Chapter Two

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Am nächsten Morgen wachte ich relativ früh auf. Mein Kopf pochte und meine Augen waren ganz verklebt. Immer wieder war ich in der Nacht aus dem Schlaf hochgeschreckt und hatte bitter zu weinen begonnen.

Erschöpft wusch ich mein Gesicht, band meine Haare zu einem unordentlichen Dutt im Nacken zusammen und schlich die Treppenstufen hinunter. Jeder einzelne Schritt war ein Schritt zu viel.

Überrascht blickte ich schließlich in die Gesichter meiner Eltern. Ihre sonst so perfekte Fassade war gebrochen. Auch ihnen stand die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben. Dazu hatten sie kein Recht.

Wütend übermannten mich der Gedanke, dass sie bis vor wenigen Tagen kaum eine Rolle in unserem Leben spielten. Sie waren ständig mit ihrer Arbeit beschäftigt gewesen. Und jetzt saßen sie hier und tranken gemeinsam einen Kaffee, die Brötchen standen in einer großen Schüssel zwischen ihnen.

„Guten Morgen, Spätzchen." Meine Mutter versuchte sich an einem Lächeln und scheiterte in der nächsten Sekunde. Ihr Blick war schmerzerfüllt.

Ich antwortete nicht. Ich wollte es nicht. Ich konnte es nicht. Zudem war es kein guter Morgen. Es würde keinen guten Morgen mehr geben.

Auch mein Vater wandte sich zu mir und klopfte auf den Platz neben sich.

Meine Handinnenflächen rieben immer wieder über den Stoff meiner Jeans, als ich es nicht mehr ertrug und mir einen Apfel schnappte.

Schnell stand ich auf und verließ den Raum. „Ich werde zu Liam gehen." Und sie würden nicht mitkommen. Einerseits spürte ich wieder diese unbändige Wut in mir aufsteigen, andererseits war ich aber doch erleichtert. Ich wollte mit Liam allein sein.

Der Himmel war bewölkt, die Sonne dahinter versteckt. Ich lief die Straßen entlang und schenkte einem älteren Mann, der am Rande einer Gasse saß, den Apfel. Ich hatte keinen Hunger. Meine Eltern sollten jedoch nicht denken, dass ich nun dem Hungerstreik verfallen würde. Der Mann lächelte unsicher und schien verängstigt. Sein Blick glitt immer wieder von dem Apfel, hoch zu mir. Ohne ein Wort hielt ich ihm den Apfel weiterhin entgegen. Seine Finger krallten sich schüchtern um die Schale. Immer wieder murmelte er ein ‚Dankeschön'.

Auf dem Weg zu Liams Grab kaufte ich eine weiße Rose. Die Blütenblätter strahlten mir entgegen, während ich sie in meinen Händen drehte. Auf seinem Grab lagen viele Rosen.

„Hey.", ich setzte mich die Erde und legte meine Rose zu den anderen. Es schmerzte, keine Antwort zu erhalten. „Du fehlst mir." Ich bohrte mit meinem Zeigefinger kleine Löcher in die Erde und verdeckte sie wenig später wieder mit meiner Handfläche. „Es ist anders. So ruhig und – deine Sachen liegen noch genau dort, wo du sie liegen lassen hast. Du hättest sie wegräumen können." Etwas bitter und von einem Schmerz durchbohrt, lachte ich auf. Schließlich saß ich eine Zeit lang Liam gegenüber und schwieg. Es begann zu regnen und die Erde um mich herum wurde feucht. Es war ein Anblick, der auch mir eine Träne entfliehen ließ. „Ich werde dich besuchen. So oft, wie es mir möglich ist. Und du wirst genervt von mir sein. Denn du kannst nicht mehr fliehen." Noch einmal lachte ich auf und schluchzte, bevor ich aufstand und nicht zurück sah, während ich die schmalen Gänge entlang, zum Ausgang lief.

Zuhause angekommen, wollte ich nur noch duschen und mich in mein Bett verkriechen. Doch plötzlich kam mir mein Vater entgegen.

„Bleib bitte angezogen. Wir haben einen Termin."

„Was für ein Termin?" Stirnrunzelnd sah ich dabei zu, wie er alle Geräte ausmachte.

„Bei Mrs. Fright", kam es dann von meiner Mutter. „Sie ist eine Verhaltenstherapeutin", sprach sie weiter.

Wofür?, war das Einzige, was ich mich fragte. Es gab keinen Grund für eine Therapie. Ich war weder krank, noch gestört. Und ich würde definitiv nicht kooperieren.

Liebes Tagebuch || #Wattys2015Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt