dreiunddreißig

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i'm a goner somebody catch my breath

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i'm a goner
somebody catch my breath

ICH war ewig nicht mehr klettern. Und eigentlich habe ich mir auch geschworen, für nichts und niemanden je wieder damit anzufangen.

Seit fünf Minuten stehe ich Barfuß im Matsch, der den rostgelben Kran umgibt und warte. Warte darauf, dass ich mich umdrehe und abhaue, weil es das Richtige ist. Warte, bis mich jemand wachrüttelt, ich mir den Schweiß von der Stirn wischen und den Kopf schütteln kann, über einen so bescheuerten Traum. Aber dieser jemand kommt nicht. Und die Einsicht auch nicht. Letztere wird auch nicht mehr kommen. Wäre sie da, irgendwo versteckt in der hintersten Ecke meines Kopfes, hätte ich mir nie die Schuhe ausgezogen. Mit Sandalen kann man nämlich nicht klettern.

Ich lasse den Kran nicht aus den Augen, während ich sorgfältig meine Jacke ausziehe und über eine der vielen Stahlstangen lege, die sich wirr und dicht verzweigt ihren Weg in den dunklen Nachthimmel bahnen.

Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt noch klettern kann. Das ist gelogen. Ich weiß vielmehr nicht, ob ich es will.

Zögerlich binde ich meine Haare im Nacken zusammen und wische meine schwitzigen Hände an der Hose ab. Schwitzige Hände hatte ich noch nie. Nichtmal in Australien.

Das Handy, mit dem ich vor ein paar Minuten bei der Feuerwehr angerufen habe, lege ich auf meine Schuhe. Ich bin mir nicht sicher, ob sie kommen werden. Es sieht nicht mehr danach aus. Wahrscheinlich dachten sie, es wäre ein Scherzanruf. Und ich kann es ihnen nicht einmal übelnehmen. So schnell und durcheinander, wie ich geredet habe, wirkte ich wohl eher wie eine Verrückte als jemand, der die Wahrheit sagt.

Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf meine Atemzüge.

Ein.

Aus.

Ein.

Aus.

Langsam, wie in Zeitlupe, strecke ich einen Arm aus. Meine Bewegungen fühlen sich mechanisch an. Wie von selbst legen sich meine Finger um die dicke Eisenstange. Ich fahre zusammen, als unbarmherzige Kälte meine Hand durchzuckt. Aber ich schrecke nicht zurück. Nein, stattdessen folgt meine zweite Hand. Dann der linke Fuß. Und der Rechte. Und schon ist der feste Boden unter meinen Füßen verschwunden.

Je höher ich klettere, desto kälter wird es.

Obwohl ich seit neun Monaten keinen Berg, keine Kletterwand, kein Gerüst auch nur aus der Nähe angeschaut habe, bewege ich mich wie von selbst. Mir war klar, dass ich so schnell nichts verlernen würde, immerhin war ich bereits im Alter von sechs Jahren nicht mehr von einem Baum zu bekommen. Das Klettern liegt mir im Blut, darum war Papa auch so enttäuscht von mir, als ich ihm offenbart habe, dass ich mich umorientieren werde.

Ich merke schnell, dass ich nicht mehr so fit bin, wie früher. Schon nach wenigen Metern beginnen meine Arme zu brennen und es fällt mir schwerer denn je, mein Körpergewicht auszubalancieren. Doch ich habe mein Potential noch lange nicht ausgeschöpft, das weiß ich genau.

Ich wäre nicht hier, würde ich es mir nicht zutrauen.

Zielstrebig und mit dem höchsten Punkt, dem Führerhaus des Krans, im Visier, klettere ich immer höher und höher.

Mein Herz rast und ich versuche stur, alles andere um mich herum auszublenden, doch es gelingt mir nicht. Adrenalin kocht in meinen Venen. Adrenalin, das ich einst so sehr geliebt, gar gejagt habe. Jede Zelle meines Körpers ist wie elektrisiert, alles kribbelt, alles brennt.

Guck nicht nach unten.

Guck nicht nach unten.

Guck nicht ... So ein Mist!

Höhe hat mir nie etwas ausgemacht. Im Gegenteil. Ich habe es geliebt, Täler, Land und Städte überblicken zu können. Von oben wirkt alles so zerbrechlich, so klein und unbedeutend. Menschen so groß wie Ameisen, Gebäude wie Legosteine. Alles ist eine Frage der Perspektive.

Doch jetzt ist alles anders. Jetzt bin ich nicht gesichert. Jetzt könnte die Höhe, die ich einst so sehr geliebt habe, tödlich für mich sein.

Vielleicht ist nun der perfekte Zeitpunkt gekommen, um mein Handeln zu hinterfragen, festzustellen, dass ich lebensmüde bin, und umzukehren. Doch mein Kopf ist leer.

Ich konzentriere mich auf das Rauschen des Windes und die immer leiser werdenden Geräusche der Stadt. Einer der vielen Gründe, wieso ich es geliebt habe, im Freien zu klettern, war die Stille. Hoch, über tausend Dächern, ist es so unglaublich ruhig. Eigentlich perfekt, um den Kopf freizubekommen. Aber ich möchte nicht nachdenken, nicht jetzt.

Jede Bewegung erfordert Konzentration. Jeder Atemzug. Jeder Griff.

Alle Probleme dieser Welt scheinen sich in Luft aufzulösen, hier oben. Hier bin ich einfach nur ich. Nicht das Mädchen, das im Ausland Sport studiert, weil ihr Vater es so will. Nicht das Mädchen, das dabei zusieht, wie ihr guter Freund den Halt verliert und fällt und fällt und fällt, tiefer als er sollte, weil er keine Ahnung hat, wie man sich richtig absichert, weil er eigentlich gar nicht klettern kann, weil er überredet wurde, von uns, weil er jetzt auch nicht mehr klettern wird, weil er tot ist. Tot wegen uns. Weil wir ihn überredet haben.

Meine Sicht verschwimmt und Tränen steigen mir in die Augen. Ich merke erst, dass ich weine, als ich nicht mehr sehen kann, wohin ich greife. Und so greife ich ins Nichts und rutsche ab und für einen Moment ist da nur mein kräftiger Herzschlag.

Ob er sich so gefühlt hat, als er gefallen ist?

Ich ertappe mich dabei, wie ich zu kalkulieren versuche, wie hoch ich schon geklettert bin und wie tief ich jetzt fallen werde, ob ich auch sterben muss und wenn ja, was mein Vater sagen würde, oder meine Mutter, oder meine Schwester, oder Livi. Und dann bemerke ich, dass ich mein Leben vor Hamburg irgendwie noch nie so richtig für mich gelebt habe, in dem wohl beschissensten Moment, um überhaupt etwas zu bemerken, außer das mulmige Kribbeln vom Fall im Bauch.

Ich reiße die Augen auf, die ich wohl vor lauter Panik zugekniffen habe, blinzele die Tränen weg und plötzlich ist da mehr als nur mein laut klopfendes Herz und meine Gedanken: Der eisige Wind, der meine Wangen frieren lässt, das leise, kaum mehr hörbare Rauschen von vorbeifahrenden Autos in der Ferne, und eine Hand, die nicht meine ist.

Yanniks Finger legen sich fest und warm um mein Handgelenk, so doll, dass es schmerzt und ich das Gesicht verziehe. Er schaut mich an, seine Augen sind rot und geschwollen und in seinen Wimpern glänzen die Tränen. Er atmet schwer und laut und eigentlich sieht er so aus, als würde er am liebsten weglaufen wollen, aber trotzdem hält er mich fest, mit beiden Händen.

Ich brauche einen kräftigen Ruck, starke Arme, die mich zu sich ins Führerhaus ziehen und einen Blick in Yanniks tobende Augen, um zu verstehen, dass ich nicht falle. Und dass er mich gerettet hat, obwohl ich ihn eigentlich retten wollte. Und dass er meine Handgelenke immer noch festhält. Und dass er mich langsam zu sich zieht, mich umarmt, so fest und verzweifelt, wie ich noch nie umarmt wurde.

Ich vergrabe meinen Kopf in seiner Brust, atme aus, schließe die Augen und merke, dass ich zittere. Oder zittert Yannik? Oder doch wir beide, als in der Ferne die schrille Sirene der Feuerwehr ertönt?

Wir gegen das ChamäleonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt