53) Der Anfang vom Ende

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Achtung: Triggerwarnung (Gewalt und sexuelle Belästigung - wer da empfindlich ist, wägt bitte gut ab, ob er/sie sich das zumuten kann)

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Endlich löst sich die Hand von meinem Mund, aber es ist zu spät. Aljan ist fort.

"Anden wird ihn nicht ewig in die Irre führen können", stoße ich zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor. Mein Kiefer schmerzt, wo Erit mit seinen Finger zugedrückt hat und ich schmecke erneut den metallischen Geschmack von Blut in meinem Mund.

"Lang genug, damit ich tun kann, was ich schon von Anfang an tun wollte."

Erits Hände zerren grob an mir. Er löst die Fesseln von der Verankerung, aber weder von meinen Füßen noch von meinen Händen. Was habe ich eigentlich erwartet?

"Was hast du vor?"

Statt einer Antwort, nimmt Erit das Ende des Seils in die Hand und stößt mich grob von sich weg in Richtung des Pfades. Er führt mich in die andere Richtung, tiefer in den Wald hinein.

"Das wirst du schon noch sehen, Wildkätzchen", säuselt seine Stimme viel zu nahe an meinem Ohr.

"Du glaubst wirklich, dass du Tenebris Nachfolger wirst?", frage ich.

Er schnaubt. "Ich bin es schon."

"Du hast also deinen Vater umgebracht, damit du über sein Reich herrschen kannst?"

"Du hast es erfasst, Wildkätzchen." Erits hässliches Lachen übertönt für einen Moment das Rauschen des Wasserlaufs.

Um uns herum ist alles dunkel. Ich kann kaum sehen, wohin meine Füße treten. Der Pfad windet sich über Steine, heruntergefallene Äste und altes Laub am Ufer entlang immer weiter in den Wald hinein.

Wenigstens führt der Weg stetig bergab, bis wir irgendwann vor einer hölzernen Brücke stehen. Erit zerrt mich bis zur Mitte, bevor er mich grob gegen das Geländer presst. Aber es ist nicht wirklich das nasskalte Holz in meinem Bauch, das mich stört, sondern der Männerkörper, der sich gegen meine Rückseite reibt und die Hand, die plötzlich auf meinem Gesäß herumdrückt.

Ich möchte schreien, toben, ihm meine Wut ins Gesicht schlagen, aber mir bleibt nur, an den Fesseln zu zerren, bis meine geschundene Haut erneut zu bluten beginnt. Immerhin erreiche ich, dass Erit seine Hand wegzieht. Aber bevor ich triumphieren kann, bindet er meine Hände an das Brückengeländer. Ich beiße mir auf die Zunge und unterdrücke meine Flüche und die Beleidigungen. Dass ihn das antörnt, habe ich inzwischen kapiert. Wenn er mich will, dann bekommt er mich kampflos. Ich muss erkennen, dass ich ihm ausgeliefert bin. Schutzlos. Er steht hinter mir, reibt sich an mich und ich kann seine Männlichkeit spüren, auch wenn ich seine Bewegungen nicht sehen kann. Er wird sich nehmen, was er haben wollte, seitdem er mich zum ersten Mal gesehen hat.

Mir ist nicht mehr kalt. Ich fühle mich ganz nüchtern, bin nur für einen kurzen Augenblick überrascht, wie analytisch ich die Situation beobachte. Vielleicht hat mein Zorn alles andere verbrannt, ausgelöscht. Ich fühle mich wie losgelöst. Nur der Schmerz erinnert mich noch dumpf daran, dass es mein Körper ist. Immer noch. Aber er ebbt ab, verkümmert zu einem leichten Pochen und Stechen, das erträglich und dann vergessen wird. So wie es das Schicksal von Schmerzen ist, in Vergessenheit zu geraten, nachdem sie zu Ende gefühlt wurden.

Und dann stelle ich mir vor, ich bin das Wasser unter mir, das ungetrübt von allen Ereignissen vor sich hinplätschert. Völlig unbeeindruckt von allem, was mit ihm geschieht. Ahnungslos darüber, wohin es gelangen wird. Es lässt sich treiben. Ohne Bewusstsein und ohne Erinnerung. Meinem Mund entfährt ein Lachen. Welche Erkenntnis - Wasser ist wirklich frei.

Ein Windstoß kommt auf. Ein Schwall Blätter wird über die Brücke gewirbelt. Vielleicht bin ich auch eines dieser Blätter - treibe im Wind, tanze wohin er mich trägt. Gleichgültig und gewissenlos, weil ich nicht weiß, dass meine Lebenszeit vorüber ist und ich zum Sterben niedersinke.

Ich lasse geschehen, was sich nicht aufhalten lässt. Löse mich von mir selbst, um es nicht wahrnehmen zu müssen.

Mir wird nicht einmal kalt, als er mir die Hose von den Hüften zieht.

Was dann geschieht, weiß ich nicht mehr.

Wasser plätschert. Wind rauscht. Etwas flattert in den Ästen. Ein schriller Schrei ertönt. Zwei gelbe Punkte leuchten von oben auf uns herunter. Sterne? Ich blinzel. Nein, Sterne sitzen nicht in einem Baum. Sterne bewegen sich nicht. Die gelben Punkte kommen näher. Wieder erklingt ein Schrei. Laut und durchdringend. Endlich erkenne ich, dass die Quelle des Schreis und die gelben Punkte zusammen gehören. Sie gehören zu einem Vogel, der wenige Meter neben uns auf dem Geländer der Brücke landet. Es ist eine Eule. Aus der Nähe erkenne ich die gelben Ringe ihrer Pupillen. Ihre Augen sind weit aufgerissen, als wüsste sie genau, was Erit tut. Dann legt sie den Kopf schief, als würde sie ihn für das verurteilen, was er da tut.

Und Erit hält zu aller Überraschung inne. Ich merke, wie sich seine Hand von meiner Haut löst.

"Ksscccccccccccch", ruft er und fuchtelt.

Aber die Eule lässt sich nicht verscheuchen.

Im Gegenteil, sie mustert ihn jetzt beinahe belustigt.

"Hau ab", zischt er und fuchtelt weiter, aber auch davon zeigt sie sich unbeeindruckt.

Schließlich macht sie ein paar Schritte auf uns zu. Stumm flehe ich das Tier an, fortzufliegen. Ich rolle meine Augen zum Himmel. Erit wird kurzen Prozess mit dem Vogel machen und ihm die Federn rupfen. Aber die Eule ignoriert meinen Warnversuch und liefert sich stattdessen weiterhin ein Blickduell mit Erit.

Zu meiner Überraschung reagiert Erit kein bisschen. Er ist wie erstarrt.

Dann gibt er sich einen Ruck, aber nur, um den Strick vom Geländer zu lösen und mich vorwärts zu ziehen.

In größtmöglichem Abstand schiebt er mich an dem Vogel vorbei, der uns mit einer Drehbewegung des Kopfes nachstarrt.

Erst als wir am Ende der Brücke angekommen sind, höre ich seinen Flügelschlag. Mit einem letzten Schrei und etwas Rascheln verschwindet die Eule in einem Baum.

"Dein Glück", zischt Erit in mein Ohr. Sein Atem streicht heiß über meine Haut. "Aber retten wird sie dich auch nicht."

Der Weg führt jetzt nur noch zwischen Bäumen und Sträuchern hindurch.

Die Kälte kriecht die nackte Haut meiner Beine empor und nistet sich direkt unter dem zerrissenen Stoff meines Shirts in meinem Herzen ein.

Auch wenn ich es nicht sehen kann, kann ich die Anwesenheit der Abgründe spüren. Irgendwo ganz in der Nähe müssen sie sich durch den Waldboden ziehen.

Und dann sind da auf einmal keine Bäume mehr. Der Weg endet vor dem gewaltigsten schwarzen Loch, das ich jemals gesehen habe und vor uns stürzt die Welt in die Tiefe.

Wir stehen am Abgrund. Weder zur einen noch zur anderen Seite ist ein Ende in Sicht. Erst irgendwo weit in der Ferne erkenne ich wieder Bäume und der Wald setzt sich fort, als wäre er nie geteilt worden.

Erits Hand legt sich wie ein Eisklotz auf meinen Rücken.

"Bereit?", fragt er. Dann lacht er laut auf und sein Gelächter hallt wie ein Echo von allen Seiten zu uns zurück. "Egal, ob du bereit bist oder nicht. Du wirst fliegen, so oder so und ich werde ein weiteres meiner Probleme los."

Eine kalte Hand legt sich auf meine Haut und schiebt mich nach vorne.

Brennende Feuer - Dunkle SchattenWhere stories live. Discover now