PROLOG

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»Feels like a Ghost
Living in a Ghost Town«

Alles um mich herum wirkte wie eine Geisterstadt, und kurz fühlte ich mich wie in einer Apokalypse. Verlassen waren die meisten Cafés, obwohl zumindest die Außenbereiche öffnen durften, doch geöffnet waren nur jene an den Fußgängerzonen. Es lohnte sich einfach nicht, hier in den Seitenstraßen zu öffnen, denn kaum jemand verließ sein Haus. Trostlos und leer waren die meisten Viertel, dabei waren wir in Berlin. Es fühlte sich falsch an, hier entlang zu schlendern, nur begleitet von Vogelgezwitscher, gelegentlichem Hupen der Autos, die aber auch nur vereinzelt führen. Nichts mehr von wegen vollgestopfter Straßen, Lärm, Abgase. Alles war wie ausgestorben. Die Verkehrsmoderatoren beim Radio mussten sich komplett arbeitslos fühlen.

Und so fühlte ich mich auch. Es war, als wären wir alle auf einen Schlag ausgebremst worden. Vor einem Monat noch waren wir in Südafrika, hatten für Sing meinen Song gedreht, danach hatte es eigentlich richtig losgehen sollen. Mein Album Treppenhaus sollte in vier Wochen erscheinen, die gleichnamige Tour beinahe gleichzeitig. Einen letzten Song hatte ich sogar noch nach Südafrika geschrieben. Aber mir war eher bewusst, dass ich den Song niemals so veröffentlichen konnte wie er war, und deshalb war ich ja auch hier. Um eine Meinung zu hören von einer Freundin, die ich zwar erst kurz kannte, mit der mich aber inzwischen eine solch enge Freundschaft verband, dass wir auch während des Lockdowns beinahe täglich telefoniert hatten. Als Ilse mir geschrieben hatte, dass sie für Pressetermine in Berlin war, war uns beiden klar, dass wir uns unbedingt wieder treffen mussten, und ich war erleichtert, dass wir uns wenigstens in einem Café treffen konnten.

Endlich mal wieder raus. Endlich mal wieder jemanden sehen, quatschen, ganz normal, so wie früher. Während ich durch die menschenleeren Straßen lief, musste ich kurz an den Song Ghost Town von den Stones denken, jede Zeile passte gerade so gut.
»Life was so beautiful, then we all got locked down, feels like a Ghost living in a Ghost Town
Fröstelnd zog ich den Reißverschluss meiner dünnen Jacke zu. Mir war kalt, obwohl es Anfang Mai war, und traurig dachte ich daran, dass Nico und ich uns hatten treffen wollen, um gemeinsam am kommenden Dienstag die Ausstrahlung von Max' Abend zu schauen.
Doch seit ich mit meiner unbedachten Äußerung an unserem letzten Abend in Südafrika alles kaputt gemacht hatte, weil ich dämliche Idiotin einfach meine Klappe nicht hatte halten können, hatte Nico sich nicht mehr gemeldet. Und so würde ich wohl alleine in meiner Wohnung hocken, den Abend schauen, Chips, Schokolade und Eis in mich hinein stopfen und hoffnungslos in Erinnerungen versinken. In Erinnerungen an die Zeit, als wir noch Freunde gewesen waren.

Ich schob die Gedanken beiseite, als ich endlich die wenigstens etwas belebteren Fußgängerzone und jenes Café erreichte, Ilse schon vom weitem sah und spürte, wie mein Herz einen freudigen Hüpfer machte. Es war doch seltsam, wie sehr man die kleinen, alltäglichen Dinge zu schätzen lernte, wenn sie einem so jäh entrissen wurden. Wie Umarmungen, sich einfach so mal eben zu treffen, was natürlich ging, aber eben nur in sehr geringem Rahmen. Ich vermisste das Lachen auf den Straßen, das Gewusel der Menschen um mich herum, und ja - ich vermisste sogar den Stau. All das hier war nicht normal. Nicht in einer kunterbunten Weltstadt wie Berlin.

»Lealein!«, begrüßte Ilse mich freudestrahlend, und auch wenn wir uns nicht umarmten, sondern uns nur mit Fuß- und Ellbogenberührung begrüßten, tat es meinem geschundenen Herzen so unnormal gut, sie zu sehen. Ilse war wohl die lebenslustigste Person, die ich jemals kennengelernt hatte, ich liebte ihre unbekümmerte, offene Art mit der sie Menschen begegnete.
»Ilse, meine Liebe«, freute ich mich ebenso. »Wie schön, dass das geklappt hat.«
Wir setzten uns, bestellten Kaffee und kurz kam es mir seltsam hervor, dass die Kellner auch draußen mit Maske herumliefen. Aber wir konnten wenigstens einen Kaffee zusammen trinken.
»Und, Liebes, wie geht's dir?«, fragte Ilse, als wir unseren Latte Macchiato bekommen hatten.
»Naja, wahrscheinlich geht's uns allen gleich, oder?«, zuckte ich die Schultern. »Ich vermiss meine Schwester... hab sie seit Weihnachten nicht mehr gesehen... erst kam die ganze Showvorbereitung, dann Südafrika und jetzt... naja. Haben es vorher einfach nicht mehr geschafft.«
»Oh ja«, nickte Ilse. »Das ist hart für uns alle gerade. Aber, meine Liebe, jetzt sag mal, der Song, den du mir geschickt hast...«
Ich seufzte tief. Meine vage Hoffnung, sie hätte das vergessen, erübrigte sich wohl. »Vergiss es«, sagte ich und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich kann den Song nicht so veröffentlichen.«

Vor einigen Tagen hatte ich ihr meinen neusten Song geschickt, ich brauchte eine unabhängige Meinung.
»Hm«, meinte Ilse. »Also, wenn du meine ehrliche Meinung hören willst, der Song muss aufs Album. Der ist so gut, passt so unglaublich gut zu den anderen Songs.«
»Ich kann das nicht... bringen«, sagte ich leise. »Jedenfalls nicht... so. Das ist zu... zu persönlich.«
Ilse schmunzelte. »Und wenn ich dir sag, dass du viel mehr für mich bist, hm?«, fragte sie und ich war überrascht, dass sie den Song schon so gut kannte. »Nico?«, erkannte sie dann ohne Schwierigkeiten.
Ich seufzte ernüchtert und stützte den Ellbogen auf die Tischplatte, rührte mit dem Löffel in meinem Latte und löffelte etwas aufgeschäumte Milch heraus. »Ich habs ihm gesagt, Ilse. Ich hab ihm gesagt, wieviel er mir bedeutet, aber, naja... er hat sich nicht mehr gemeldet, seit wir hier sind.«
»Oh, wow«, sagte Ilse betroffen und griff über den Tisch nach meiner Hand. »Ich hätte nicht gedacht, dass er so ist. Dabei kam das mit den Gefühlen ja schon von Anfang an bei dir, stimmt's?«
»Doch schon viel früher als Südafrika«, gestand ich und legte das Kinn in die geöffneten Handflächen.
»Ich hab Zeit«, lächelte Ilse. »Mein Flug geht erst heute Nachmittag. Ich hab mir extra Zeit genommen, wenn wir uns schon mal sehen, Liebes.«

Ich seufzte. Es tat schon gut, endlich einmal zu reden, über alles, was zwischen Nico und mir passiert war - oder eben nicht passiert war. Ilse hatte das meiste ja mitbekommen, nur nicht dem größten Fehler meines Lebens. Ich war die allergrößte Idiotin auf Erden, dass ich Nico gesagt hatte, was ich wirklich für ihn fühlte - ich hätte wissen müssen, dass es ihn völlig überforderte. Es war so schön gewesen - bis ich alles zwischen uns wegen ein paar dämlichen Gefühlen zerstört hatte.
Dabei hatte es so unfassbar cool angefangen...

... Und wenn ich's Dir sag?Where stories live. Discover now