Kapitel 35

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  Rosa greift in ihre Handtasche, bevor sie mit dem Schlüssel die Tür zu Damiens Apartment aufschließt. "Du weißt, wo du alles findest?", fragt sie mich und ich würde am liebsten den Kopf schütteln, damit sie mich vielleicht doch mit zu sich und Daisy nimmt. Mir wäre es lieber, wenn sie in Rosas Zimmer übernachten würden.  Aber ich verstehe schon; Jetzt wo Damien Rosa für einige Tage nicht beschäftigen kann, ist es kein Wunder, dass sie die Freizeit für ein wenig Privatsphäre mit ihrer Freundin nutzen möchte. Das kann ich ihnen nicht übel nehmen.

  "Habt noch einen schönen Abend.", sage ich, bevor wir uns in den Arm nehmen und sie mir einen Schmatzer auf die Wange drückt, sodass ich die Reste ihres Lipglosses auf meiner Haut spüre. Daisy wartet sicherlich schon ungeduldig im Auto in der Tiefgarage. Ich hoffe, sie wird Rosa nichts von unserem Gespräch erzählen. Sie ist nicht blöd -- sie weiß, dass es Rosa ihren Job kosten könnte, und ich würde auf einen Schlag alles verlieren, was mir etwas bedeutet -- sie wird es ihr nicht erzählen. Sie hat mir versprochen, dass ich es selbst tuen soll, sobald ich den richtigen Zeitpunkt erwische.

 "Nun geh' schon." Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Mir ist jedoch zum Schmunzeln zumute. Der Weißwein war doch noch überraschend köstlich. Das würde ich gerne wiederholen wollen -- ohne die Anwesenheit von Jamie's Mutter, natürlich.

"Bye-Bye.", haucht Rosa -- und ich habe das bedrückene Gefühl, dass es ein Abschied für immer sein könnte.

  Die Tür fällt ins Schloss und ich befinde mich in Damiens riesigen Apartment -- ganz auf mich allein gestellt. Er sitzt wahrscheinlich in diesem Moment in seinem Flieger. Rosa erzählte mir, es sei eine Geschäftsreise, aber irgendetwas sagt mir, dass dies nur die halbe Wahrheit deckt. Er wirkte so aufgewühlt, nach unserem Gespräch. Ich hoffe, er flieht nicht vor mir -- jetzt, wo ich die Wahrheit über seine Schwester kenne.

  Ich hätte sie gerne kennengelernt, obwohl ich es mir immer noch nicht vorstellen kann, wie jemand aus solch einer reichen Familie, das Leben auf der kalten, dreckigen Straße bevorzugen könnte. Hätte ich sie jemals kennengelernt, dann wäre dies sicher meine Frage gewesen. So werde ich wohl nie erfahren, was sie dazu bewegt hat, oder wie sie einen 13.000 Pfund teuren Wein in die Finger bekommen konnte. Anderseits scheinen mich die Überraschungen in letzter Zeit zu verfolgen. Ich hätte mir niemals in meinem Leben erdenken können, dass Rosa an Menschen, wie Jamie's Mutter, interessiert sein würde.

   Ich erinnere mich immerzu an die ersten Worte, die mir Juleya an den Kopf geworfen hatte.

'Siehst du hier irgendwo ein Schild, dass es dir erlauben würde, deinen dreckigen Hintern vor meine Tür zu setzen?', hallt ihre selbstbewusste, starke Stimme durch meinen Kopf. Ich falle -- ohne es zu merken -- auf meine Knie. Ich kann Rosa nicht böse sein. Aber ich halte es nicht mehr aus. Damien wird mich doch nicht wirklich nur von der Straße geholt haben, um sich ein reines Gewissen zu verschaffen, oder...Birdie? 

Birdie, antworte mir.

Ich brauche dich.

  Aber egal, wie viel ich in mir suche, ich kann mein wahres Ich nicht mehr finden. Was ist bloß mit mir geschehen?  Ich bin längst nicht mehr der Mensch, der ich auf der Straße war. Man hat mich verändert. Ein Anzugträger hat zugegeben, mich belogen zu haben -- sich selbst belogen zu haben -- und ich kann ihm nicht einmal böse sein. Die einzige Freundin, die ich jemals haben werde, treibt sich mit meiner Erzfeindin herum -- und ich bin ihr nicht böse.

 Ich bin enttäuscht -- enttäuscht von mir, dass ich es soweit hab kommen lassen.

  Ich hätte darauf warten sollen, bis Alfie aus dem Krankenhaus entlassen werden würde, um mich ihm anzuschließen. Aber wenn ich genauer darüber nachdenke, dann wäre dies nicht anders geendet. Ich wäre trotzdem allein. Alfie wäre in ein Heim gekommen... und ich wäre zurückgeblieben. Es hätte sich nichts geändert. Meine Zukunft ist von den bösen Göttern vorherbestimmt. Wenn ich mir selbst treu bleiben möchte, dann werde ich dies nur allein schaffen können. Anderseits erinnere ich mich an all die Erfahrungen, die ich in diesem Zuhause sammeln durfte. Nicht eine einzige Sekunde auf der Straße käme an das heran, was ich hier von Rosa und Damien gelehrt bekommen habe.

  Ich bin sehr naiv gewesen, ihnen zu vertrauen.

  Mein Kiefer schmerzt, da ich meine Zähne so stark zusammenbeiße, dass ich davon Kopfschmerzen bekomme. Meine Hände sind in meinen zerzausten Haaren verfangen, während ich mich an ihnen festkralle. Ich fühle mich benutzt. Diese Birdie hätte es niemals geben sollen.

Ich weiche dir niemals von der Seite.

"Hör' auf!", kreische ich und halte mir die Ohren zu, obwohl ich weiß, dass es nichts bringen würde.

Egal, was passiert -- du bist immer noch du, Birdie.

"NEIN!" Ich hoffe, es ist nur ein böser Traum --  aber realer könnte es nicht sein. Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich wusste es noch nie.

Das Mädchen von der Straße.

Das Mädchen, das seine Familie verloren hat.

Die hoffnungslose Analphabetin.

Das Mädchen, das benutzt wurde.

Und das Schlimmste ist -- Es sind die Titel, die ich mir selbst aufgezwungen habe. Denn als ich dies tat, war ich davon überzeugt, dass sie mich am besten beschreiben würden. Das bin ich.

  Doch mir wird schnell bewusst, dass diese Titel  nicht definieren, wer ich wirklich bin. Und während ich die Tränen der Verzweiflung von meinen Wangen wische und ich hinauf in den Sternenhimmel schaue, wird mir außerdem klar, dass Damien und Rosa die einzigen Menschen sind, die mir zeigen können, wer ich sein kann.

  Ich muss Rosa von dem Gespräch zwischen mir und Damien erzählen. Und sobald Damien wieder da ist, werde ich auch ihn um ein weiteres Gespräch bitten. Ich muss einfach wissen, wie er fühlt, denn ich bereue es, nach den Worten, die er mir sagte, stürmend aus dem Apartment geflohen zu sein. Das hat er nicht verdient. Damiens Vergangenheit sagt genauso wenig aus, wer er ist, wie meine Vergangenheit mich definieren würde. Denn ich bin nicht einfach nur das Mädchen von der Straße. Und er ist nicht einfach nur ein Anzugträger. An diesem Punkt war ich schon ein mal. Vielleicht sollte ich endlich mal anfangen, für etwas zu kämpfen.

 Der Tag ist gekommen -- nur ich allein kann verhindern, mich jemals wieder so allein zu fühlen.







Million Dollars Between Us (Damien & Birdie - Trilogie #1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt