58) Das Buch des Lebens

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Erwartungsvolle Stille. Sophia lächelt. Hekates wissender Blick ruht auf mir. Und alle anderen starren mich an. Zeus, die apokalyptischen Reiterinnen, Erit, seine Brüder, Hel, Charon und all die unzähligen anwesenden Götter und Göttinnen. Nur Kerberos schläft eingerollt zu Füßen des Fährmanns über den Styx. Wie sehr ich den Hund beneide, und wie sehr mich all diese Aufmerksamkeit verunsichert. Ich fühle mich wie versteinert, kann kaum denken. Geschweige denn, reden.

Aljan weckt mich mit einer sanften Berührung an der Seite aus meiner Starre.

"Und wie?", flüstere ich. Wie brüchig und unsicher meine Stimme klingt. Wie ein zaghaftes Flämmchen in einem tosenden Sturm. Was soll ausgerechnet ich hier inmitten all dieser mächtigen Götter?

Sophia winkt mich zu sich heran. Zuerst wollen mir meine Beine nicht gehorchen, aber dann gelingt es mir doch, mich auf wackeligen Schritten zwischen die beiden Göttinnen zu schieben, ohne dabei zu stolpern.

Sophia beugt sich zu mir, so dass die anderen ihre Worte nicht hören können. "Welcher der Höllenprinzen ist dir der liebste?"

Auf diese Frage gibt es nur eine Antwort, die ich ihr ebenso leise ins Ohr flüstere wie sie mir.

Sophia nickt und schaut auf. "Aljan Luzifer, komm zu uns."

Während Aljan sich erhebt und meinem Beispiel folgt, nur dass seine Schritte sicher und selbstbewusst sind, wendet sich Hekate Zeus zu und flüstert ihm etwas zu.

Sophia positioniert sich zwischen Aljan und mir.

"Eine gute Wahl", wispert sie und lächelt uns beiden zu.

Dann ist es Zeus donnernde Stimme, die die Stille unterbricht. "Der wahre Nachfolger und Erhalter der Unterwelt ist fortan Aljan Luzifer, der siebte Prinz der Hölle."

Stille verschluckt mich erneut. Das war es schon? Das war meine Aufgabe?

Dann fegt ein Raunen über mich hinweg. Applaus mischt sich mit Jubelrufen, aber auch einigen Pfiffen. Erits Mund steht offen. Andens Augen sind in ungläubigem Entsetzen weit aufgerissen, die anderen Brüder schauen zwischen Aljan und Erit hin und her. Wenn Blicke töten könnten, würde Aljan an Ort und Stelle tot umfallen.

Dann unterbricht ein Donnerschlag die Unruhe, fährt mitten hinein und glättet die Wogen. Und ein weiterer folgt, als Zeus seinen Götterstab erneut auf den Boden schlägt.

"Ruhe!", brüllt er und Ruhe tritt ein.

"Aljan Luzifer, du wirst mit dem göttlichen Samen gesegnet, so wie es im Buch des Lebens, in dem alles verzeichnet ist, steht. Sophia, geh und hol das Buch."

"So soll es sein", entgegnet diese und eilt davon.

Unmittelbar nimmt Hekate ihren Platz zwischen uns ein, bevor ich an seine Seite treten kann. Sie greift nach meiner und Aljans Hand, hält sie in ihrer.

"Nun kommt alles Verborgene zum Vorschein. Eure Vereinigung steht unmittelbar bevor. Die Unterwelt wird erhalten, was ihr fehlt. Die weibliche Seite, die Frucht des Schoßes und der Liebe."

Ich schlucke. Mir dämmert, dass meine Aufgabe noch lange nicht vorüber ist, sondern gerade erst beginnt.

"Aber-", stottere ich.

"Ssscht", macht Hekate. "Du hast deine Wahl getroffen." Sie führt meine Hand an ihr Herz. "Vertrau auf deine innere Stimme."

Ich will protestieren. Ich habe keine Wahl getroffen. Meine innere Stimme ist genauso verwirrt wie mein Verstand. Mein Herz klopft jedenfalls als wollte es zerspringen. Es ist aufgeregt - sollte meine innere Stimme mir das sagen? Was Aljan wohl denkt? Aber mein Gesicht ist zu Boden gerichtet. Ich kann sehen, wie sich die Deckenleuchten in den Marmorfliesen spiegeln. Mein Mund bleibt stumm.

Brennende Feuer - Dunkle SchattenWhere stories live. Discover now