Teil 5: Wiedersehen wider Willen

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Eigentlich soll man bekanntlich nicht bei Fremden mitfahren und das ändert sich auch nicht, wenn man kein Kind mehr ist. Mit Kyle wäre ich freiwillig auch niemals ins Auto gestiegen, auch wenn er wirklich gut aussah, weshalb er sich den Großteil seiner dummen Witze leisten konnte. Yannis konnte ich noch nicht recht einschätzen, machte einen gleichermaßen vertrauenswürdigen wie mysteriösen Eindruck. Maja hingegen hatte ich längst all meine emotionalen Naivitätsschubladen geöffnet, dass sie sich frei bedienen konnte. Ja, irgendwie mochte ich sie total. Wenn Mädchen auf andere Mädchen treffen, dann lächeln sie sich meistens an, aber beide wissen, dass sie einander noch lange nicht akzeptiert haben, es ist ein schlimmerer Kampf als bei einem Wolfsrudel, aber ohne dass irgendwer es mitbekommen würde. Maja strahlte das nicht aus. Ihr Lächeln leuchtete voller Ehrlichkeit und Loyalität. Sie schien eine wahre Weltverbesserin zu sein, die das nicht nur sein wollte, um zu sagen, dass sie das war. Maja ging es um die Welt und nicht um sich. Und ja, mit solchen Menschen konnte man überall hinfahren, zumindest wenn man sie richtig einschätzte. 

Die Straßen führten uns von den korngelben Feldern wieder in einen Wald voller Nadelbäume, der keineswegs so trocken aussah, aber voller Sommer steckte. Die Luft roch warm und nach Honig und ein bisschen nach Staub, den Yannis mit seinem roten Fiat aufwirbelte. Maja lehnte sich weit nach vorn, drehte einen alten Rocksong im Radio lauter und sang fröhlich mit, während Kyle nur genervt seinen Kopf gegen das Fester donnerte. Mir gefiel ihre gute Laune und sie hatte eine schöne klare Stimme.

"Unendlich lange 2 Stunden mit diesem Energiebündel sind überstanden, nur noch die letzten Meter", redete er sich scheinbar selbst zu, auch wenn er Maja damit schlichtweg ärgern wollte. Aber er hatte recht, die Fahrt war tatsächlich überstanden, als wir einen Bogen mit der Aufschrift "Camp Odorette" sahen. Sie hatten uns schon einmal nicht entführt, ob das jetzt gut oder schlecht war, würden wir in den nächsten Stunden herausfinden. In meinem Magen rumorte ein ungutes Gefühl von Nervosität. Ich war froh, mit den anderen auszusteigen, denn dadurch fühlte ich mich nicht so fremd und allein. 

Nachdem man durch den Bogen gefahren ist, erreichte man einen Waldweg und kam eine große Schlaufe entlang, an der ausnahmsweise mal keine Bäume, dafür einige Holzhütten und ein im Verhältnis dazu größeres Gebäude stand. Vor diesem befand sich genau ein kleiner Baum und eine Bank auf der bereits ein paar Jugendliche warteten. 

"Oh shit, die sind ja nicht viel jünger als wir, wie sollen wir denn auf die aufpassen?", fragte ich besorgt. Plötzlich begannen Yannis und Kyle laut zu lachen und sogar Maja grinste ein wenig. "Das sind keine Ferienkinder, das sind die anderen Betreuer." 

Erleichterung gepaart mit Scham überkamen mich. Ich hatte mir unter Aufsichtspersonen in solchen Camps etwas ganz anderes vorgestellt, tatsächlich schienen die Warteten aber ebenfalls jung zu sein. Viele Junge Menschen, die zusammenarbeiten und auf Kinder aufpassen, damit die schöne Ferien haben? Das klang eigentlich gar nicht mal übel. 

"Endlich, da sind ja meine Heinzelmännchen!", rief eine fröhliche Frau, die gerade aus dem Gebäude herausstürmte. Es war unglaublich, sie klang doch tatsächlich wie... Ich drehte mich um. Das war Lucy. Ach. Du. Scheiße. Als unsere Blicke sich trafen, schien auch sie überrascht, aber sie blieb professionell und vermied beim folgenden Vortrag, noch einmal mein Gesicht zu erblicken. "Ich bin ja so froh, dass ihr es geschafft habt, pünktlich seid und uns dieses Jahr wieder helft. Ich weiß, dass dieser Ferienjob eindeutig mehr Job als Ferien ist und ihr noch dazu eher eine Aufwandsentschädigung als Lohn bekommt, aber wir brauchen euch wirklich! Wir werden noch ein wenig warten, Monty und Bella fehlen noch, dann bekommt ihr alle weiteren Infos. Ein paar neue Gesichter gibt es schließlich auch." Das erste Mal blickte sie kurz zu mir. So neu wohl nicht. Aus irgendeinem Grund zitterte ich ein wenig. Ich wollte hier von zu Hause abschalten, mal alles hinter mir lassen, glauben, dass mein Stiefekel vielleicht doch nicht mein Handy manipuliert hatte, aber das hier, muss doch sein Plan gewesen sein. 

"Ich muss kurz", sagte ich nur leise und ging in irgendeine Richtung, Hauptsache erst einmal weg von hier. Gänsehaut überzog meinen Körper. Ich schaute auf mein Handy und schrieb meiner Mutter. Ich will hier weg, bitte. Was ich mir genau davon erhoffte, wusste ich nicht. Aber wenn mir irgendjemand helfen konnte, dann sie. Ich würde es nicht durchstehen. Es wurde mir zu viel und ich ging tiefer in den Wald, bis ich das Gebäude gerade noch so sehen konnte. Ich wollte mich schließlich nicht wie das typische Stadtkind direkt erst einmal verlaufen. 

Wieder blickte ich auf mein Handy. Nichts passierte. Sie antwortete nicht. Meine Mutter würde mich holen, ich wusste es. Eigentlich. Aber wenn es doch der Plan von ihm war, dann wird er es meiner Mutter ausreden. Wenigstens gut zureden könnte sie mir doch. Aber es kam nichts und plötzlich schreckte ich wegen eines Knackens hinter mir hoch. Es waren Kyle und Marcia, die wohl bereits nach mir suchten, dabei war ich höchstens 10 Minuten weg. 

"Hier bist du ja, siehst du, sie raucht nicht", erklärte meine beste Freundin, während Kyle nur entschuldigend die Schultern bewegte. "Hey, Waldbrandgefahr und so, am Ende war es auch nicht meine Anweisung." 

"Diese Frau Oberwichtig meinte, wir sollen dich suchen. Stadtmenschen würden manchmal hier komische Dinge tun, was eigentlich eher creepy als nachvollziehbar klang." 

"Klar ist das creepy, du hast ja keine Ahnung, was die hier mit Mädchen wie euch anstellen", sagte Kyle mit einer schaurigen sowie schmutzigen Grimasse und blickte meiner Freundin in die Augen. Marcia verdrehte nur die Augen und ich lächelte, weil die beiden so hervorragend zusammenpassten. Marcia hatte all ihre Freunde zunächst nicht gemocht, scheinbar zog sie das auf seltsame Weise an. Sie bemerkte meinen Blick und drohte mit ihren Augen, ich solle nicht auf solche Gedanken kommen. Beste Freundinnen verstehen sich eben telepathisch. 

"Was wolltest du denn hier?", fragte sie dann, als wir uns langsam auf den Rückweg machten und Kyle einige Meter vor uns lief. Ich blickte besorgt auf den Boden. Meine Füße waren schon jetzt zerkratzt, weil ich nur leichte Sandalen trug. "Es ist Lucy."

"Wer?"

"Lucy, die Tochter von du weißt schon wem, meine Stief-(würg)-Schwester. Du hast sie vorhin als Frau Oberwichtig bezeichnet." Marcia fielen fast die Augen raus. "Das ist ...? Scheiße." Sie hatte es auf den Punkt getroffen. Ich konnte Lucy noch nie leiden, denn alles an ihr, war wie ihr Vater, abstoßend. Gut, sie sah nicht schlecht aus und wenn man sie unabhängig von ihren genetischen Vorfahren kennenlernte, fand man sie vielleicht sogar okay, aber ich fand sie nicht okay. Ganz und gar nicht okay. Das hatte er doch gewusst. Deswegen hatte er mich doch hierher geschickt, damit er seine Ruhe hatte und ich trotzdem unter Kontrolle stand. Noch ein Blick auf mein Handy, immer noch keine Nachricht. Marcia legte ihren Arm um meine Schultern. "Wir schaffen das schon."

Mein Sommer in Camp OdoretteWhere stories live. Discover now