60) Die vier letzten Dinge

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"Du lebst in einer Stadt der Sünde?", frage ich ungläubig.

"Jetzt weißt du, weshalb ich dir mein Reich nicht zeigen wollte", entgegnet Aljan.

Vor uns erheben sich die Dächer der Stadt. Dazwischen ragen Kirchtürme in die Höhe. Alles ist in einen lilafarbigen Schein getaucht. Es wirkt unwirklich, als würde sich alles beim Näherkommen in Luft auflösen und verflüchtigen, wie in einem Traum.

Tut es aber nicht. Die Stadt verfestigt sich und verschluckt uns.

Gebäude aus Backstein, grau und trist. Straßen aus Pflastersteinen, schmutzig vom Staub der Straße. Der Wind trägt alte Zeitungen vor sich hin. Müll sammelt sich neben den Mülleimern. Ratten durchwühlen die fauligen Reste. Es stinkt nach Abfall und Pferdemist. Die Luft riecht nach Regen und nach Fisch, nach Alkohol und Rauch.

Ein Fischhändler preist seine Ware an, aus einer Bar dringt Musik, Gelächter und Geschrei. Irgendwo läutet eine Kirchenglocke. An einer Straßenecke spielt ein Musikant auf einer Mandoline.

Wir bleiben stehen, um ihm zu lauschen. Er spielt wirklich gut.

Wer ist der Dritte, der immerzu geht neben dir?

Wenn ich zähle, sind's zusammen nur du und ich,

Doch wenn ich vorausschaue auf die weiße Straße

Ist immer ein andrer da, der geht neben dir,

Gleitet, in einen braunem Mantel gehüllt, vermummt

Ich weiß nicht, ob Mann oder Frau

— Aber wer ist das da zur anderen Seite von dir?

Seine Stimme ist voll. Er hält mich mit einem Blick aus schwarzen Augen gefangen. Es ist Aljan, der mich weiterzieht.

"Komm, er zitiert nur Verse aus dem Gedicht. Es wird Zeit."

Wir sind nicht die einzigen, die unterwegs sind. Männer, Frauen und Kinder spazieren durch die Straßen der Stadt. Sie lachen, streiten und unterhalten sich.

"Wer sind die?"

"Komparsen, wenn du so willst. Auch sie zitieren Stellen aus dem Gedicht."

Die Straße führt auf einen Fluß zu. Frachtkähne schaukeln ihre Ladung über die Wellen. Ein miefiger Dunst steigt auf und dringt unangenehm in meine Nase.

Wir folgen der Ufermauer bis zu einer Brücke. Aljan wendet sich dem Fuß der Brücke zu. Dann bleibt er stehen. Im nächsten Moment erkenne ich den Grund. In der Mitte der Brücke, direkt über den wogenden Fluten, endet der Fußweg und die Brücke teilt sich in zwei Hälften. Ein Abgrund von mehreren Metern klafft zwischen den beiden Enden. Der gepflasterte Weg bricht einfach ab, als hätte er unter der Last der Fußgänger nachgegeben. Auch der Fluß ist gespalten. An den Kanten stürzt das Wasser in die Tiefe wie bei einem Wasserfall. Es rauscht und schäumt, es gluckert und zischt. Der Spalt schluckt das Wasser, aber das Wasser gibt nicht kampflos auf. Es wehrt sich auf seinem Weg in die Tiefe. Die Geräusche schlucken sogar den Lärm der Stadt. Vor unseren Augen wird ein Frachtkahn angezogen. Der Rudermann stochert mit einem langen Stab in den Wellen. Er kämpft gegen den Sog. Aber er hat nicht den Hauch einer Chance. Ich kann nicht hören, was Aljan sagt. Dann kippt der Kahn über die Kante und verschwindet in der Tiefe.

Nach wenigen Sekunden ist er von der Bildfläche verschwunden. Nichts mehr ist von ihm zu erkennen. Das Wasser rauscht hinab, als wäre nichts geschehen. Die anderen Kahnführer steuern unbeeindruckt weiter. Das Leben geht weiter - für sie.

Brennende Feuer - Dunkle SchattenWhere stories live. Discover now