Niramun II - Mörder und Basta...

By RoReRaven

12.3K 1.9K 1K

Falrey hat das Vertrauen in Jaz verloren. Mit dem Job als Aufpasser im Liliths kann er sich über Wasser halte... More

Kapitel 1 - Veränderungen
Kapitel 2 - Poss, der Finder
Kapitel 3 - Antworten
Kapitel 4 - Leb wohl, Emila
Kapitel 5 - Menschen
Kapitel 6 - Saufhäuser nach Vitar
Kapitel 7 - Brennender Zorn
Kapitel 8 - Erinnerung
Kapitel 9 - Ich bitte dich
Kapitel 10 - Eine Ausnahme
Kapitel 11 - Heimkehr
Kapitel 12 - Jeder Kampf ist echt, wenn du alleine stehst
Kapitel 13 - Regeln
Kapitel 14 - Masochisten und andere Verrückte
Kapitel 15 - Neue Chancen
Kapitel 16 - Von Menschen und Wölfen
Kapitel 17 - Wo warst du?!
Kapitel 18 - Seniah
Kapitel 19 - Die Kinder des Mondes
Kapitel 20 - Träume und Hoffnungen
Kapitel 21 - Das Arbeiterviertel
Kapitel 22 - Rata!
Kapitel 23 - Bilder
Kapitel 24 - Tersavell
Kapitel 25 - Falle
Kapitel 26 - Maskeraden
Kapitel 27 - Warum kann es nicht mal gut laufen?
Kapitel 28 - Die Felder
Kapitel 29 - Der Fluss
Kapitel 30 - Suratis
Kapitel 31 - Geh nie nach Süden
Kapitel 32 - Die Kinder des Surs
Kapitel 33 - Totenfeuer
Kapitel 34 - Einfach wäre ja langweilig
Kapitel 35 - Silberdiebe
Kapitel 36 - Süss
Kapitel 37 - Bauer oder Jäger
Kapitel 38 - Nur ein Märchen
Kapitel 39 - Der Held der Huren
Kapitel 40 - Nicht fair
Kapitel 41 - Wind und Leere
Kapitel 42 - Inayenda mit den Goldaugen
Kapitel 43 - Winterwolf
Kapitel 44 - Davonlaufen
Kapitel 45 - Limit und Nuaril
Kapitel 46 - Der halbe Eber
Kapitel 47 - Geschwister
Kapitel 48 - Aussenseiter
Kapitel 49 - Einbrecher
Kapitel 50 - Familie
Kapitel 51 - Nicht mehr zwölf
Kapitel 52 - Mesche
Kapitel 53 - Der Geruch von Erde
Kapitel 54 - Die Hochöfen
Kapitel 55 - Diebe und Räuber
Kapitel 56 - Die Konsequenzen von Fehlern
Kapitel 57 - Auf der Suche
Kapitel 58 - Freiheit
Kapitel 59 - Zukunftspläne
Kapitel 60 - Jemanden zu mögen
Kapitel 61 - Unter Freunden
Kapitel 62 - Aufgeben
Kapitel 63 - Ein bisschen Abenteuer
Kapitel 64 - Durras Geschichte
Kapitel 65 - Ernst zu nehmen
Kapitel 66 - Tintenflecken
Kapitel 67 - Verflucht
Kapitel 68 - Heldenmut
Kapitel 69 - Die Verletzlichkeit der Guten
Kapitel 70 - Djora
Kapitel 71 - Erzählen
Kapitel 72 - Déjà-vu
Kapitel 73 - Vissuri
Kapitel 74 - Das Richtige zu tun
Kapitel 75 - Gerechter Zorn
Kapitel 76 - Narben der Vergangenheit
Kapitel 77 - Der wahre Kern des Märchens
Kapitel 78 - Jaz' Stärke
Kapitel 79 - Kaputt
Kapitel 81 - Blut und Tränen
Kapitel 82 - Fragen und Versprechen
Kapitel 83 - Ein Antrag
Kapitel 84 - Jemand wie du
Kapitel 85 - Ein Kind Yainils
Kapitel 86 - Warten und Beobachten
Kapitel 87 - Am Fenster
Kapitel 88 - Selbstlos
Kapitel 89 - Eine Drohung
Kapitel 90 - Eine Antwort
Kapitel 91 - Nein
Kapitel 92 - Seniah
Kapitel 93 - Arschlöcher
Kapitel 94 - Am Brunnen
Kapitel 95 - Ich bleibe
Kapitel 96 - Suppe
Kapitel 97 - Jäger und Gejagte
Kapitel 98 - Krieg
Kapitel 99 - Feigling
Kapitel 100 - Loyal
Kapitel 101 - Schmerz
Kapitel 102 - Was bleibt
Hinweis und Stuff

Kapitel 80 - Der Wert von Fortschritt

152 20 20
By RoReRaven



Jaz tauchte auch die nächsten Tage über nicht auf und Falrey gewöhnte sich an den neuen Rhythmus, bei dem er erst nach Epa aufstand, die ganze Nacht über arbeitete, um gegen Pjar todmüde auf seine Matratze zu fallen. Darüber, dass der Lohn so miserabel war, regte er sich nicht mehr auf. Es war so. Er konnte es nicht ändern. Es brachte nichts, darüber nachzudenken.

Was er an Freizeit hatte, verbrachte er mit Nemi, wenn sie da war, oder er kochte mit Emila. Es ging ihr wirklich gut. Selbst Jaz Abwesenheit nahm sie weniger mit als sonst. Er selbst war zwiegespalten, was das betraf. Er wusste, dass Jaz niemand war, um den man sich Sorgen machen musste, wenn jemand alleine klar kam, dann er. Aber er machte sie sich trotzdem, wenn er alleine zu den Hochöfen marschierte. Während der Arbeit selbst hatte er glücklicherweise wenig Kapazität für Gedanken. Nicht weil sie interessant gewesen wäre, es kostete ihn schlicht zu viel Energie, mitzuhalten, um noch irgendetwas für Denken übrig zu haben. Manchmal sass er in der Mitternachtspause am Brunnen und fragte sich, wo die vergangenen Zeiten hingekommen waren, bis ihn seine schmerzenden Glieder wieder daran erinnerten.

In einer dieser Pausen setzte sich plötzlich jemand neben ihn. „Na, auch keine Kollegen?"

„Was?", fragte Falrey irritiert und blickte von seinem Brötchen auf, an dem er benommen gekaut hatte. Ein überraschend munteres Grinsen blitzte ihm im spärlichen Licht entgegen. Es gehörte zu einem verschwitzten Gesicht mit blonden, kurzgeschorenen Haaren. Falrey stellte fest, dass ihm der Typ schon bei der Gruppeneinteilung aufgefallen war, weil er die meisten anderen überragte, aber bisher hatte er keinen weiteren Gedanken an ihn verschwendet. Er war gross, aber nicht schlaksig und vermutlich im Mishus Alter. Und fast verdächtig gut gelaunt dafür, dass sie erst die Hälfte der Schicht hinter sich hatten.

„Naja, du sitzt alleine", meinte er, bevor er in die Runde deutete. „Die anderen haben alle ihre Grüppchen."

Das war Falrey auch schon aufgefallen, aber es störte ihn nicht, also zuckte er nur mit den Schultern.

„Ich bin fett", meinte der Blonde.

„Was?!", fragte Falrey endgültig verwirrt. Der Typ war hochgewachsen und breit, aber ganz bestimmt nicht dick.

Er fing Falreys Blick auf und lachte. „Vett, nicht fett. Mit v. Das ist mein Name, ich heisse so."

„Oh", meinte Falrey und lief rot an. Er ergriff die ihm angebotene Hand und schüttelte sie. „Falrey."

„Freut mich", meinte Vett. Den Rest der Pause verbrachten sie wieder schweigend.

Falrey begegnete Vett wieder in den nächsten Nächten. Sie waren auf der selben Strecke unterwegs, allerdings in verschiedenen Gruppen, was Vett nicht davon abhielt, ihm fröhlich zuzuwinken, als er ihn bemerkte. Verblüfft darüber, dass sich überhaupt jemand an ihn erinnerte, hob Falrey ebenfalls eine Hand, worauf ihm beinahe der Kohlesack von der Schulter rutschte. Hastig richtete er ihn wieder und eilte weiter. Diesmal hatte er bei der Zuteilung einen besonders schrecklichen Vorarbeiter erwischt, der geradezu Spass daran zu haben schien, Trödler mit seinem Stock zu malträtieren, da gab er sich lieber Mühe, nicht aufzufallen. Trotzdem bekam er den Stock zweimal zu spüren, bis sie entlassen wurden und er sich mit blauen Flecken und schäumend vor Wut auf den Heimweg machte.

Emila schlief noch, als er sich ins Haus schlich. Jaz war immer noch nicht da. So lange war er noch nie fort gewesen, seit Falrey hier war. Musste er sich vielleicht doch Sorgen machen? Aber selbst wenn, was hätte er tun sollen? Er hätte nicht einmal gewusst, wo beginnen mit der Suche. Eine leichte Verzweiflung schlich sich in seine Gedanken. Was, wenn Jaz einfach nicht mehr auftauchte, nie wieder? Er wollte ihn nicht verlieren. Nicht so.

Obwohl er sich völlig zerschlagen fühlte, lag er diesmal länger wach als sonst, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, den Blick an die Decke gerichtet. Erst als Emila sich regte, drehte er sich zur Wand und schloss die Augen. Er hörte noch, wie sie aufstand und sich ankleidete, bevor er schliesslich wegdämmerte.

Er erwachte erst, als er schon beinahe los musste, und stellte fest, dass er allein im Haus war. Bilder eines unzusammenhängenden Traums über Vögel und Heurechen hingen ihm nach, während er hinunter in die Küche schlurfte und im Vorratsschrank nach dem Reservetopf Cuff suchte, um sich Brote zu schmieren. Während er ass, begutachtete er den blauen Flecken am Oberarm, wo ihn die Stockspitze erwischt hatte. Nicht, dass es dafür irgendeinen Grund gegeben hätte, oder zumindest keinen, der ihm ersichtlich war, der Typ war einfach nur ein Arsch. Und Falrey stellte fest, dass ihn der Bluterguss wesentlich mehr aufregte als die gebrochene Nase, die Jaz ihm verpasst hatte und die mittlerweile abgeschwollen war. Jaz hatte wenigstens einen Grund dafür gehabt, zumindest diesmal.

Wo zur Hölle steckte er nur? Er war jetzt seit fast einer Woche verschwunden. Was tat er so lange? Wo schlief er? Warum kam er nicht nach Hause? Falrey fragte sich, ob es seine Schuld war, aber was hatte er getan? Er hätte Jaz schneller loslassen sollen, aber so schlimm war das doch nicht, oder? Vielleicht war tatsächlich etwas passiert. Verdammt, es konnte so vieles geschehen. Jaz kann auf sich aufpassen, sagte er sich. Besser als du oder irgendjemand anderes. Aber diese Stadt war gefährlich. Und es reichte, wenn Jaz sich betrunken hatte und sich deshalb nicht mehr richtig verteidigen konnte.

Ihm gingen die letzten Worte durch denk Kopf, die sie gewechselt hatten. Ich bin kaputt, Fal. Das ist weder deine Schuld, noch kannst du was daran ändern. Das klang so verdammt hoffnungslos, dass es Falrey beinahe körperlich wehtat. Ihm war klar, dass Jaz nicht zum ersten Mal so etwas gesagt hatte, aber man konnte es so leicht vergessen über der abgebrühten Art, die er sonst an den Tag legte. Warum musste das alles so schwierig sein?

Seine Gedanken drifteten weiter zu Nemi und der Tatsache, dass er immer noch keinen Plan für den Antrag hatte. Sein Herz schlug schon viel zu schnell, wenn er nur daran dachte. Aber er musste es tun. Er liebte sie, sie liebte ihn. Aus Angst zu zögern war keine Option. Nemi... Er schloss die Augen, um an sie zu denken, sich jedes Detail ihrer Mimik in Erinnerung zu rufen. Ein Lächeln zog sich über seine Lippen.

Dann wurde ihm bewusst, was er da gerade tat, und er fühlte sich einen Moment lang ziemlich scheisse. Er dachte an Nemi, um sich von Jaz abzulenken. Wie konnte er so glücklich sein, wenn er nicht einmal wusste, wo sein einziger Freund war und ob er noch lebte?! Du kannst nichts tun, also bringt es nichts, dir Sorgen zu machen,versuchte er sich klar zu machen und rief sich auch ins Gedächtnis, was Nemi gesagt hatte. Ich will nicht, dass du verletzt wirst wegen ihm. Er konnte sich nicht den Kopf zerbrechen über Jaz, sich am Ende vielleicht sogar in Gefahr bringen, indem er nach ihm suchte, Nemi zuliebe. Aber das änderte nichts daran, dass er sich ziemlich erbärmlich fühlte deswegen. Natürlich war seine Zukunft wichtig, wichtiger als die Gegenwart, weil sie mehr seines Lebens ausmachen würde, aber nach allem was Jaz für ihn getan, was er ihm beigebracht hatte, konnte er ihn doch nicht einfach aus seinen Gedanken schieben, sobald es unangenehm wurde.

Er schreckte auf, als plötzlich die Haustüre aufging und für einen Augenblick machte sein Herz einen Sprung, aber es war Emila, die eintrat. Erst auf den zweiten Blick erkannte Falrey, dass sie nicht allein war, sondern von Bodir begleitet wurde, was ihn dazu veranlasste, sich hastig die Weste, die neben ihm auf der Bank gelegen hatte, über den Kopf zu ziehen. Bodir begrüsste ihn freundlich und Falrey erwiderte seinen Gruss.

„Bist du heute Abend hier?", fragte Emila.

Er schüttelte den Kopf.

„Ah, dann spielt es nicht so eine Rolle. Ich wollte dir nur sagen, dass ich heute mit Freunden zu einer Musikveranstaltung gehe, und weil es spät werden könnte, hat Peg mir angeboten, bei ihnen zu übernachten. Nur dass du dir keine Sorgen machst, falls ich am Morgen noch nicht zurück bin."

Er nicht überrascht und als sie sich kurz abwandte, warf er Bodir einen Blick mit hochgezogenen Augenbrauen zu, als wollte er fragen: War das wirklich Pegs Idee?

Bodir bemerkte den Blick nicht, zu beschäftigt damit, Emila zu beobachten. Falrey nutzt den Moment, um ihn genauer zu mustern. Er war mindestens so gross wie Jaz und hatte die Statur eines Handwerkers. Schriftsetzer, hatte er gesagt. Falrey fragte sich, ob das unter Ironie des Schicksals zu verbuchen war, gemessen daran, dass Emila nicht einmal lesen konnte. Nun, vielleicht würde sie es jetzt lernen. Oder vielleicht war es Bodir auch völlig egal. Er wirkte nicht wie ein Mann, der sich über so unwichtige Dinge aufregte. Seine Bewegungen hatten etwas Bedächtiges, als wäre er jemand, der immer zuerst nachdachte und erst dann handelte, seine Haltung war aufrecht, aber nicht, als wollte er jemandem etwas vormachen oder sich in den Mittelpunkt stellen.

Emila riss Falrey aus seinen Beobachtungen, indem sie fragte: „Hast du Proviant?"

Als Antwort hob er die Cuff-Brote, die er zusammengeklappt hatte, worauf sie sich zu Bodir umwandte. „Ich ziehe mich noch schnell um."

Sie lief nach oben und Bodir begegnete endlich Falreys Blick. Der starrte ihn unverwandt an. Ohne eine Miene zu verziehen, sagte er: „Wenn du ihr wehtust, bringe ich dich um."

Die Reaktion, die sich in Bodirs Gesicht abspielte, war köstlich. Im ersten Moment glaubte er sich verhört zu haben, im nächsten war er empört, dass man ihm so etwas überhaupt unterstellte, gefolgt von einer guten Portion Was zur Hölle?! - auch wenn er es wohl in andere Worte gefasst hätte. Falrey fing an zu lachen. „Das war ein Scherz", stellte er klar. „Ich wollte nur sehen, wie du reagierst."

Obwohl es vielleicht gar nicht schlecht war, Bodir gegenüber den Gedanken zumindest einmal erwähnt zu haben, denn auch wenn er ihm wohl kaum an den Kragen würde, lag das bei Jaz durchaus im Bereich des Möglichen, wenn er wieder auftauchte.

Bodir brauchte einige Augenblicke, um sich wieder zu fassen, dann lächelte er amüsiert. „Und, war meine Reaktion angemessen?"

„Schätze schon", grinste Falrey. Er stand auf und schnallte sich den Gürtel um. „Ich muss los", sagte er. „Ich wünsche euch viel Spass heute Abend." Er konnte nicht verhindern, dass sich bei den letzten Worten ein warnender Unterton in seine Stimme schlich und plötzlich fragte er sich, ob er das vorhin vielleicht nicht doch ernsthafter gemeint hatte, als ihm selbst bewusst gewesen war. Natürlich würde er Bodir nicht umbringen, allerdings wäre er auch nicht der erste Typ, den er dafür verprügelte, dass er sich Frauen gegenüber daneben benahm. Und Emila hatte es nicht verdient, verarscht zu werden. Sie hatte zu viel Schlechtes erlebt und war jetzt zu glücklich, als dass er es Bodir verziehen hätte, wenn er sie fallen liess und ihr all das wieder nahm, sie noch gebrochener zurückliess, als sie es ohnehin schon war.

Er sagte nichts davon, sondern nickte Bodir nur knapp zu und ging.


Als er in der Schlange vor den Hochöfen stand, reihte sich plötzlich Vett neben ihm ein. Die Leute hinter ihnen, die er überholt hatte, murrten ungehalten, aber er schien sich nicht darum zu kümmern. „Hey", meinte er und begrüsste Falrey per Handschlag. Falrey erwiderte den Gruss.

„Du arbeitest immer hier?", fragte Vett gutgelaunt.

„Zeitenweise", antwortete Falrey für seine Verhältnisse ungewöhnlich knapp. Er wusste nicht wirklich, was er von dem hochgewachsenen Blondschopf halten sollte. Wieso war er so gesprächig? Was wollte er von ihm? Und seit wann bist du so misstrauisch? Er musterte Vett. Nein, eigentlich ging er nicht davon aus, dass der Kerl irgendetwas im Schilde führte. Er war einfach zu müde und genervt, um seine gute Laune nachvollziehen zu können. Und das schon am Anfang der Schicht. Das konnte ja heiter werden.

Sie rückten vor in der Schlange bis in den Eingangsbereich der Halle, bekamen ihre Säcke in die Hand gedrückt und wurden einer Gruppe zugeteilt. „Hättest du mal besser nicht vorgedrängt", murmelte Falrey, während sie sich in eine Linie stellten.

„Warum?", fragte Vett.

Falrey nickte auf den Vorarbeiter. Es war derselbe Vollidiot wie am Vortag. Er bekam jedoch nicht die Gelegenheit, Vett näher auszuführen, was er meinte, denn sie brachen auf.

Falrey hätte den Weg zu den Kohlebergen mittlerweile vermutlich mit verbundenen Augen gefunden. In den vergangenen Tagen hatte er sich mehrmals gefragt, woher all die Kohle bloss stammte. Aus den Minen, ja, aber wurden wirklich solche Mengen hier in Niramun abgebaut? Wie weit reichten diese Tunnels in den Fels? Wie viel der Ebene war in Wahrheit untergraben und ausgehöhlt? Der Gedanke war beeindruckend und beängstigend gleichermassen.

Sie füllten ihre Säcke, luden sie auf den Rücken und machten sich auf den Rückweg zum Hochofen. Es dauerte nicht lange, bis Falrey wieder in die Trance verfiel, in der er nur noch seine Schritte wahrnahm, schwer und regelmässig, den Blick auf die Füsse des Vordermannes geheftet, um den Abstand zu wahren. Schmerz und Anstrengung nahmen seine ganze Wahrnehmung ein, nur um irgendwann selbst in den Hintergrund zu driften, zu versinken hinter Dunkelheit und flackerndem Fackelschein. Bis ihn ein Schlag auf seine Waden zusammenfahren liess.

Er wusste nicht, was ihn wütender machte: dass dieses verdammte Arsch von Vorarbeiter ihm schon wieder eine verpasst hatte, obwohl er weder zurückgefallen war noch sich sonst etwas zu schulden kommen lassen hatte, oder dass er ihn dadurch zurück in die Realität gerissen hatte und so zwang, sich wieder bewusst damit zu befassen. So oder so war er kurz davor auf ihn loszugehen, aber er biss die Zähne aufeinander, fluchte lautlos und riss sich zusammen.

Sie legten eine kurze Trinkpause ein, bevor sie weitereilten. Es wurde nicht Mitternacht, bis Falrey den nächsten Schlag abbekam. Diesmal strauchelte er, fing sich wieder und kochte vor Wut. Verdammt, er benahm sich völlig unauffällig, was musste er denn noch tun?

Dem älteren Mann vor ihm erging es nicht besser, nur dass ihn der Stock in die Kniekehle erwischte. Er stolperte und liess den Sack fallen. Der Vorarbeiter deckte ihn mit einer Reihe von Flüchen ein und holte erneut aus. Instinktiv blieb Falrey stehen und es dauerte nur Herzschläge, bis der Schläger es bemerkte und sich zu ihm umdrehte. „Was glotzt du so, Schlappschwanz? Beweg deinen faulen Arsch weiter, du wirst hier nicht bezahlt fürs im Weg stehen!"

Irgendetwas in Falrey klickte ein. Er wurde in der Tat viel zu schlecht bezahlt, um sich dafür auch noch beleidigen zu lassen. Es spielt keine Rolle, was ich jetzt tue, begriff er plötzlich. Das hier war nicht wie der Job im Liliths, bei dem er immer einen guten Eindruck hinterlassen musste. Er war nur einer von vielen, keiner würde sich an ihn erinnern. Scheissegal, was er gleich machen würde, wenn er morgen wieder herkam, würde alles beim alten sein. Und selbst wenn nicht, konnte er einfach zu einem anderen Hochofen gehen. Es gab keine Konsequenzen. Ein Grinsen schlich sich auf seine Lippen. Er liess den Sack fallen.

„Was soll das werden, verdammt scheisse?!", brauste der Vorarbeiter auf und kam auf ihn zu. „Heb das auf und zwar sofort, sonst prügel ich dir die Scheisse aus dem Leib, dass du in Zukunft nicht mehr grad sitzen kannst!"

Falrey dachte nicht daran. Er sah, wie der Mann ausholte und duckte sich, um in einer Bewegung auszuweichen und sich auf ihn zu werfen, aber noch bevor er zum Schlag angesetzt hatte, schloss sich eine kräftige Hand um den Unterarm des Vorarbeiters und nahm ihm den Stock ab. Es war Vett. „Es reicht", sagte er gelassen, aber bestimmt zu dem Mann, den er um fast einen Kopf überragte, bevor er ihn wieder losliess.

„Gib sofort den Stock her!", japste der Vorarbeiter beinahe hysterisch vor Wut, aber anstatt der Aufforderung nachzukommen, warf Vett den Prügel in hohem Bogen in die Dunkelheit hinter sich mit dem Kommentar: „Nein. Wenn du nämlich irgendwie qualifiziert bist für deinen Posten, brauchst du den nicht."

Falrey verlor die Beherrschung und prustete los.

Es endete erwartungsgemäss damit, dass sie beide aus der Gruppe geworfen wurden, aber Falrey hätte nicht behaupten können, dass er das bedauerte, und Vett schien es ähnlich zu gehen. „Was jetzt?", fragte Falrey, als sie alleine auf der Strasse standen.

„Wir könnten eins trinken gehen", meinte Vett schulterzuckend. Falrey nickte und überliess ihm die Führung, da er sich hier im Arbeiterviertel nach wie vor nicht allzu gut auskannte. Sie betraten eine Schenke, die Falrey an die Saufhäuser des Min erinnerte, allerdings mit niedrigerer Decke und dunkler, weil Wände und Decke russgeschwärzt waren vom Fackelrauch, als hätte sich seit Jahrzehnten niemand mehr die Mühe gemacht neu zu streichen oder auch nur den Dreck weg zu schrubben. Sie bestellten Bier und ergatterten sich einen Platz an einem der wenigen Tische an der hinteren Wand. Das Holz war abgenutzt und voller eingeritzter Kerben und groben Buchstaben, wo irgendwelche Säufer sich und ihre Trinkfestigkeit verewigt hatten. Falrey prostete Vett zu, bevor er meinte: „Danke fürs Eingreifen."

Vett lachte. „Ich hab das nicht gemacht, um dir zu helfen. Du hast ausgesehen, als würdest du dem Typen den Hals umdrehen, wenn ich ihn auf dich loslasse. Ich wollte ihm nur seinen undankbaren Arsch retten."

Falrey grinste verlegen.

„Was machst du überhaupt hier?", fragte Vett.

Falrey blickte überrascht auf. „Wie?"

„Naja, tut mir leid, falls das jetzt ein bisschen direkt ist, aber du wirkst nicht, als würdest du wirklich zu den Schleppern gehören", meinte Vett mit seinem Krug gestikulierend.

„Wieso?", fragte Falrey. Ihm war klar, dass er vermutlich kleiner und schmaler war als der Durchschnitt, aber damit war er auch nicht der einzige.

„Du bewegst dich anders", sagte Vett. „Die anderen Schlepper gehen alle gleichmässig, mit Schritten als wären sie mechanische Schmiedehämmer. Bamm. Bamm. Bamm." Er schlug dreimal mit der Faust auf den Tisch. „Wie Maschinen. Auch wenn sie nicht gerade arbeiten. Du nicht. Da vorher... du warst wie ein wilder Hund. Unauffällig am Rand unterwegs, bis zu plötzlich vorschnellst und zuschnappst, ohne dass jemand damit gerechnet hat. Ehrlich, wär ich an Stelle des Idioten gewesen, hätte ich mir zweimal überlegt, ob ich nicht lieber die Beine in die Hand nehme, als es darauf ankommen zu lassen."

Er sagte es mit einem Unterton, als wollte er damit etwas andeuten, eine Frage, die er nicht direkt auszusprechen wagte. Falrey musterte seinen Blick und allmählich dämmerte ihm, worauf Vett hinauswollte. „Nein", sagte er klar.

Vett sah ihn fragend an.

„Nein, ich bin nicht das, was du gerade denkst", führte Falrey aus, bevor er einen Schluck nahm und beschloss ehrlich zu sein. „Aber ein guter Freund von mir ist es und ich schätze, ich habe manches von ihm übernommen." Ihm war nicht klar gewesen, dass das so offensichtlich war, er hatte nicht das Gefühl, sich gross anders zu verhalten als vor einem Jahr, andererseits konnten Monate des Trainings kaum spurlos an ihm vorübergegangen sein.

Vett liess das Thema so stehen, was Falrey zur Gegenfrage veranlasste: „Und was ist mit dir? Du gehörst auch nicht dazu."

„Wieso?", fragte Vett leicht grinsend.

„Du bist zu gut gelaunt. Zu gesprächig. Und du machst dir zu viele Gedanken."

Vett lachte. „Ehrlich gesagt: mir war nur sterbenslangweilig." Er trank einen Schluck Bier. „Ich arbeite sonst im Neuwerk, in der Entwicklung. Aber unser Prototyp steht mal wieder still und wir müssen warten, bis die Ersatzteile fertig sind, deshalb gibt es nichts zu tun für mich. Wenn ich stattdessen penne, ist mein Schlafrhythmus im Eimer, aber was will man nachts tun, wenn man nicht arbeitet? Deshalb dachte ich, ich mach ein paar Schichten für ein bisschen Taschengeld."

„Was heisst in der Entwicklung?", fragte Falrey neugierig.

„Das heisst, wir arbeiten mit dem ganz neuen Zeug", antwortete Vett mit offensichtlicher Begeisterung. „Technologie, die noch nicht ausgereift genug ist, um in Produktion zu gehen. Prototypen, die neue Prozesse ermöglichen. Die Möglichkeiten der Zukunft!"

„Klingt spannend", meinte Falrey ehrlich beeindruckt, wenn auch weniger von dem, was Vett erzählte – er konnte sich schlicht nichts darunter vorstellen – sondern davon, wie Feuer und Flamme er dafür war.

„Ist es auch!", beteuerte Vett, bevor er lachte. „Naja, nicht immer. Ehrlich gesagt, ist es auch oft Putzen oder irgendwelche verklemmten Teile wieder freikriegen. Aber die Ideen, die dahinter stecken..." Er schien einen Moment lang nachzudenken, bevor er seinen Krug kurzerhand hinstellte und meinte: „Komm, ich zeigs dir einfach!"

Einen Moment lang zögerte Falrey, als ein Funke Misstrauen in ihm aufkeimte, aber dann trank er aus und folgte Vett nach draussen. Er hatte ein Messer dabei. Er konnte sich verteidigen. Er war keine leichte Beute, Vett hatte das vorhin selbst festgestellt.

Sie stapften gemeinsam durch das nächtliche Arbeiterviertel, Vett voran und Falrey hinterher. Abseits der Hochöfen war es ruhig und dunkel, wer nachts nicht arbeitete, schien auch hier zu schlafen. Einige Male sah Falrey dunkle Schemen in irgendwelchen Seitengassen verschwinden, aber niemand schien auf Ärger aus. „Also, jetzt aber nochmal", fragte Vett nach einer Weile. „Was machst du wirklich?"

„Dies und das", antwortete Falrey. Er sah nicht, warum er Vett gegenüber nicht ehrlich sein sollte, also erzählte er: „Ich habe schon öfters hier gearbeitete, aber in der Tagesschicht. Kurz war ich auch mal auf den Feldern, über einige Monate habe ich in einem Bordell aufgepasst. Manchmal helfe ich Freunden aus."

„Klingt abwechslungsreich", meinte Vett, während er über einige herabgefallene Ziegelsteine stieg.

Falrey zuckte nur mit den Schultern, aber vermutlich konnte er sich tatsächlich nicht beklagen, was das betraf. Vor allem, weil er nicht gezwungen war zu arbeiten. Es interessierte niemanden, wenn er einige Nächte über nichts Sinnvolles tat, denn es war Jaz, der sie alle ernährte. Erneut schlicht sich Unbehagen in seine Eingeweide, wie eine kalte Hand, die begann Knoten in seinen Darm zu legen. Was, wenn Jaz wirklich nicht zurückkehrte? Was würden sie dann tun? Dann liegt es an dir. Das war klar. Emila war nicht in der Lage, sich selbst zu versorgen. Das bedeutete, dann würde er tatsächlich jede Nacht arbeiten müssen und keine Wahl mehr haben. Allerdings würde der Lohn, den er hier bekam, ohnehin niemals reichen. Nein, wenn er wirklich für Emila mitverdienen musste, würde von all den Optionen , die ihm im Moment offenstanden, vermutlich nur eine genügend Geld hereinbringen. Und auch das nur, wenn er sich nicht mehr an Poss hängte, sondern auf eigene Faust loszog. Das war gefährlich. Und doch machte es ihm nur halb so viel Angst wie der Gedanke daran, dass Jaz irgendwo in einer dunklen Gasse verreckt war, ohne dass es irgendjemanden gekümmert hätte.

Seine Aufmerksamkeit wurde wieder auf die Umgebung gezogen, als sie die engen Strassenschluchten verliessen und auf einem breiteren Weg einer hohen Backsteinmauer entlang marschierten. Von der anderen Seite her erklang ein rhythmisches Krachen, wie von grossen Massen von Metall, die aufeinander trafen. Vett führte sie ein gutes Stück der Mauer entlang, dann um eine Ecke und schliesslich durch ein grosses Tor in das Gelände dahinter. Hin und her eilenden Arbeitern und einem massiven Wagen beladen mit gefühlt mehr Eisen, als Falrey in seinem ganzen Leben gesehen hatte, ausweichend steuerte er von den lauten Schlägen weg und zwischen einigen Hallen hindurch auf einen Hinterhof, auf dem sich Kohle häufte. Die gegenüberliegende Seite bildete ein langes Gebäude. Dem rötlichen Schein nach zu urteilen, der aus den hochgelegenen Fenstern lag, herrschte drinnen betrieb, aber auf dem Hof war es gerade relativ ruhig.

„Das eigentliche Neuwerk ist ein bisschen weiter südlich", erklärte Vett, während er ihn überquerte. „Die Drahtzieherei hier haben sie erst letztes Jahr aufgekauft. Kurz danach wurden wir hierher verlegt."

Er rüttelte an einer Türe, die aber abgeschlossen war, kramte einen Schlüssel hervor und sperrte auf. Der Raum, den sie betraten, war niedrig verglichen mit den Hallen, in denen die Hochöfen standen, schien sich dafür aber über die gesamte Gebäudelänge zu erstrecken. Fackeln hinten in regelmässigen Abständen an der gegenüberliegenden Wand und tauchten alles in flackerndes Licht, hell genug, dass Falrey die baumstammdicken Rollen ausmachen konnte und die Männer, die sie drehten. Holz und Metall knarzten und klangen, aber es war leiser als in anderen Werkstätten, dennoch achtete niemand auf ihn und Vett, als sie an den Aufbauten vorbeigingen. Falreys Augen gewöhnten sich allmählich an die unsteten Lichtverhältnisse und er entdeckte den Draht, der sich zwischen den Rollen und den grossen Blöcken dazwischen spannte, dennoch verstand er nicht wirklich, was hier passierte.

Vett bemerkte seinen neugierigen Blick. „Hast du das noch nie gesehen?"

Falrey schüttelte den Kopf. Er hatte zwar einmal zugesehen, wie Marvels Vater Draht zog, aber dazu hatte er eine Zange benutzt und ein Lochbrett unter seine Füsse geklemmt und es hatte nichts mit all dem hier gemeinsam gehabt. Ausserdem war es eine von vielen Erinnerungen, die er begraben hatte und nur ungern wieder hervorzerrte, weil ihnen der bittere Geschmack von Lüge anhaftete.

Vett erklärte dafür umso bereitwilliger: „Dünnen Draht kann man nicht schmieden, man muss ihn ziehen. Sie kriegen hier den Rohdraht aus dem Walzwerk angeliefert, der ist zwar schon geglüht, aber fast fingerdick. Um ihn dünner zu kriegen, zieht man ihn schrittweise durch immer kleinere Matrizen." Er deutete auf einen der massiven Blöcke, die zwischen den Rollen aufgebaut waren. „Da drin ist ein Kegel mit einem Austrittsdurchmesser, der etwas kleiner ist als der des Ausgangdrahts. Der Draht wird von der einen Seite hereingezogen und im Kegel zusammengedrückt. Dadurch wird er gleichzeitig länger. Deshalb dreht sich die hintere Rolle schneller, siehst du?"

Falrey nickte.

„Das macht man immer wieder, in vielen Stufen, bis der Draht so dünn ist, wie man ihn braucht. Das hier ist eine mehrstufige Anlage." Er deutete auf den Aufbau direkt vor ihnen, an dem mehrere Männer eben dabei waren, eine leere Rolle von ihrer Achse zu heben und eine neue, voll mit Draht, darauf zu hieven, wo sie mit schweren Bolzen befestigt wurde. „Der Draht läuft von der Ausgangsrolle durch die erste Matrize auf die mittlere Rolle, dort einige Male rundherum, damit er nicht rutscht – sonst hängt die ganze Zugkraft auf dem hinteren Teil und er reisst – über den Ausgleichsspanner zur zweiten Matrize, und von dort auf die Endrolle. Dadurch spart man sich einmal ummontieren pro Rolle und damit Zeit."

Falrey nickte fasziniert.

Vett winkte ihn weiter. „Mittlerweile kriegen sie damit echt dünne Fäden hin", meinte er anerkennend. „Und damit arbeiten dann wir."

Sie hatten mittlerweile fast das Ende der Halle erreicht. Die Beleuchtung hier war noch spärlicher als vorne und niemand arbeitete. Neben einer grossen Werkbank voller Drahtstücke und Werkzeug stapelten sich mehrere Rollen voller Draht. Davor erhob sich eine Art Gestell auf Rädern, so hoch wie Vett und aus massiver Eiche, verstärkt mit Stahlbändern. Vett klopfte darauf. Etwas an der Bewegung wirkte verwirrend zärtlich und er grinste, als er sagte: „Unsere Dame."

Falrey musterte das Ding genauer. Es sah aus wie ein riesiges Rad. Auf einigen der Speichen hingen Drahtrollen, andere waren leer. „Was macht man damit?", fragte er ratlos.

„Das", erwiderte Bett, als hätte er nur auf die Frage gewartet und hielt Falrey etwas entgegen, das er vom Tisch genommen hatte. Es war ein längliches Stück Metall, etwa Fingerdick. Falrey nahm es in die Hand, um es genau zu betrachten und stellte schnell fest, dass es aus Draht bestand. Viele Fäden von Draht, miteinander verdreht zu einem dicken Strang. „Was...", begann er erneut.

„Die Zukunft des Seils", antwortete Vett breit grinsend.

Falrey blickte verblüfft zu ihm auf, aber bevor er dazu kam, eine Frage zu stellen, erklärte Vett bereits: „Seile aus Greisenbart sind toll. Halten eine Menge aus, einigermassen wetterbeständig, aber sie haben einen grossen Nachteil: wenn sie irgendwo über eine Kante schleifen, sagen wir am Fels, scheuern sie schnell durch und zack ist es gerissen. Deshalb haben wir uns gedacht: warum machen wir die Dinger nicht aus Stahl?"

Erneut starrte Falrey auf das Stück in seinen Händen. Die einzelnen Drähte wirkten viel zu fein, um irgendetwas zu halten, aber so ineinander verdreht... es sah so gleichmässig aus, leicht schimmernd im Fackelschein, geradezu schön. „Wie macht ihr das?", fragte er fasziniert.

Vett nickte auf den Holzrahmen. „Die einzelnen Dräge werden hier reingehängt und da vorne durch die Löcher geführt." Er deutete auf einen weiteren Holzblock, der etwas weiter hinten stand, vor einer Rolle, die noch grösser wirkte als die anderen, die Falrey gesehen hatte. „Und dann wird hier gedreht." Er gab dem grossen Rad der Dame einen Schubs, worauf es begann, sich um die eigene Achse zu drehen, mitsamt den darauf befestigten Drahtspulen. „Dadurch werden die Drähte miteinander verdreht. Zumindest sollten sie." Er stoppte das Rad wieder. „Ehrlich gesagt habe wir mit diesem neuen Aufbau noch überhaupt nichts vernünftiges hinbekommen. Stattdessen ist uns das ganze Ding umgekippt und jetzt sind wieder zwei der Lager hin. Und mit dem, was wir davor hatten, war die Verdrehung scheisse."

Er lehnte sich gegen die Werkbank und fuhr sich über die Stirn, während er auf die Mechanik blickte. „Ich denke, das Hauptproblem ist: wir haben alle eine Menge Ahnung von Metall, davon, wie es sich verhält, was es kann. Aber keiner von uns weiss wirklich, wie man ein Seil macht. Wir können uns die Endprodukte der Seilereien ansehen, versuchen zu rekonstruieren, wie sie hergestellt wurden, bisschen Werkspionage betreiben, aber es fehlt uns an Wissen und Erfahrung auf dem Gebiet. Wir kriegen Teststücke wie das da so hin, das sie richtig aussehen." Er nickte auf das Objekt in Falreys Händen. „Von Hand. Aber was wir brauchen, sind lange Seile. Und einen Arbeitsprozess, der die Qualität, aber auch die Menge ausspuckt, die wir brauchen, um konkurrenzfähig zu sein. Wir bräuchten einen Seiler mit Erfahrung, der weiss, wie die ganzen Abläufe funktionieren, worauf man achten muss, der uns sagen kann, was wir falsch machen."

„Warum stellt euer Chef dann nicht einfach einen ein?", fragte Falrey.

„Weil kein Seiler, der was auf sich hält, hier arbeiten will", antwortete Vett geradeheraus.

„Warum?", fragte Falrey stirnrunzelnd. „Ist der Lohn zu schlecht?"

Vett lachte. „In einer Position wie der hier ist der Lohn reine Verhandlungssache. Ich wette, ich verdiene mehr als die meisten Seiler. Die wollen ja nicht riskieren, dass wir zur Konkurrenz überlaufen."

Falrey legte den Kopf schräg. „Was ist dann der Grund?"

„Berufsstolz, schätze ich", meinte Vett schulterzuckend. „Kommen sich vor, als wären sie etwas besseres, immerhin sind sie Handwerker und keine Arbeiter."

Falrey verzog das Gesicht. Gab es in dieser beschissenen Stadt eigentlich irgendeine Gruppe von Leuten, die nicht das Gefühl hatten, auf andere herabblicken zu müssen?

Vett hingegen grinste nur. „Aber von mir aus, sollen sie doch. Irgendwann kriegen wir es so oder so hin, und dann werden sie alle in die Röhre gucken, wenn wir ihnen den Rang ablaufen. Wer sich zu gut ist für Fortschritt, ist selber schuld."

Er zuckte mit den Schultern, dann bedeutete er Falrey zu folgen und sie verliessen das Gebäude durch eine Hintertür. „Es ist faszinierend, weisst du", meinte Vett, während sie über einige Balken hinwegstiegen. „Wie viele Leute nicht begreifen, dass die Welt nicht für immer so bleiben wird, wie sie sie jetzt kennen. Dass sie das noch überhaupt nie getan hat. Bleiben, meine ich."

Er kletterte über eine Leiter auf das Dach eines Schuppens am Ende des Werksgeländes und wartete, bis Falrey zu ihm aufgeschlossen hatte, bevor er sich umwandte und mit einer weit ausholenden Bewegung sagte: „Ich meine, sieh dir das an."

Falrey folgte seiner Geste und sein Blick weitete sich. Von hier oben sah man die Kraterwand. Sie war übersät mit Lichtpunkten. Aber die Lichter ähnelten nicht jenen weiter nördlich, über dem Westviertel, wo es sich um erleuchtete Fenster handelte, sie waren linearer angeordnet und unsteter, flackernde Fackeln, immer wieder verdeckt von Leuten, die auf den Plattformen davor vorübergingen. „Was ist das?", fragte er.

„Die Minen", antwortete Vett. „Allein seit ich ein Kind war, haben sie sechs neue Zugänge aufgemacht. Acht neue Aufzugsanlagen. Ein ganzes Stahlwerk wurde neu gebaut. Seit Beginn meiner Lehre gibt es drei Dutzend neue Stahlsorten, mit denen wir Eigenschaften erreichen, die es nie zuvor gab, neue Prozesse, die die Produktion verdoppeln, verdreifachen. Diese Welt bleibt nicht, sie ändert sich. Wenn wir alt sind, wird sie eine andere sein als jetzt. Ich begreife nicht, wie manche Leute glauben können, diese Veränderung würde sie nicht betreffen, wenn sie nur wegsehen."

„Vielleicht, weil sie sie nicht mögen?", meinte Falrey. Er selbst musste zugeben, dass ihm nicht wohl war bei der Vorstellung. Er begann doch gerade erst, sich hier auszukennen. Wie sollte er sich jemals wirklich zurechtfinden, wenn es sich auch noch ständig veränderte?

„Das ist idiotisch", kommentierte Vett. „Ich meine, wenn mich ein Karren zu überfahren droht, gefällt mir das auch nicht, aber dann mache ich etwas dagegen. Ich bleibe nicht einfach stehen und rede mir ein, dass er nicht da ist."

So ausgedrückt klang es logisch. Dennoch konnte Falrey nur zu gut verstehen, warum man etwas Unangenehmes lieber leugnete, als sich damit auseinander zu setzen, besonders wenn man nichts dagegen ausrichten konnte. Im Grunde tat er nichts anderes, wenn er versuchte, all das Unrecht, das er in Niramun gesehen hatte, auszublenden, weil er nicht wusste, was er dagegen tun sollte. Gegen die Menschenhändler. Die Morde. Den Sur. Dagegen, dass er immer noch nicht wusste, wo Jaz war.

Er setzte sich hin und blickte hinüber zu den erleuchteten Eingängen der Minen, die sich über die Kraterwand zogen wie Funken, die den Boden bedeckten, nachdem ein harzgetränktes Stück Tanne in den Flammen explodiert war. Bisher hatte er nicht viel gehört über die Minen von Niramun, aber was er auf seiner Reise aufgeschnappt hatte über diejenigen von Fastara, klang alles andere als gut. Die Arbeiter, die kaum jemals das Sonnenlicht sahen. Die Staublungen. Die Explosionen und Brände. Dort zu arbeiten musste etwas vom Schlimmsten sein, was es gab, und man wurde nicht alt dabei. Die einen starben. Die anderen wurden zu Krüppeln, die den Rest ihres erbärmlichen Lebens bettelnd am Strassenrand kauerten und irgendwann in einer Winternacht erfroren.

Und dann war da Vett, der über die neuen Stollen sprach mit einer Begeisterung, als wären sie ein Schritt in Richtung Paradies. Nachdenklich blickte Falrey zu ihm auf. „Denkst du, es ist gut?"

„Was?", fragte Vett. Sein dunkler Schatten ragte wie ein Baum neben Falrey auf.

„Wie es sich verändert", sagte Falry.

Vett liess sich neben ihm auf dem Dach nieder und diesmal schien er nicht sofort eine Antwort bereit zu haben. „Keine Ahnung", meinte er schliesslich. „Aber ich denke es ist gut dass es sich ändert."

„Wie meinst du das?"

Vett zupfte ein Stück Draht aus dem Saum seiner Tunika, das sich im Stoff verhakt hatte. „In einer Welt, die bleibt, ist das Schicksal jedes einzelnen vorgegeben", antwortete er. „Man erlernt den Beruf des Vaters. Man führt dasselbe Leben. Es gibt keine Möglichkeiten, aufzusteigen oder auszubrechen. Die Armen bleiben arm. Die Reichen werden immer reicher. Die Strukturen verhärten sich, bis sie irgendwann niemand mehr durchbrechen kann. Ich meine, ich hätte vielleicht nichts dagegen, dass es bleibt, wie es ist, wenn es gut wäre. Aber das ist es nicht. Oder?"

„Nein", antwortete Falrey ohne nachdenken zu müssen.

„Eben", meinte Vett. „Wenn es sich ändert, wird es vielleicht schlechter. Aber vielleicht auch besser. Manche werden fallen, andere aufsteigen. Chancen, verstehst du?"

Falrey nickte langsam.

Vett blickte zum Himmel hinauf, wo sich die Sterne nur blass abzeichneten durch den Rauch, der immer über dem Arbeiterviertel hing. „Ich denke auch: wenn alles gleich bliebe, wenn man wüsste, dass es gleich bleibt – wovon sollte man dann noch träumen?"

„Wovon träumst du?", fragte Falrey.

Vett lachte. „Eine Menge. Aber da müsste ich jetzt viel zu weit ausholen, um alles zu erklären."

Falrey akzeptierte die Antwort. Er dachte über Vetts Worte nach und musste zugeben, dass er recht hatte. Das Risiko bestand, dass die Dinge schlechter wurden, wenn sie sich änderten, aber nur wenn sie sich änderten, konnten sie sich irgendwann zum Besseren wenden. Und gemessen daran, wie vieles jetzt schief lief, war die Wahrscheinlichkeit, dass sich etwas verbesserte, relativ gross. Der Gedanke liess etwas in Falrey aufkeimen, ein Gefühl, das wie eine frische Pflanze durch den Schutt aus Verzweiflung und Verbitterung brach, der sich in seiner Brust angehäuft hatte, und ihn jedes Mal fast zu ersticken drohte, wenn er an Pliss dachte, oder daran, was das Leben Jaz angetan hatte, was es so vielen anderen antat. Die Welt war scheisse, ja. Aber sie musste nicht so bleiben. Was jetzt war, war nicht für alle Zeiten in Stein gemeisselt. Es konnte sich ändern. Vielleicht würde es eines Tages, irgendwann, wirklich gut sein. Und allein diese Möglichkeit machte es leichter zu ertragen. „Hoffnung", murmelte er.

„Hm?", fragte Vett.

Falrey blickte zu ihm auf. Selbst im Sitzen überragte Vett ihn um ein gutes Stück. Er war wirklich gross. „Ich denke, Veränderung ermöglicht es den Menschen zu hoffen. Und... vielleicht ist diese Hoffnung im Endeffekt sogar wichtiger und wertvoller als ob es irgendwann tatsächlich besser wird."

Vett schwieg überrascht. „Das ist ein interessanter Gedanke", meinte er schliesslich.

Einige Atemzüge lang sassen sie noch schweigend, dann rappelte Vett sich auf. „Ich denke, ich gehe mal nach Hause. Vielleicht schaffe ich es ja sogar, meine Bude mal wieder aufzuräumen, ohne alle zu wecken und mir die halbe Nachbarschaft zum Feind zu machen." Er grinste leicht, bevor er mit dem Kopf zur Seite nickte. „Kommst du mit? Ich darf dich nämlich nicht unbeaufsichtigt hier auf dem Gelände zurücklassen. Sabotage und so, du verstehst."

Falrey nickte und folgte ihm. Vom Dach her kletterten sie auf die angrenzende Mauer, die das Werkgelände einschloss. Vett liess sich daran herunterrutschen und fallen, Falrey schützte die Höhe ein – es mussten etwa vier Schritt sein – sprang und rollte sich ab, wie er es bei Jaz Dutzende Male gesehen hatte. Es gelang ihm nicht ganz so reibungslos, wie er gehofft hatte, und er stiess sich die Schulter schmerzhaft, kam aber flüssig wieder auf die Füsse und Vetts überraschter Blick war einen blauen Fleck definitiv wert.

„Du weisst schon, dass das jetzt nicht unbedingt dazu beiträgt, dass ich dir abkaufe, keiner von ihnen zu sein, oder?", fragte Vett grinsend.

Falrey grinste zurück und ersparte sich die Antwort. Im Endeffekt war es ihm egal, was Vett dachte.

Sie gingen ein Stück weit in dieselbe Richtung, dann trennten sich ihre Wege und sie verabschiedeten sich per Handschlag. „Vielleicht läuft man sich ja wieder mal über den Weg", meinte Vett.

„Wenn du mal wieder nichts besseres zu tun hast, als Kohle zu schleppen?", grinste Falrey.

Vett lachte. „Ja." Dann wurde er ernst. „Obwohl es eine Schande wäre."

Irritiert blinzelte Falrey. „Was?"

„Ich kenne dich nicht wirklich", erklärte Vett. „Aber ich hab das Gefühl, du bist ein kluger Kopf. Es wäre eine echte Verschwendung, wenn du dein Leben lang nur als Lastesel hin und her laufen würdest."

„Das habe ich auch nicht vor", beruhigte Falrey ihn.

Vett nickte. „Dann sieh zu, dass was daraus wird."


Diesmal ein etwas längeres Kapitel. Ich wusste mal wieder einfach nicht, wie anders aufteilen.
Referenzen zu aktuellen Themen und wie gewisse Leute damit umgehen, sind beabsichtig. Abgesehen davon ist das Kapitel auch ein kleiner Exkurs in die Welt, mit der ich mich in meinem Studium herumschlage. Was haltet ihr so von Vett?

Lg Ro

Continue Reading

You'll Also Like

27.8K 2.4K 26
Lucy Zenkic. Ein Name für zumindest einen Jungen, der Nichts mit ihr zu tun haben wollte. Er war abgehoben, dumm und teilweise ziemlich gemein, das...
1.9M 91.6K 106
-Abgeschlossen- Die junge Kriegerin Scar Grigori ist stark,furchtlos und eine Halbhexe. Eigenschaften,die ihr und ihrem Seelenbegleiter Ciel schon of...
96.3K 9.2K 141
Eigentlich sollte es nur eine Klassenfahrt nach Schottland werden - aber als Lina auf einem Friedhof in Edinburgh plötzlich von einem Geschöpf wie au...
250K 14.4K 63
Wer kennt es nicht? Man hört einen Song und schon kommt einem eine neue Idee zu einer Geschichte. Ja, manchmal reicht sogar ein einziges Wort aus, um...