Kapitel 22

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Ich will nicht sterben!

Ich reiße meine Augen auf, blicke mich hektisch um. Jemand greift nach meiner Hand -- Es ist Damien. Doch nicht nur er schaut mich mit einem besorgten Blick an. Rosa und der Arzt, den ich gehofft hatte nie wieder zu sehen, stehen mit einem Stirnrunzeln in der Tür. Ich schlucke, denn mein Rachen fühlt sich wegen des Schnappens nach Luft wie eine heiße, trockene Wüste an.

Es war nur ein Traum...

"Ich denke Sie können wieder gehen, Doktor.", murmelt Damien, der seine Augen nicht von mir lassen kann. "Birdie, was ist passiert?", fragt er mich und lehnt sich ein kleines Stückchen vor.

Ich nicke und nehme einen tiefen Atemzug.

"Ich habe mir tierische Sorgen gemacht, Liebes.", haucht Rosa mit ihrer liebevollen Stimme, sodass ich mich schlecht fühle, all diese Menschen aus ihren wahrscheinlich viel angenehmeren Träumen gerissen zu haben.

"Tut mir leid. Es war nur ein schlechter Traum." Ich stütze mich auf meine Ellbogen und reibe mit der Linken Hand mein Auge, jedoch lasse ich mich sofort wieder in die weichen Kissen fallen.

"Sieht wohl wirklich danach aus, dass ich wieder gehen kann. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Abend." Der grauhaarige Mann lächelt Damien und mich an, bevor er aus dem Appartement verschwindet. Ich kann ihm immer noch nicht trauen.

"Rosa, würden Sie bitte einen Früchtetee für Birdie machen?" Damiens Worte bringen mich zurück zu seinen weichen Lippen. Und dass er daran gedacht hat, dass ich nur Früchtetee trinke, überrascht mich. Sobald Rosa verschwunden ist, streicht er mit seinem Daumen über meinen Handrücken. "Meine Güte. Ich möchte gar nicht erst wissen, was für ein Traum das gewesen ist!"

Lucas..., denke ich nur.

"Du musst es mir auch nicht sagen. Ich verstehe das vollkommen." Ich weigere mich, mich dazu zu zwingen, ihm von meinem Traum zu erzählen. Erst einmal muss ich selber die Teile zurechtlegen, um die Bedeutung ganz und gar zu verstehen und nachvollziehen zu können.

Mein Bruder ist viel zu früh von uns gegangen. Er hatte am wenigsten vom Leben aus meiner Familie. All die Monate habe ich mir versucht einzureden, dass es seine Nieren und die eisernde Kälte gewesen sind, die ihm die Wärme in seinem Herzen geraubt haben. Aber nein. Nun weiß ich, dass dies nicht wahr ist. Es ist die Gesellschaft, die ich für seinen Tod verantwortlich mache. Niemand war dazu bereit, ihm das nötige Geld zu geben, damit er etwas essen konnte.

Damals hatte er Bettel-Schicht. Ich durfte mich ausruhen. Und wie man sieht, ich lebe noch. Das heißt, nur wenige Münzen hätten ausgereicht, damit er sich ein Brötchen hätte kaufen können. Erst heute Nacht wird mir wirklich bewusst, wie unterernährt und schwach er war. Er hatte ja auch nichts zum Stärken. Ich war es gewohnt, nicht viel zum Essen zu haben, aber er...er war doch viel zu jung -- nicht einmal ausgewachsen.

"Ich werde mal schauen, ob ich Rosa helfen kann."

"Mein Bruder...", flüstere ich, als Hamilton vom Bett aufsteht. Daraufhin kullert mir eine Träne die Wange herunter.

"Was ist mit deinem Bruder?", fragt er mich.

"Ich habe von meinem Bruder geträumt.", wispere ich und schließe meine Augen aus Angst vor einer unerwarteten Reaktion. "Ich habe geträumt, wie er letztes Jahr in der Nische des Eisdieleneingangs erfroren ist.", fahre ich fort. "Es war nicht seine Schuld. Niemand wollte ihm helfen." Ich setze mich auf und ziehe die Knie zur Brust. "Es war nicht seine Schuld.", wiederhole ich mich und beginne wieder mit dem unkontrollierbaren Zittern.

Anstelle einer Antwort, bekomme ich nur Damiens unsicheren Blick zu sehen, bevor er sich auf der anderen Seite des Bettes niederlässt und die Decke anstarrt. Er sagt kein einziges Wort. Und in einer unerklärlichen Weise beruhigt mich die Stille, denn sie erdrückt mich nicht. Ich passe mich seinen tiefen Atemzügen an, seiner Gelassenheit, vergleichbar mit einer unvorsichtigen Leichtsinnigkeit stört mich auf einmal nicht mehr. Ich habe mich wohl an sein oberflächliches Verhalten gewöhnt.

Ein Klopfen an der Tür, führt unsere Aufmerksamkeit zu Rosa, die mit einem Tablett das Zimmer betritt und zugegebenermaßen auch sehr verwundert wirkt, als sie mich und Mr. Hamilton in einem Bett sieht. Ich erröte, als Rosa mich anlächelt und den Tee mit zwei Zuckerwürfeln auf den Nachtschrank abstellt. "Trink den bitte aus.", sagt sie, richtet ihre weiße Schürze und verschwindet kurz darauf hinter der nun verschlossenen Tür, nachdem sie das kleine Licht neben dem Bett ausgeschaltet hat. Jetzt ist es beinahe komplett dunkel, nur der kleine Streifen an Licht, der unter der Tür ins Zimmer scheint, macht es einen möglich, einige Umrisse zu erkennen.

Die Tasse ist in wenigen Minuten leer, und so langsam kommt mir Damiens Schweigen dann doch unheimlich vor.

"Ich weiß, wie sich das anfühlt..." Die plötzliche Aussage, lässt mich Zusammenzucken. Ich habe eine Antwort von ihm nicht erwartet. "...sich die Schuld für den unerwarteten Tod zu geben.", haucht er und trifft mit seinen langsamen, leisen Worten den Nagel auf den Kopf.

Aber ich bin sprachlos. Und auf gar keinen Fall gut darin, anderen bei ihren Problemen zu helfen. Damit will ich nicht sagen, dass ich egoistisch bin -- jedoch unsicher!

Meine Hand findet seine und der Reaktion nach zu beurteilen, hat er dies nicht erwartet. Immer wieder überraschen wir uns gegenseitig, obwohl wir uns doch grade mal zwei Wochen kennen. Er schließt seine Augen und atmet noch einmal tief ein und aus. Ich ergreife meine Chance, den wahren Damien in seiner vollen Pracht zu bewundern, denn nun ist er nicht der harte Business-Mann, den ich vor wenigen Tagen kennengelernt habe. Ich lehne mich zu ihm und küsse die zarte Haut an seiner Schläfe, bevor ich mich zurück auf meine Seite lege und auch meine Augen schließe.

Ich hoffe, er verlässt mich nicht.

Und ich hätte, vor nicht allzu langer Zeit, niemals gedacht, dass ich meine Hoffnung für jemanden, wie Damien Hamilton, jemals verschwenden würde.

Million Dollars Between Us (Damien & Birdie - Trilogie #1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt