Epilog

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  Die Regentropfen kullern über meine Wangen. Vielleicht weine ich auch, ich weiß es nicht. In allem bin ich mir unsicher. "Wie wird es nun mit dir weitergehen?"  Lautet die Frage, die sich in meinem Kopf wiederholt. Die Antwort darauf steht in den Sternen.

Ich finde meinen Weg in die Oxfordstreet, dort, wo alles begann. Inmitten der Leute komme ich mir wieder so unbedeutend vor, wie vor wenigen Wochen. Nur schreien die Blicke förmlich die Worte: "Mädchen, warum hast du bei diesem Wetter nur eine dünne Bluse an?" oder "Warum hast du eine Fleecedecke in der Hand?" Wenn diese Menschen nur wüssten, wer und was ich wirklich bin. Wenn es doch bloß keine Vorurteile geben würde. Aber was darf ich schon darüber sagen. Meine Mutter hat mir von klein auf an eingeredet, die Menschen, denen es besser als mir geht, zu verurteilen und an unserer misslichen Lage zu beschuldigen. Nie im leben hätte sie die Worte in den Mund genommen, die mir Hoffnung gegeben hätten, dass es unter diesen Menschen doch noch Ausnahmefälle geben würde. Wahrscheinlich wollte sie mich nur vor falschen Versprechen schützen. Vielleicht wollte sie mich vor Menschen wie Damien schützen.

  Als ich unmittelbar vor dem hohen Firmengebäude von Hamilton & Sons Inc. stehe, erinnere ich mich an den Traum, in dem meine Mutter von dem Gebäude erschlagen wurde. Ich konnte sie nicht retten. Damien und ich sind eben doch nicht so verschieden, wie wir es zu Anfang dachten. Wir sind uns sogar ziemlich ähnlich. Mein Blick wandert von den Höhen des Gebäudes auf den Asphalt. Die Obdachlosenspikes sind nach wie vor an Ort und Stelle. Ich balle meine Fäuste und beiße mir vor Wut auf die Innenseiten meiner Wangen. Am liebsten würde ich auf der Stelle anfangen zu schreien --  Aber ich wüsste nicht was ich schreien oder wen ich anschreien sollte. Und zu gute Letzt wüsste ich nicht einmal so wirklich, warum ich überhaupt schreie. Es hat alles keinen Sinn.

 Mit gesenktem Kopf schlendere ich den Gehweg entlang. Ich richte meinen Kopf zur kleinen Nische der Eisdiele. Irgendetwas in mir, sagt mir, dass dies nicht wieder mein Zuhause werden kann. Ich werde mir etwas Anderes suchen müssen. Ich könnte den Anblick meines Nachbarns nicht ertragen. Ich könnte ihn  nicht jeden Tag sehen, ohne seine Stimme zu hören, ohne seinen Duft einzuatmen und ihn  berühren zu dürfen. In meinen Gedanken versunken und den Blick auf die andere Straßenseite gerichtet, schrecke ich plötzlich zusammen, als jemand meinen Weg kreuzt. Die Frau verliert für einen kurzen Moment ihr Gleichgewicht und ich kann mich gerade noch fangen, bevor ich mit dem Gesicht vorraus auf den Asphalt gefallen wäre. "Haben Sie denn keine Augen im Kopf?", höre ich eine männliche Stimme fauchen und ich drehe mich zu meiner linken, um ein bekanntes Gesicht begrüßen zu dürfen. Es ist Mr. Senior Hamilton -- Damiens Vater.

  Nein... Das darf nicht wahr sein, oder?

 "Max! Lass' es gut sein. Das hat die junge Dame bestimmt nicht mit Absicht getan.", sagt die Frau mit zarter Stimme. Es muss Mrs. Hamilton sein. Sie ist bereits in London?  Ein junger Mann hilft ihr auf und schützt die Frau vor dem schlechten Londoner Wetter mit einem schwarzen Regenschirm. Er kann nicht älter als achtzehn Jahre alt sein -- und in diesem Moment wird mir eine weitere Sache bewusst: Es ist der Kellner aus der Bar, die Daisy Rosa und mir vorgestern gezeigt hatte. Er kennt den Hamilton-Klan? Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Damien einen Bruder hat. Zum Glück scheint er mich nicht zu erkennen. Er sieht wahrscheinlich jeden Tag hunderte Gesichter, da wird ihm meines nicht im Gedächnis geblieben sein.

 "Es tut mir unglaublich leid.", entschuldige ich mich, voraufhin sie mich nur anlächelt.

 "Ist alles in Ordnung bei Ihnen?", fragt sie mich. "Haben Sie denn keinen Regenschirm?" Ich schüttle mit dem Kopf und ziehe mir die Decke über den Kopf. Jedoch bringt dies nicht sehr viel, da meine Haare sowieso schon klitschnass sind. "Hier, nehmen Sie meinen." Mit einem breiten Lächeln übergibt mir Mrs. Hamilton den Regenschirm.

   "Nein --  Das kann ich nicht annehmen.", sage ich und trete einen Schritt zurück.

"Na nu. Keine Angst. Wir haben zich davon! Nehmen Sie ihn schon. Sie können unmöglich diese teure Bluse im Regen versauen." Meine Augen wandern zum Oberteil, welches ihre Aufmerksamkeit erweckt haben muss. Dies ist also der bewegende Punkt gewesen. Ihr ist die teure Kleidung an meinem Körper aufgefallen, die mir ihr Sohn gekauft hat, was sie jedoch nicht weiß.

"Danke." Ich nehme den Regenschrim mit dem Gedanken entgegen, dass diese Situation der Nächstenlieber höchstwahrscheinlich nicht zustande gekommen wäre, wenn ich nicht die teure Bluse getragen hätte. Würde ich in durchlöcherter Hose und blauen Stoffschuhen vor ihr stehen, dann hätte Sie mit Sicherheit den Regenschirm für ihre gemachten Haare behalten. Die Frau wünscht mir einen schönen Tag, während Mr. Senior Hamilton mit seinen Augen rollt. Am liebsten würde ich mich vor seinen Füßen übergeben, aber das ist dieser Mann nicht wert. Ich kann ihn so ganz und gar nicht leiden.

  Die Familie zieht weiter zu ihrer protzigen Karre und auch ich mache mich auf die Reise zu meinem Ziel. Ich will dorthin zurück, wo ich hingehöre. An einem Ort, wo ich mich geborgen, verstanden und einigermaßen sicher fühlen kann.

   Die Dämmerung breitet sich über London aus. In der Ferne leuchtet das grelle Schild. Ich erkenne zwei Schatten, die auf dem nassen Boden kauern. Je näher ich ihnen komme, desto besser kann ich ihre Gesichter erkennen. Sie sind es. Vorsichtig setze ich mich zu ihnen. Sobald ich den nassen, kalten Boden berühre, kommen all die Erinnerungen, die ich im Schutz der vier Wände vergessen habe, auf einmal zu mir zurück.

  Leo und Fynn haben es überlebt.


ENDE

 

Million Dollars Between Us (Damien & Birdie - Trilogie #1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt