ihr Benehmen war unter aller Sau, was hättet ihr gemacht? Als mein Stiefekel auch noch ein bisschen belustigt in die Runde blickte und ihr zustimmte, konnte ich mich einfach nicht zurückhalten. Ich stand auf, sah ihr in die Augen und bezeichnete sie als eine unordentliche, in ihrem Äußeren nachlässige und ungepflegte weibliche Person, zumindest sagt Duden, dass man es auch so umschreiben kann. Meine Mutter war entsetzt und Lucy schrie irgendetwas zurück, während mein Stiefvater so etwas sagte, wie, dass das genau das sei, was er immer meinte und ich eben ein Problemfall sei. Ich bekam Hausarrest und durfte eine Woche nicht mit dem Rest der Familie zu Abend essen, als wenn das eine Bestrafung wäre. Lucy kam jedenfalls kein weiteres Mal zu Besuch und komischerweise hatte auch mein Stiefvater nach einiger Zeit kein Wort mehr über sie verloren. Konnte es sein, dass dieser Job der Grund dafür sein könnte? Ich kann mir jedenfalls vorstellen, dass er nicht begeistert war, dass sie ein Camp für Kinder in einem Wald eröffnet hatte, anstatt ihr Jurastudium weiterhin so erfolgreich zu meistern.  

Jetzt, als ich hier saß, erinnerte ich mich an die nette Frau, mit der ich am Telefon gesprochen hatte, das war ganz sicher nicht Lucy gewesen. Warum hatte mich niemand gewarnt, nirgends ihr Name gestanden, kein Schreiben, keine Notiz, nichts. Oder doch? Ich musste wohl zugeben, dass ich nicht wirklich akribisch oder auch nur annähernd gründlich die Unterlagen gecheckt hatte, es war also auch zum Teil meine eigene Schuld. Es gefiel mir dennoch besser, jemand anderem die Schuld dafür zu geben und immerhin, hätte er mein Handy nicht gehackt und manipuliert, wäre ich nicht hier. Es gruselte mich noch immer, dass er Einfluss auf meine Chats hatte, wer weiß, wem er noch alles schreiben würde. Wir leben schließlich nicht mehr Neunzehnhundertirgendwas, wenn man jemandes Handy in die Finger bekam, hatte man seine Seele. Da stand einfach alles drin, tiefe Gedanken und Gefühle, Termine, Musikgeschmack, Rechnungen, Passwörter, Schulzeug, sogar ein Protokoll meiner fucking Periode und er wusste alles. Gänsehaut überkam mich. Konnte das sein? Oder hatte er doch nur Einfluss auf meine Chats? Es war egal, das musste aufhören, wenn ich nur wüsste wie.

Mein Sommer in Camp OdoretteWhere stories live. Discover now