Niramun II - Mörder und Basta...

By RoReRaven

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Falrey hat das Vertrauen in Jaz verloren. Mit dem Job als Aufpasser im Liliths kann er sich über Wasser halte... More

Kapitel 1 - Veränderungen
Kapitel 2 - Poss, der Finder
Kapitel 3 - Antworten
Kapitel 4 - Leb wohl, Emila
Kapitel 5 - Menschen
Kapitel 6 - Saufhäuser nach Vitar
Kapitel 7 - Brennender Zorn
Kapitel 8 - Erinnerung
Kapitel 9 - Ich bitte dich
Kapitel 10 - Eine Ausnahme
Kapitel 11 - Heimkehr
Kapitel 12 - Jeder Kampf ist echt, wenn du alleine stehst
Kapitel 13 - Regeln
Kapitel 14 - Masochisten und andere Verrückte
Kapitel 15 - Neue Chancen
Kapitel 16 - Von Menschen und Wölfen
Kapitel 17 - Wo warst du?!
Kapitel 18 - Seniah
Kapitel 19 - Die Kinder des Mondes
Kapitel 20 - Träume und Hoffnungen
Kapitel 21 - Das Arbeiterviertel
Kapitel 22 - Rata!
Kapitel 23 - Bilder
Kapitel 24 - Tersavell
Kapitel 25 - Falle
Kapitel 26 - Maskeraden
Kapitel 27 - Warum kann es nicht mal gut laufen?
Kapitel 28 - Die Felder
Kapitel 29 - Der Fluss
Kapitel 30 - Suratis
Kapitel 31 - Geh nie nach Süden
Kapitel 32 - Die Kinder des Surs
Kapitel 33 - Totenfeuer
Kapitel 34 - Einfach wäre ja langweilig
Kapitel 35 - Silberdiebe
Kapitel 36 - Süss
Kapitel 37 - Bauer oder Jäger
Kapitel 38 - Nur ein Märchen
Kapitel 39 - Der Held der Huren
Kapitel 40 - Nicht fair
Kapitel 41 - Wind und Leere
Kapitel 42 - Inayenda mit den Goldaugen
Kapitel 43 - Winterwolf
Kapitel 44 - Davonlaufen
Kapitel 45 - Limit und Nuaril
Kapitel 46 - Der halbe Eber
Kapitel 47 - Geschwister
Kapitel 48 - Aussenseiter
Kapitel 49 - Einbrecher
Kapitel 50 - Familie
Kapitel 51 - Nicht mehr zwölf
Kapitel 52 - Mesche
Kapitel 53 - Der Geruch von Erde
Kapitel 54 - Die Hochöfen
Kapitel 55 - Diebe und Räuber
Kapitel 56 - Die Konsequenzen von Fehlern
Kapitel 57 - Auf der Suche
Kapitel 58 - Freiheit
Kapitel 59 - Zukunftspläne
Kapitel 60 - Jemanden zu mögen
Kapitel 61 - Unter Freunden
Kapitel 62 - Aufgeben
Kapitel 63 - Ein bisschen Abenteuer
Kapitel 64 - Durras Geschichte
Kapitel 65 - Ernst zu nehmen
Kapitel 66 - Tintenflecken
Kapitel 67 - Verflucht
Kapitel 68 - Heldenmut
Kapitel 69 - Die Verletzlichkeit der Guten
Kapitel 70 - Djora
Kapitel 71 - Erzählen
Kapitel 73 - Vissuri
Kapitel 74 - Das Richtige zu tun
Kapitel 75 - Gerechter Zorn
Kapitel 76 - Narben der Vergangenheit
Kapitel 77 - Der wahre Kern des Märchens
Kapitel 78 - Jaz' Stärke
Kapitel 79 - Kaputt
Kapitel 80 - Der Wert von Fortschritt
Kapitel 81 - Blut und Tränen
Kapitel 82 - Fragen und Versprechen
Kapitel 83 - Ein Antrag
Kapitel 84 - Jemand wie du
Kapitel 85 - Ein Kind Yainils
Kapitel 86 - Warten und Beobachten
Kapitel 87 - Am Fenster
Kapitel 88 - Selbstlos
Kapitel 89 - Eine Drohung
Kapitel 90 - Eine Antwort
Kapitel 91 - Nein
Kapitel 92 - Seniah
Kapitel 93 - Arschlöcher
Kapitel 94 - Am Brunnen
Kapitel 95 - Ich bleibe
Kapitel 96 - Suppe
Kapitel 97 - Jäger und Gejagte
Kapitel 98 - Krieg
Kapitel 99 - Feigling
Kapitel 100 - Loyal
Kapitel 101 - Schmerz
Kapitel 102 - Was bleibt
Hinweis und Stuff

Kapitel 72 - Déjà-vu

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By RoReRaven

Als er nach Hause kam, war Jaz bereits in Aufbruchsstimmung. „Hast du heute was vor?", fragte er.

„Ich dachte, ich melde mich bei Poss", meinte Falrey.

Jaz nickte. „Dann brauch ich nicht auf dich zu warten."

Falrey schüttelte den Kopf, worauf Jaz sich aus dem Staub machte. Er selbst ass Reste und machte sich dann ebenfalls auf den Weg. Die Sonne war untergegangen, es begann dunkel zu werden, als er das Haus des Diebes erreichte, und er sah gerade noch, wie Poss seine Haustür abschloss und davonging. Er beschleunigte seine Schritte, um ihn einzuholen, wobei Poss sichtlich zusammenzuckte, bevor er ihn erkannte.

„Verzeihung, dass ich nicht eher konnte", meinte Falrey ohne Begrüssung.

Poss winkte ab, während er eine Surati aus seiner Gürteltasche nahm und hineinbiss. „Gibt schlimmeres. Ich bin mich ohnehin eher gewohnt, alleine zu arbeiten."

Einige Atemzüge lang gingen sie schweigend, dann fragte Falrey: „Bist du an etwas neuem dran?"

„Nein", antwortete Poss. „Und ich hab auch gerade keine Verwendung für dich, ausser du willst dich auf eigene Faust nach einem neuen Ziel umsehen." Er biss ein Stück Surati ab und kaute. „Aber wenn du noch ein Stück mitkommen möchtest, kann ich dir Marella vorstellen. Die Freundin, von der ich dir neulich erzählt habe. Sie war sehr neugierig, als ich dich erwähnte."

Falrey wusste nicht wirklich, was das bringen sollte, andererseits interessierte es ihn schon irgendwie, was das für eine Frau war, die Poss derart ins Schwärmen brachte. Deshalb zuckte er mit den Schultern und nickte.

Sie schlenderten durch die ruhigen Wohnquartiere östlich des Min und erreichten schliesslich die Het-Speiche. Auf der tagsüber völlig überlaufenen Strasse war nicht mehr viel los um diese Zeit, aber sie wurde gesäumt von grossen Gasthäusern für die Händler aus aller Welt, die sich hier einquartierten, während sie ihre Ware auf den nahen Märkten verkauften. Poss steuerte eines der Gebäude an, dessen Fenster hell erleuchtet waren, und trat ein. Der Geruch von Essen, der Falrey entgegenwaberte, liess seinen Magen knurren, noch bevor er die Schwelle überschritten hatte. Trotz seiner Grösse wirkte das Lokal gemütlich, an den Tischen sassen Gruppen von Händlern und Reisenden, nahmen ihr Abendessen zu sich, stiessen auf gemachte Geschäfte an oder vertrieben sich die Zeit mit Kartenspiel. Poss schritt zwischen ihnen hindurch, begrüsste den Wirt an der Theke, der ihm freundlich zunickte, und erklomm dann die Treppe am hinteren Ende des Saals, die in die oberen Stockwerke hinaufführte.

Im zweiten Stock hielt Poss inne und drehte sich zu Falrey um. „Ich weiss nicht genau, was du dir für Umgangsformen gewohnt bist", meinte er. „Aber Marella ist keine von den Huren, die du auf der Strasse antriffst. Sie ist eine Dame mit Stil. Also sei anständig."

Falrey nickte nur. Nicht, dass er etwas anderes vorgehabt hätte, aber schliesslich wusste Poss nichts über seinen Hintergrund, er kannte nur Jaz. Und auch wenn der sich zumindest Frauen gegenüber im Allgemeinen korrekt verhielt, war sein Verhalten doch nicht unbedingt, was man als anständiges Benehmen bezeichnen konnte.

Er folgte Poss, als er den kurzen Korridor hinunterging, an eine Tür klopfte und eintrat. Das erste, was Falrey auffiel an der Wohnung dahinter, war ihre Grösse. Der Raum, in den sie eintraten, war sicher doppelt so gross wie Emilas Küche und Durchgänge an der Rückwand gaben den Blick frei auf zwei weitere Zimmer, während sich auf der rechten Seite ein dünner Vorhang im leichten Wind bauschte, der über einen Balkon von draussen hereinstrich. Das zweite war die Einrichtung, die sich in Bezug auf Geschmack durchaus mit dem Eingangsbereich des Taubenhauses messen konnte. Teppiche bedeckten gute Teile des Bodens, entlang der Wände reihten sich mehrere Kommoden, über denen ein Bild hing, das eine sanftgeschwungene Küstenlandschaft mit Kiesstränden zeigte. Die Mitte des Raumes wurde eingenommen von zwei gepolsterten Sofas und einem niedrigen Tischchen, das den Bereich dazwischen ausfüllte.

Poss streifte sich die Schuhe ab und Falrey fragte sich, ob er dasselbe tun sollte, als aus einem der hinteren Räume Schritte erklangen und eine Frau in einem hellen Kleid in den Türrahmen trat. Falrey blieb der Mund offen stehen. Poss hatte gesagt, dass sie rothaarig war. Aber...

Ein warmes Lächeln legte sich über ihr Gesicht. „Ach Poss, du bist es. Mach es dir gemütlich, ich komme gleich." Ihr Blick glitt weiter zu Falrey und ihm wurde bewusst, wie grün ihre Augen waren. Sie blieben neugierig an ihm hängen, was Poss dazu veranlasste, ihn vorzustellen, während er zum Sofa hinübertrat und sich in die Polster fallen liess. „Das ist Fal, der junge Dieb, von dem ich dir erzählt habe."

Marella hob überrascht die Augenbrauen und trat einige Schritte auf ihn zu, wobei ihr Lächeln immer amüsierter wurde. „Du kannst den Mund wieder schliessen, Junge. Ich weiss, dass ich gut aussehe, du brauchst nicht zu übertreiben."

Falrey spürte, wie er rot anlief, und wollte etwas sagen zu seiner Verteidigung, aber er brachte keinen Ton heraus. Krampfhaft schloss er den Mund und versuchte zu schlucken. Er hörte Poss lachen, schaffte es aber nicht, das Geräusch einzuordnen, denn er konnte keinen einzigen, klaren Gedanken fassen.

Marellas grüne Augen blitzten belustigt auf, als sie mit wiegenden Hüften die letzen Schritte zurücklegte und ihn direkt ansah. Irgendwo am Rande seines Bewusstseins war ihm klar, dass sie wirklich schön war, nicht nur aussergewöhnlich, sondern herausragend, und dass jede ihrer Bewegungen, jede Facette ihrer Mimik genau darauf abzielte. Aber das war gerade das letzte, dem er Beachtung geschenkt hätte. „Du... du...", stammelte er und brach wieder ab.

„Ja?", sie legte den Kopf schräg, wobei die Locken um ihr Gesicht und über ihre nackten Schultern tanzten wie Flammenlohen.

„Du siehst aus wie meine Mutter."

Sie stutzte einen Moment, dann brach sie in schallendes Gelächter aus. Der Klang grub sich in seinen Kopf wie Dornen. Es war nicht nur die Farbe ihres Haars und ihrer Augen, auch wenn die Kombination hier in Niramun selten genug war, um eine Assoziation zu wecken, die Ähnlichkeit ging weit darüber hinaus. Falrey brauchte nicht zu fragen, ob sie aus den Wäldern stammte, das war offensichtlich. Die helle Haut, die roten Locken, die feinen Gesichtszüge, die wechselnden Grüntöne in ihrem Blick, die Sommersprossen.

„Das hat mir tatsächlich noch nie jemand gesagt", meinte Marella glucksend. „Ich hoffe, es ist ein Kompliment und deine Mutter ist eine ansprechende und sympathische Frau."

„Nicht mehr", kam es über Falreys Lippen, bevor er nachdachte.

Sie legte den Kopf schief und selbst diese Geste, die Art, wie der helle Stoff des Kleides sich über ihre Figur wölbte, wie ihre Augenbrauen sich leicht hoben, weckte Erinnerungen. Er konnte sie vor sich sehen, wie sie im Unterkleid am Waschzuber stand, die Ärmel hochgekrempelt, und sich skeptisch anhörte, warum er ihr angeblich nicht helfen konnte, die Wäsche aufzuhängen. „Warum?", fragte sie neugierig.

Falrey schluckte leer. „Sie ist tot."

„Das tut mir leid", sagte Marella und es klang einigermassen ehrlich, obwohl er sehen konnte, dass sie nicht wirklich bestürzt war. Sie wandte sich ab, um in den hinteren Raum zurückzukehren, aber Falreys Frage liess sie innehalten. „Woher stammst du?"

Sie wandte sich um. „Was? Warum willst du das wissen?"

Falrey registrierte einen warnenden Blick von Poss und ignorierte ihn. „Du stammst aus den Wäldern am Sevedra. Oder? Von wo?"

Marella runzelte leicht die Stirn, nicht wirklich verärgert, aber genügend, dass es nicht nur Falrey auffiel, sondern auch Poss. „Sei nicht unhöflich, Fal", setzte er an, aber Marella brachte ihn mit einem Wink zum Schweigen. „Weshalb fragst du? Kennst du dich aus in der Gegend?"

Falrey nickte und erinnerte sich gerade noch rechtzeitig, dass er Poss irgendwann man aufgetischt hatte, er wäre mit Jaz verwandt, weshalb er sagte: „Meine Mutter war von dort. Aus Leppir."

„Das sagt mir nichts. Ich wurde in Abaver geboren und war nie in den Wäldern, wenngleich mein Vater wohl von dort stammte." Sie schien keine sonderlich enge Bindung zu ihm gehabt zu haben, so wie sie den Mund verzog bei den Worten. Was die Verärgerung erklärte.

„Tut mir leid", sagte Falrey betreten. Er schaffte es nicht, den Blick von ihr zu wenden. Sie war ihr so ähnlich. Als würden sich die Gesichter, dasjenige vor ihm und das verschwommene aus seiner Erinnerung, übereinander schieben und zu einem verschmelzen. Nur das Lächeln stimmte nicht. Es war zu spöttisch, zu lasziv. Sein Blick glitt zwischen ihr und Poss hin und her. Ihm war klar, wozu der Dieb hier war, es sprach aus jeder seiner Bewegungen, seiner Blicke, und irgendetwas an diesem Gedanken war völlig verstörend, abstossend, falsch.

Marella sah seine Verwirrung und sie amüsierte sich köstlich darüber. Einen Schritt näher tretend streckte sie die Hand aus, legte sie an seine Wange und lächelte. „Und, Fal? Bist du hier, um zu bleiben? Ich hätte nichts dagegen einzuwenden."

Sie warf Poss einen Blick zu, aber noch bevor das Gesagt wirklich beim Dieb ankam, schüttelte Falrey bereits heftig den Kopf. Schaudernd schob er ihre Hand weg. Sie lachte nur

„Ich... ich gehe dann mal besser", stammelte er, während er rückwärts zur Tür zurückwich. Er trat hindurch und schloss sie, ohne auf eine Antwort zu warten. Mechanisch stieg er die Treppe hinunter, durchquerte den Schankraum und marschierte einfach drauf los. Erst als er sich fragte, wohin er eigentlich unterwegs war, hielt er inne.

Er hatte Marellas Bild noch immer vor sich, das Blitzen in ihren Augen, das Grinsen auf ihren Lippen, und unwillkürlich fragte er sich, ob Igrund so seine Mutter gesehen hatte. Es hätte einiges erklärt. Und sie war zwar keine Prostituierte gewesen, aber Schankmaid und zumindest Mishu zufolge war eine Frau immer doppelt so attraktiv, wenn sie Bier in den Händen hielt. Ohne es zu wollen, stellte er sich Marella vor in einer Schenke in Oxir, in einem anderen Kleid, zwei Humpen in der Hand...

Aber natürlich war seine Mutter damals viel jünger gewesen. Vermutlich war Marella ungefähr gleich alt, wie sie jetzt gewesen wäre, wäre sie nicht... Ausserdem hätte sie sich nie so... so verhalten. So gegrinst. So direkt... Bist du dir da wirklich sicher? Ja, verdammt, das war er. Sie war keine Hure gewesen! Das wusste er, dafür kannte er sie zu gut. Sie... sie wäre viel zu stolz dafür gewesen, zu sehr davon überzeugt, dass sie nach niemandes Pfeife tanzen würde, nur damit sie zufrieden waren.

Er spürte die Tränen über seine Wangen rinnen, stützte sich gegen eine Hauswand, liess sich daran entlang herunterrutschen, schlang die Arme um die Knie, während er weinte. Wieso tat es immer noch so weh? Würde es jemals aufhören? Wollte er das überhaupt? Er durfte sie doch nicht vergessen, war es ihr schuldig, sich zu erinnern, für alles, was sie für ihn getan hatte. Aber es tat so weh. Als würde ihm sein Herz zwischen den Rippen herausgerissen, jedes Mal neu. Warum? Warum, verdammt nochmal? Warum sie? Sie hätten doch nicht einmal bleiben müssen. Hätten gemeinsam gehen können, all die Arschlöcher hinter sich lassen. Dafür hätte sie doch nicht sterben müssen. Sie hätten zusammen hierher reisen können, oder irgendwohin. Er hätte eine Chance gehabt, sie wirklich kennen zu lernen, die Person, die sie war, jenseits ihrer Aufgabe als Mutter, anstatt nur Vermutungen anzustellen aufgrund verblassender Erinnerungen. Er hätte ihr zumindest noch einmal sagen können, wie grossartig sie war. Und ihr danken. Für alles.

Dir Stirn gegen seine Knie gepresst schluchzte er und es fühlte sich nicht an, als könnte er jemals wieder damit aufhören, denn der Schmerz, die Trauer, die Wut über all das, was hätte sein können und niemals würde, all das, was er für immer verpasst hatte, weil er so ein verdammter, blinder, selbstmitleidiger Idiot gewesen war, gingen nicht weg. Denn er konnte es nicht wieder gut machen. Es war unwiderruflich zu spät. Sie war tot. Sie würde nicht zurückkehren. Niemals.

Irgendwann versiegten die Tränen doch. Eine Weile lang sass er still da, schniefte, hing fest in der Leere, die in ihm zurückgeblieben war, aber schliesslich stand er wackelig auf, fragte sich, was er jetzt tun sollte. Ihm war klar, dass er es gerade überhaupt nicht ertragen würde, alleine zu sein und nachzudenken. Er brauchte Ablenkung. Damit blieb eigentlich nur eine Option, auch wenn er nicht vollständig glücklich damit war. Er wusch sein Gesicht an einem Brunnen in der Hoffnung, dass man die Tränen nicht mehr sehen würde, und machte sich auf den Weg zum Hopfentopf.

Bis er den Runden Platz erreichte, waren seine Gedanken wieder bei Poss und Marella angelangt. Irgendetwas verwirrte ihn an der Beziehung, irgendetwas schien ihm daran nicht richtig. Als würde einer den anderen ausnutzen. Aber er war sich nicht sicher, wer wen. Er versuchte, nicht daran zu denken, was die beiden vermutlich gerade taten, und schon gar nicht, was für ein Angebot Marella mit ihren letzten Worten angedeutet hatte. Obwohl er es irgendwie bereute, nicht auf Poss Gesichtsausdruck geachtet zu haben.

Er schlängelte sich zwischen den Leuten auf dem Platz hindurch und quetschte sich an einigen Typen, die sich ausgerechnet den Türrahmen als Standort für eine hitzige Diskussion ausgesucht hatten, vorbei in den Hopfentopf. Erleichtert stellte er fest, dass die Clique noch hier war, und zu seiner Überraschung sah er auch Jaz am Tisch sitzen. Er trat hinter ihn und wollte ihm zur Begrüssung auf die Schulter klopfen, aber Jaz hatte seine Hand abgefangen, noch bevor er ihn überhaupt berührte. Erst dann blickte er auf, liess ihn los und rutschte kommentarlos zur Seite, als wäre nichts geschehen. Falrey kletterte über die Bank, um sich neben ihn zu setzen, und unterdrückte ein Grinsen. Bei manchen von Jaz Reaktionen war er sich nicht sicher, ob sie eher beeindruckend oder unheimlich waren.

Mishu hatte ihm ein Bier bestellt, noch bevor er selbst dazu kam, und als die dunkelhaarige Schankmaid – ihr Name war Lelah, wenn sich Falrey richtig erinnerte – vorbeikam, um es zu bringen, bezahlte er es auch gleich, wobei er Falreys Protest ignorierte und Lelah ein breites und alles andere als unschuldiges Grinsen schenkte. Sie grinste zurück und klapste ihm auf den Hinterkopf, bevor sie die leeren Krüge einsammelte und wieder davoneilte. Falrey fragte sich, was heute eigentlich los war, bedankte sich aber bei Mishu und stiess mit ihm an.

Eine ganze Weile lang sass er nur da und hörte den anderen zu, ohne selbst etwas zur Unterhaltung beizusteuern. Ihm fiel auf, wie angetrunken einige von ihnen – allen voran Didi – schon waren und er fühlte sich deplatziert nüchtern, weshalb er Awas Gegenwart vermisste, der für einmal fehlte. Oder vielleicht war er auch bereits heimgegangen.

Dem ersten Bier folgte ein zweites und allmählich schwand das Gefühl, zusammen mit dem Kloss, der immer noch irgendwo in seinem Hals hing. Er beobachtete, wie Mishu mit Lelah schäkerte und kam zum Schluss, dass die Szene vermutlich wesentlich näher an Igrund und seiner Mutter lag als Marella und Poss. Der Gedanke erleichterte ihn, war aber auch seltsam, weil er nicht umhin kam, sich zu fragen, ob sein Vater vielleicht tatsächlich gewesen war wie Mishu, der jede Schankmaid anbaggerte, wenn sie ihm nur nahe genug kam. Dann fragte er sich, wie Mishu wohl reagieren würde, wenn irgendwann plötzlich ein Kind vor ihm stand und meinte: „Hey, falls du es noch nicht wusstest, du bist Vater eines Bastards. Und das wär dann ich."

Er lachte prustend vor sich hin, was ihm einen fragenden Blick von Sovi eintrug. „Was los?"

Falrey winkte ab. „Nichts sinnvolles", meinte er und trank einen Schluck aus seinem Krug.

Seb stand auf und machte sich daran, über die Bank zu klettern, was ihm einen entrüsteten Blick von Didi eintrug. „Setzt du dich jetzt schon wieder ab?!"

„Nein", entgegnete Seb grinsend. „Nur mal frische Luft schnappen und Platz machen für mehr Bier. Keine Sorge, heute hast du mich am Hals bis zum bitteren Ende."

„Ich komm mit", meinte Jaz und erhob sich ebenfalls, worauf sich auch Falrey anschloss. Allmählich wurde es stickig im Hopfentopf und frische Luft klang nach einer guten Idee.

„Aber nicht, dass ihr diesmal alle drei einfach nicht mehr auftaucht", meinte Sovi.

Jaz zeigte ihm eine rüde Geste.

Sovi lachte.

„Mir dir hab ich eh noch eine Rechnung offen", sagte Mishu und sah dabei Jaz an.

Der hob eine Augenbraue. „Ah ja, was?"

„Du hast behauptet, du könntest mich unter den Tisch trinken. Das ist eine Herausforderung. Ausser, du nimmst es zurück."

Jaz blickte zu seinem Krug hinüber. „Ich hab vergessen zu zählen, wie viele es schon waren." Man hörte ihm an, dass es einige gewesen sein mussten.

„Nicht heute", entgegnete Mishu. „Muss morgen arbeiten. Aber übermorgen hätt ich zum Beispiel nachher frei."

„Abgemacht", sagte Jaz ohne zu zögern. „Übermorgen."

Falrey schlug sich die Hand gegen die Stirn, was Seb laut lachen liess.

Sie drängten sich durch die Menge nach draussen und Seb verschwand in der nächsten schmalen Gasse, während Falrey und Jaz beim Eingang stehen blieben. Jaz zündete sich ein Schilf an.

„Wie war das nochmal mit nur Idioten denken, mehr Alkohol trinken zu können wäre ein Zeichen von Stärke?"

Jaz gab keinen Kommentar dazu ab, was Falrey dazu veranlasste noch einen drauf zu legen: „Hältst du das für eine gute Idee?"

Jaz zuckte mit den Schultern.

„Mishu ist wahrscheinlich etwa doppelt so schwer wie du und er säuft wie ein Loch. Du hast keine Chance gegen ihn."

„Wir werden sehen", meinte Jaz.

„Ja klar", sagte Falrey gereizt. „Und am Ende liegst du bewusstlos unter dem Tisch, und wie bringe ich dich dann nach Hause? Ich habe keine Lust, dich wegen so etwas bescheuertem durch die halbe Stadt zu tragen, ganz davon abgesehen, dass es scheisse gefährlich ist, weil du nie weisst, wem wir unterwegs..."

„Fal", unterbrach ihn Jaz. „Reg dich ab. Ich weiss, wie viel ich vertrage. Und ich werde mich sicher nicht irgendwo, wo es nicht sicher ist, komplett hinüber saufen. So hirnlos bin ich nicht."

Falrey schluckte den Rest seines Satzes hinunter.

Jaz zog an seinem Schilf. „Wenn es zu viel wird, geb ich einfach auf."

Falrey hob eine Augenbraue. „Kannst du das überhaupt? Aufgeben, meine ich."

Jaz lachte schnaubend, gab aber keine Antwort, da Seb zurückkam und sich zu ihnen gesellte. Er sah Jaz Schilf und nickte darauf. „Hast du mir auch eine?"

„Klar", meinte Jaz, kramte ein zweites hervor und reichte es Seb, der es an der Fackel neben dem Eingang anzündete.

Seb zog daran und blies den Rauch in die Luft, bevor er fragte: „Und sonst, läuft alles bei euch?"

„Man schlägt sich durch", gab Jaz schulterzuckend seine Standardantwort. „Bei dir?"

„Kann mich nicht beklagen."

„Dein Schätzchen nix dagegen, wenn du dir die Nächte mit Saufen um die Ohren schlägst?"

Seb lachte auf. „Taja? Meine Güte, die würde mir was geigen, wenn ich das nicht hin und wieder tun würde. Und stattdessen womöglich auch noch jeden Abend bei ihr auf der Matte stehen."

„Aber das läuft noch mit ihr?"

„Ja", grinste Seb. „Und wies aussieht, wird das auch bleiben. Erzähls nicht den anderen, ich hab Mishu noch nix gesagt und er killt mich, wenn er nicht der erste ist, ders erfährt, aber ich bin jetzt verlobt."

Jaz und Falrey hoben beide überrascht die Augenbrauen. „Sie gehört zu deinen Leuten?", fragte Jaz.

„Ja", antwortete Seb und zog an seinem Schilf. „War für mich jetzt nicht unbedingt so wichtig, aber ich schätze, es vereinfacht doch vieles."

Jaz nickte nur.

Falrey blickte verwirrt vom einen zum anderen, aber keiner fühlte sich bemüssigt, ihm zu erklären, was sie damit meinten. Stattdessen drückte Jaz sein Schilf aus und nickte auf die Tür. „Ich geh mal wieder rein."

Seb nahm noch einen Zug und folgte ihnen dann, als sie zum Rest zurückkehrten.

Wenig später brachen sie alle auf, ein Teil verabschiedete sich, während der harte Kern – bestehend aus Mishu, Sovi, Seb und Jaz – weiterzog in ein Saufhaus. Falrey schloss sich ihnen an. Er hätte ohnehin nicht gewusst, was er sonst tun sollte, denn er war noch lange nicht müde genug, um heimzugehen und schnell einzuschlafen, und der Gedanke wachzuliegen bereitete ihm Unbehagen.

Sie holten sich eine Runde Bier und stellen sich um einen Stehtisch. Sovi holte die Karten hervor, aber Jaz meinte, er spiele nicht mit, und auch Seb schüttelte den Kopf, weshalb er sie wieder wegsteckte, denn drei waren definitiv zu wenig. Mishu und Jaz diskutierten über verschiedene Sorten Brand. Seb lästerte mit Falrey als sporadisch kicherndem Zuhörer über die anderen Leute in der Schenke. Irgendein Betrunkener stolperte herbei und verwickelte Sovi in ein Gespräch, wobei Sovi eigentlich nicht zu Wort kam, sondern nur bemüht höflich dem zusammenhangslosen Gelasse zuhörte und je länger je verzweifeltere Rettet mich-Blicke herüberschickte. Seb erbarmte sich seiner und brachte den Typen unter irgendeinem Vorwand dazu, einen Tisch weiter zu wanken. Jaz und Sovi holten eine weitere Runde Bier für alle. Mishu liess sich des langen und breiten darüber aus, dass er neue Tuniken brauchte, weil bei seinen jetzigen alle Ärmel verschlissen waren. Seb erwähnte ziemlich beiläufig, dass er sich mit Taja verlobt hatte. Mishu fiel der Krug aus der Hand.

In einem Atemzug sah Falrey mehr durch seine Augen flackern, als er dem gutmütigen, aber nicht unbedingt tiefgründigen Bär jemals zugetraut hätte. Er freute sich für Seb. Aber da war auch Bitterkeit. Darüber, dass Seb glücklich war, während er selbst... Falrey stellte fest, dass er irgendwie nie davon ausgegangen war, hinter Mishus Gejammer darüber, kein Glück mit Frauen zu haben, könnte mehr stecken als der gelungene Versuch zur allgemeinen Unterhaltung beizutragen. Dass ihm das wirklich zusetzte. Offenbar hatte er sich damit zumindest teilweise geirrt. Mishu mochte ganz gut damit zurecht kommen, alleine zu sein, solange er sich in einer Runde bewegte, der es ähnlich erging, aber so ins Gesicht geklatscht zu bekommen, dass es mehr gab als das, war etwas anderes. Und er hatte Angst. Davor, seinen besten Freund zu verlieren. Plötzlich ganz alleine dazustehen, während alle anderen heirateten und Familien gründeten. Für einen Moment schien Mishu, der ruhige, gelassene Mishu, zerrissen zwischen dem Wunsch, Seb gratulierend auf die Schulter zu klopfen, und dem, ihm ins Gesicht zu schlagen und verzweifelt davonzulaufen.

Falrey fragte sich bereits, ob er in die Situation eingreifen sollte, um sie in die richtige Richtung zu kippen, aber schliesslich verzog sich Mishus Mund zu einem Grinsen. Er blickte hinunter auf die Scherben und die Bierpfütze am Boden, dann zurück zu Seb. „Scheisse Mann, damit hast du mich jetzt völlig erwischt. Ernsthaft?"

Seb nickte.

Mishu packte ihn ohne Vorwarnung an den Schultern, zog ihn in eine Umarmung und klopfte ihm auf den Rücken, dass Seb aufächzte und hastig versuchte seinen Krug auf dem Tisch abzustellen, bevor noch mehr zu Bruch ging.

Sie tranken eine weitere Runde, wobei Mishu meinte, dass sie darauf irgendwann noch ordentlich anstossen mussten, schliesslich machten sich die anderen auf den Heimweg, nur Jaz und Falrey blieben zurück. Einige Momente lang standen sie schweigend da, jeder einen Krug in der Hand, dann meinte Falrey: „Seltsam, wenn selbst die grössten Säufer gehen, weil sie ein geregeltes Leben haben, und man selber immer noch dasteht. Und nicht mehr weiss, was man mit sich anfangen soll."

Jaz lachte schnaubend und leerte seinen Krug. Falrey sah ihm an, dass er betrunken war. Allerdings war er selber auch nicht mehr nüchtern, sonst hätte er die Bemerkung niemals fallen gelassen. Auch wenn sie wahr war.

Jaz stellte seinen Krug auf dem Tisch ab und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. „Irgendeinen Vorschlag?"

„Was essen", meinte Falrey.

Jaz lachte.



Diesmal waren es dafür nur zwei Tage. Als könnte ich Text für mich behalten, wenn ich endlich mal wieder welchen hab.

Kleine Frage: am Anfang des letzten Kapitels habe ich ja eine Zusammenfassung der letzten Geschehnisse eingefügt. Würdet ihr es begrüssen, wenn ich so etwas öfters mache? Zb alle paar Kapitel, oder gar am Anfang jedes Kapitels (dann natürlich in kürzerer Form, mehr "wo sind wir gerade" als "was bisher geschah")?

Den Abschnitt mit Marella überlege ich mir übrigens wieder rauszustreichen, weil mir selber bewusst ist, dass er storytechnisch nicht viel bringt. Ich dachte nur, wenn ich die Szene eh schon geschrieben habe, kann ich sie euch auch gerade so gut zeigen.

Und ich entschuldige mich für die Kapitelüberschriften, mir gehen die brauchbaren Ideen aus.

lg Ro

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