The Bucket List

By applepie1912

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Ein ganzes Leben in 100 Tagen --- Jolina war ein niedliches, aufgewecktes Mädchen. Stets fröhlich. Stets lebe... More

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Prolog
Tag 100 // Tag 99
Tag 96 // Tag 95
Tag 94 // Tag 90
Tag 89 // Tag 88
Tag 87 // Tag 85
Tag 83 // Tag 82
Tag 81 // Tag 79
Tag 76 // Tag 74
Tag 73 // Tag 71
Tag 70 // Tag 69
Tag 67 // Tag 62
Tag 61 // Tag 60
Tag 58 // Tag 57
Tag 55 // Tag 54
Tag 53 // Tag 52
Tag 50 // Tag 49
Tag 48 // Tag 46
Tag 45 // Tag 44
Tag 39 // Tag 38
Tag 37 // Tag 36
Tag 35 // Tag 32
Tag 30 // Tag 29
Tag 27 // Tag 23
Tag 22 // Tag 21
Tag 18 // Tag 17
Tag 16 // Tag 15
Tag 12 // Tag 11
Tag 9 // Tag 7
Tag 4 // Tag 3 // Tag 2
Tag 0 // Epilog
Dank

Tag 43 // Tag 40

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By applepie1912

Tag 43

»Aufstehen!«, tönte Mum und riss die Vorhänge auf. »Heute wird ein schöner Tag.« Durch die offene Tür hörte ich die Musik aus dem Radio. Mein Dad werkelte in der Küche herum, vermutlich machte er Frühstück. Ich stöhnte und vergrub meinen Kopf in einem Kissen.

»Na los, Schatz. Ich erwarte dich in fünf Minuten unten am Tisch«, sagte Mum und gab mir einen Kuss auf den Kopf. Als sie ging, ließ sie die Tür offen, so dass ich weiterhin die Musik hörte. Es war grässliche Musik. Besonders weil mein Dad jetzt mitsang.

Aber meiner Mum war es wichtig, dass wir die letzten Tage nutzten, um als Familie komplett zu sein. Also stand ich auf und zog mich an. Manchmal störte es mich, dass ich als Sterbende meine Bedürfnisse nicht an erster Stelle stellen durfte. Hatte ich nicht ein Recht auf ein bisschen Egoismus? Dr. Della Bryson meinte, so würden sich alle Teenager fühlen.

Unten angekommen, nahm ich neben meinem Dad Platz. Er lächelte mich an und faltete seine Zeitung zusammen.

»Guten Morgen, Süße«, sagte er.

»Morgen, Dad«, murmelte ich. Mum schenkte ihm Kaffee ein und stellte mir einen Teller mit zwei kleinen Brotscheiben hin. Sie setzte sich und meine Eltern begannen zu essen. Ich dagegen starrte weiter auf das Brot. Mum bemerkte meinen Blick.

»Ich habe ein neues Rezept ausprobiert. Ich habe diesmal anderes Mehl benutzt. Ich habe in einem Forum gelesen, dass der Stoffwechsel besser damit zurechtkommt.« Plötzlich kribbelte es in meiner Nase und ich merkte, dass meine Augen feucht wurden.

»Danke«, brachte ich hervor und biss dann in das trockene Brot. Andere Eltern finanzierten ihren Kindern die Ausbildung oder kauften ihnen ein Instrument, damit sie sich musikalisch verwirklichen konnten. Meine Mutter backte mir Brot und machte sich im Internet schlau. Damit ich überhaupt essen konnte. Und dafür war ich ihr dankbar; ich brauchte nicht mehr.

»Ich hatte gedacht, dass wir heute vielleicht in die Stadt gehen könnten«, schlug Mum vor. »Wie wäre es mit einem Besuch im Kosmetiksalon?«

Ich nickte und schluckte. »Klingt gut.«

Nach dem Frühstück fuhren wir also in die Stadt in das Einkaufcenter. Wir ließen uns eine Maniküre machen. Mum wählte einen schönen Rosaton, während ich mich für ein dunkles Rot entschied. Dann ging Mum noch zum Friseur. Ich lehnte einen Friseurbesuch ab, ich mochte meine Haare so, wie sie waren. Aber es machte Spaß, Mum dabei zu zuschauen. Das letzte Jahr war anstrengend für sie gewesen, sie hatte diese Pause gebraucht.

Anschließend durchkämmten wir die Läden. Mum shoppte das dreifache von mir und die meiste Zeit verbrachte ich damit, vor der Kabine zu warten und ihre Outfits zu kommentieren. Schließlich setzten wir uns in ein kleines Café. Meine Mutter bestellte sich einen Kaffee. Während sie an der Schlange anstand, ließ ich meinen Blick schweifen. Zwei Tische weiter sah ich eine Familie sitzen. Die ältere Tochter war etwas jünger als ich. Sie zog meine Aufmerksamkeit auf sich, als sie begann, ihren Vater anzufahren. Er beruhigte sie, aber sie tobte wutentbrannt weiter.

»Mann, hab ich je so lange auf einen Kaffee gewartet?«, fragte Mum außer Atem und ließ sich neben mich plumpsen. Ich sah sie an.

»Was?«, fragte sie irritiert. Ich schüttelte den Kopf. Dann lächelte ich. Es gab eine Zeit, da war mir meine Mutter peinlich gewesen. Jetzt bin ich froh, Zeit mit ihr zu verbringen. Und ich schätze, das hat nichts mit meinem Tumor zu tun. Ich war einfach erwachsen geworden.

Als wir Zuhause ankamen, checkte ich mein Handy und sah, dass ich eine SMS von Nathalie hatte.

Chilli Milli Abend bei mir? Logan und Maya sind auch dabei. Kyle hab ich auch eingeladen ;) Wenn du nicht kommst, schleife ich dich höchstpersönlich aus dem Haus. In Liebe, Nat.

Ich musste grinsen. Und dann antwortete ich Nathalie, dass ich kommen würde. Ich sagte Mum Bescheid, dann stieg ich in meinen alten Wagen und fuhr los.

Bei Nathalie klingelte ich und wartete, bis mir jemand aufmachte. Nach einer kurzen Zeit öffnete mir Nathalie. Sie grinste mich aufgeregt an.

»In Liebe, Nat?«, kommentierte ich ihre Nachricht. Nathalie lachte ihr Lachen, bei dem ich mich sofort zu Hause fühlte. Dann zog sie mich in das Haus.

»Du bist viel zu früh«, meinte sie. »Aber dann kannst du mir ja wieder helfen.« Zusammen füllten wir Popcorn in große Schüsseln und stellten Bier kalt.

»Sag mal«, begann ich, als wir es uns auf der Couch gemütlich gemacht hatten und durch den Fernseher zappten, »wieso hast du mich damals auf dem Schulklo angesprochen?« Nathalie sah mich nicht an, aber sie antwortete mir trotzdem.

»Erst dachte ich, du wärst jemand anderes. Ein ganz normales Mädchen, dem es schlecht geht. Und irgendwie warst du das ja auch. Ich meine, klar du warst Jo - der freakige Todesengel höchstpersönlich - aber trotzdem. So wie du da auf dem Boden vor der stinkenden Toilette gesessen hast, da wollte ich nicht einfach wieder gehen.«

»Und warum bist du geblieben? Nach unserem Schulklo-Date meine ich.« Nathalie schwieg eine Weile.

»Ich war neugierig«, sagte sie schließlich. »Und irgendwie wusste ich, wie es dir ging. Ich weiß, wie es ist, anders zu sein. Von den anderen als komisch abgestempelt zu werden, nur weil man keine Blümchenkleider trägt und keine dämliche Boyband anhimmelt.«

»Ein Hoch auf die Rockmusik!«, rief ich und streckte meine Faust in die Luft. Nat lachte wieder.

»Amen, Schwester!« Dann schaltete sie den Fernseher wieder aus.

»Es läuft nur Schwachsinn«, beschwerte sie sich. Ich kicherte. Nathalie sah zu mir und zog eine Augenbraue hoch.

»Und warum bist du geblieben, grumpy cat?«, fragte sie ernst. Ich holte tief Luft.

»Du warst die Erste, die mich normal behandelt hat. Dir war egal, dass ich nie gegessen habe, oder nie lernte oder mich der Unterricht nicht interessierte. Dich hat es auch nie interessiert, warum ich so geworden bin. Außerdem braucht Logan moralische Unterstützung«, neckte ich sie. Nathalie sog empört die Luft ein.

»Ich fass es nicht, du schlägst dich auf seine Seite?«

»Nur heute!«, rief ich, ehe ich ein Sofakissen ins Gesicht bekam. Ich revanchierte mich und wir begannen uns mit Kissen zu prügeln. Vergessen waren der Fernseher und die Zeit. Wir hörten erst auf, als jemand Sturm klingelte. Nathalie ließ sich auf das Sofa fallen und atmete durch. Ich tat es ihr gleich. Dann hievte Nat ihren Allerwertesten hoch und lief zur Tür.

»Wenn du das noch mal machst, kastrier' ich dich«, drohte Nathalie.

»Jaja«, sagte Logan. »Laut dir hab ich doch eh keine Männlichkeit.« Logan rauschte mit Maya im Schlepptau an ihr vorbei und kam ins Wohnzimmer. Ich lugte über die Couch und sah, wie Nathalie ihm mit offenem Mund hinterher starrte. Kyle, der noch in der Tür stand, machte ein Nicht-schlecht-Kumpel-Gesicht.

Als seine blauen Augen meine trafen, spürte ich, wie mein Herz einen Satz machte. Ich lächelte ihn an. Er lächelte zurück.

Die Miniparty war ziemlich entspannt. Irgendwann bestellten wir Pizza. Der Pizzabote war ein Freund von Kyle. Da dies seine letzte Auslieferung war, blieb er bei uns. Logan rief seine Freunde an und nach einer Weile kamen auch noch ein paar Fußballspieler dazu. Anfangs war es komisch, als diese zwei Welten aufeinanderprallten. Nathalie, Logan und die anderen und Kyle und seine Freunde. Aber nach einer Weile verstanden sich alle ganz prächtig, wobei ich glaubte, dass das Bier dabei keine unwichtige Rolle spielte.

Da Nathalies Familie eine große Altbauwohnung besaß, gab es oben im Flur einen Balkon, der mitten zwischen den Dächern aufragte. Irgendwann verlagerte sich die Party etwas nach oben und ein paar standen auf dem Balkon, um zu rauchen. Ich stellte mich mit Logan dazu.

»Danke übrigens für deinen Einsatz gestern«, sagte Logan und sah mich aus seinen braunen Augen an. Ich lächelte und schlang die Arme um mich.

»Jederzeit wieder«, meinte ich und grinste.

»Ich werde dich vermissen, Jo«, kam es plötzlich von Logan. Ich sah ihn blinzelnd an. Er sah über die Dächer der anderen Häuser. Logan war kein Verfechter großer Gefühle, also stieß ich ihn spielerisch mit dem Ellenbogen an.

»Na klar, wie sollst du ohne mich mit Nathalie klarkommen?«

»Logan?«, ertönte plötzlich Kyles Stimme hinter uns. Ich fuhr erschrocken zusammen und Logan drehte sich um. »Darf ich hier übernehmen?« Logan nickte stirnrunzelnd und rauschte dann davon. Kyle trat neben mich auf den kleinen, nun leeren, Balkon. Schweigend sah er wie zuvor Logan in die Nacht hinaus. Ich nahm mir Zeit, um ihn zu betrachten.

»Nicht schlecht hier. Aber unser Dach ist besser«, sagte er und nickte bestätigend. Die Tatsache, dass er sein Dach als unser Dach bezeichnete, ließ mich lächeln. Wann war ich diesem Typen nur so verfallen? Kyle sah mich an und deutete dann auf zwei Stühle. Nachdem wir uns gesetzt hatten, gab er mir eine Decke, in die ich mich einhüllte.

»Ich werde Montag Mrs Dickinson meine beziehungsweise deine Charakterisierung geben«, erklärte ich ihm. Kyle zog die Augenbrauen hoch.

»Und was hast du hineingeschrieben?«

Dass er ein Arsch war. Zumindest auf den ersten Blick. Dass er cool tat und sich nur für sich interessierte. Aber dass er auch die Rettung sein konnte. Dass er eine kleine Schwester hatte, die alles für ihn war und dass er seiner Mum im Haushalt half, weil sie viel arbeitete. Dass sein Vater ihn als Fußballstar sah, Kyle aber noch keine Pläne für die Zukunft hatte, weil er nicht wusste, ob Fußball alles für ihn war. Dass er Probleme hatte, das seinem Vater zu sagen.

Ich hatte geschrieben, dass Kyle gut war und loyal. Dass er bis ans Ende der Welt für einen gehen würde. Dass er mir Kontra gab, aber auch Pro. Dass er mehr in der Welt sah als nur das, was sich vor unseren Augen abspielte. Dass er die Eisprinzessin bezwingen wollte und dass er das geschafft hatte. Dass er angeln konnte und gut Auto fuhr, auch wenn ich das ungern zugab. Dass ich ihn verändert hatte und Kyle hinter seiner Arschlochfassade im Grunde ein guter Freund war. Jemand, der für einen einstand. Dass er mir mit der Liste half, was - obwohl ich ihn erpresst hatte - selbstlos war. Dass er einer der besten Menschen war, die ich kennen lernen durfte und dass er mich verändert hatte. Zum Positiven. Dass ich froh war, dass Mrs Dickinson uns zu Partnern erklärte. Und dass ich mich in ihn verliebt hatte.

Ich sah Kyle an und lächelte. Was ich reingeschrieben hatte?

»Die Wahrheit.«

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Tag 40

Ich hatte mich immer darüber beklagt, dass meine Zeit zu schnell voranschreitet. Schon bevor ich den Tumor bekommen hatte, hatte ich immer das Gefühl, dass ich nie anhalten konnte, um mal durchzuatmen. Meine Tage zogen an mir vorbei, gefüllt mit dem immergleichen Alltag, der die Masse meiner Stunden zu einem Farbfilm verschwimmen ließ. Alltag ist nicht schlecht. Das Problem dabei: Es lassen sich nur schwer einzelne Bilder klar fokussieren.

Und so kam es, dass eine ganze Woche verging und ich nichts erreicht hatte, außer zwei Staffeln The Mentalist zu sehen.

Besonders schlimm war es, wenn ich nichts zu tun hatte. Und so war es auch jetzt wieder. Seit klar war, dass ich keinen Abschluss mehr machte, musste ich nicht mehr lernen. Als hätte ich das je getan. Mum und Dad waren unterwegs und meine Freunde waren mit ihren Schulnotizen beschäftigt. Also vegetierte ich vor mich hin und suchte mir eine neue Serie nach der anderen aus.

An diesem Dienstag wurde es Nathalie aber offenbar zu viel und sie schneite kurzerhand bei mir vorbei. Ich saß am Küchentisch und starrte auf mein Losersandwich, während sie Sturm klingelte. Kurzerhand stand sie bei uns im Flur.

»Euer Ersatzschlüssel ist erstaunlich leicht zu finden«, kommentierte sie abfällig und fläzte sich neben mich an den Tisch. Ich zuckte die Schultern.

»Was gibt es hier schon zu klauen? Meine tausend Tabletten und Mums Nähkästchen?« Ich sah Nat an und grinste. Sie rollte die Augen.

»Also, Jo, wir müssen einkaufen gehen. Und zwar irgendwo, wo es mehr Läden gibt als hier. Ich brauche mein Rockstarkleid für den Abschlussball. Und in dieser Stadt werde ich das nicht finden.« Um ihre Worte noch zu unterstreichen, schwang sie ihre Autoschlüssel um ihren Zeigefinger. Als ich von den sich drehenden Schlüsseln zu ihr hochblickte, wackelte sie mit den Augenbrauen.

»Gib mir zehn Minuten«, murmelte ich und stemmte mich hoch. Nathalie trottete mir hinterher, als ich mir eine Jeans anzog und meine Bluse wechselte.

»Kommt Logan auch mit?«, fragte ich und band meine Haare zurück. Ich nahm mir Schmerztabletten für den Weg mit und warf sie zusammen mit meinem Geldbeutel und meinem Handy in eine Tasche. Nathalie tippte auf ihrem Handy herum.

»Er schläft wohl noch. Zumindest hat er meine Nachricht noch nicht gelesen. Aber wir klingeln ihn einfach aus dem Bett.« Entschlossen marschierte Nat die Treppen herunter.

»Das ist aber gemein«, stellte ich fest. Nathalie grinste mich über die Schulter schelmisch an.

»Ich könnte ihn auch wach singen.« Punkt für Nathalie.

Nachdem wir Logan wach bekommen hatten, waren wir zu dritt auf den Weg in eine drei Stunden entfernte Stadt. Und ab da ging es los. Nathalie hechtete durch die Einkaufsläden von Stange zu Stange. Logan und ich trugen ihre ausgesuchten Kleider. Dann bewertete ich die Fummel in angezogenem Zustand, währen Logan die ehrenvolle Aufgabe hatte, die abgelehnten Klamotten zurückzubringen oder in einer anderen Größe zu holen.

»Nein. Nein. Zu Grün. Zu groß. Was ist das bitte für ein Schnitt? Nein. Nein. Ih, kariert. Nein. Nein. Wieder nein.« Logan neben mir gähnte und ließ den Kopf nach hinten fallen. Auch ich stützte mich auf meinen Knien ab. Mittlerweile waren wir schon Stunden unterwegs und Nathalie war immer noch nicht fündig geworden.

»Dann geh halt einfach nackt!«, brüllte plötzlich Logan neben mir, als Nat schon wieder ein Kleid über die Kabinentür warf. Ich fing an zu lachen, verstummte aber, als Nathalie angezogen vor uns auftauchte und uns böse anfunkelte.

»Wir gehen erst, wenn ich mein perfektes Kleid gefunden habe!« Wütend stemmte sie die Hände in die Hüften. Logan sprang auf, nicht minder wütend.

»Es gibt nicht das perfekte Kleid. Und genau deshalb findest du nichts. Du malst dir in deiner Vorstellung ein supercooles Kleid aus, aber das wirst du so nirgends im Laden finden. Du musst bei der Sache ohne Vorstellungen ran gehen. Hör auf, explizit nach etwas zu suchen, und probier einfach alles an, was dir zwischen die Finger kommt. Und das erste Kleid, in dem du dir gefällst, ist dein perfektes Kleid.«

Nat schnaubte und marschierte auf die Kassen zu. Ohne Kleid. Logan und ich sahen uns an und zuckten die Schultern. Wir liefen ihr hinterher in einen anderen Laden. Kurz blieb Nat stehen und sah sich um. Dann nahm sie zielstrebig drei Kleider und lief, ohne uns eines Blickes zu würdigen, in die Umkleidekabine.

Als sie kurze Zeit später herauskam, trug sie ein bordeauxfarbenes Cocktailkleid, was gut mit ihren schwarzen Haaren harmonierte. Sie lehnte sich lässig gegen den Türrahmen und verschränkte die Arme vor der Brust. Damit sah wie wirklich aus wie ein Rockstar.

»Und?«, fragte sie provokant, eine Augenbraue hochgezogen. Logan und ich gaben synchron Daumen hoch.

Auf dem Rückweg fuhr Logan, während Nathalie auf dem Rücksitz schlief. Das Radio spielte leise und ich starrte stumm aus dem Fenster.

»Maya geht mit mir zum Abschlussball«, sagte da Logan. Ich drehte meinen Kopf und sah ihn an.

»Das ist schön«, meinte ich und lächelte. Er nickte.

»Gehst du mit Kyle hin?«, fragte er.

Ich zuckte die Schultern. »Das weiß ich noch nicht.«

»Aber du würdest gern, oder?«, fragte er und sah kurz zu mir herüber. Ich sah durch die Windschutzscheibe nach vorn.

»Ja«, flüsterte ich. »Ich mag ihn sehr gern.«

»Das verdient er auch.« Als ich ihn nur verständnislos ansah, lachte er kurz auf und erklärte dann: »Du bist eine außergewöhnliche Person, Jo. Du bist für deine Freunde da und hast mehr vom Leben verstanden als wir alle zusammen. Du hast kapiert, worum es hier wirklich geht. Du hast ein großes Herz und ich bin froh, dass wir befreundet sind. Und deshalb könnte ich es natürlich nicht mit ansehen, wenn ein Vollidiot mit dir abhängt.

Versteh mich nicht falsch. Ich habe Kyle immer für einen hirnlosen Idioten gehalten. Für jemanden, der sich die Hände nicht schmutzig macht und dem ohnehin alles zufliegt. Aber das ist er nicht. Er arbeitet hart und er ist ein guter Mensch. Ich habe gesehen, wie er sich um dich sorgt und wie er dich ansieht. Du lässt ihn nicht kalt. Und er verdient es, dass er dich haben kann. Weil er dir in diesem letzten Lebensabschnitt etwas geben kann. Etwas, was weder Nathalie oder ich dir geben können.«

»Und was?«

Logan sah zu mir herüber. »Liebe.« Darauf schwiegen wir wieder eine Weile. Bis ich diesmal die Stille unterbrach.

»Ich glaube, ich habe mich in ihn verliebt«, gestand ich. Logan schnaubte.

»Das brauchst du nicht zu glauben. Du weißt es.«

»Hä?«, machte ich. Logan lachte leise und verdrehte die Augen.

»Es ist ein Fluch der Menschheit, dass alle die Liebe zwischen zwei Menschen erkennen, außer die Liebenden selbst«, meinte er und klang dabei so poetisch, dass ich verblüfft die Augenbrauen hochzog. Logan sah mich noch einmal an.

»Du solltest es ihm sagen. Wer weiß, wie viel Zeit dir noch bleibt.« Ich schluckte schwer. Er hatte Recht. Und als würde Logan den Kloß in meinem Hals spüren, streckte er seinen rechten Arm nach hinten und schlug Nathalie drei Mal heftig auf den Oberschenkel.

»Aufwachen!«, rief er und drehte die Musik auf. Dann begann er zu singen und erntete böse Blicke von einer verschlafenen Nathalie. Ich lachte und sang mit. Und in diesem Moment war ich voller Entschlossenheit. Ich würde es Kyle sagen. Bei Nathalie und Logan zu sein, war wie einen Neustart zu beginnen. Die Gedanken zu ordnen und alles aus einer anderen Perspektive zu sehen. Sie waren mein Anker.

Ich hatte immer geglaubt, der Tod sei meine Konstante im Leben. Denn dass ich bald sterben würde, war klar. Das stand sicher fest. Es ist unveränderlich. Aber als ich meine Freunde musterte, wurde mir klar, dass etwas Totes und Unlebendiges keine Konstante sein konnte. Das war nichts, an dem man sich festhalten konnte oder das einen erdete. Ich dachte an Nathalie und Logan. Und Kyle. Diese Menschen gaben mir ein Gefühl von Sicherheit. Sie holten mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Zum ersten Mal verstand ich, wieso es hieß, ein Zuhause sei ein Gefühl und kein Ort.

Das Zuhause ist deine Konstante.


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