Jaz ersparte sich die Antwort darauf und schlug einen Weg ein, der sie auf die breite Strasse führte, vorbei an Schuhmachern und Korbflechtern. Falrey schloss zu ihm auf. „Weisst du, wo man Farbe bekommt?"
„Was für Farbe", fragte Jaz.
„Naja, zum Malen", erwiderte Falrey.
„Fassaden oder was?"
„Nein, Bilder", erklärte Falrey.
Jaz zuckte mit den Schultern. „Irgendwo am Inneren Ring wahrscheinlich. Vielleicht auch im Westviertel, wieso?"
„Reicht die Zeit noch, um da vorbeizugehen?"
Jaz warf einen prüfenden Blick zum Himmel und nickte. „Wieso?"
„Weil ich welche kaufen möchte."
„Wieso?"
„Geht dich nichts an."
„Willst du die Kleine vom Badehaus damit beeindrucken?"
Falrey warf Jaz einen misstrauischen Blick zu. „Woher weisst du das?"
„War wild geraten, um dich zu nerven", meinte Jaz. „Willst du ihr zeigen, wie du den Pinsel schwingst?"
„Sie malt selber. Ich schenke ihr die Farben nur."
„Du bist echt zweideutigkeitsresistent, oder?"
„Idiot." Falrey vergrub die Hände in den Westentaschen und versuchte Jaz Grinsen zu ignorieren.
Sie folgten der Una-Speiche in Richtung Pfeiler und schlenderten dann dem Ring entlang, aber es dauerte eine ganze Weile, bis sie ein Geschäft fanden, das aussah, als würde es das Gesuchte anbieten. Jaz blieb draussen stehen und zündete sich ein Schilf an, also trat Falrey alleine ein.
Der Laden war klein, in den Regalen reihten sich würfelförmige Töpfe verschiedener Grössen zwischen Schilfpapierbögen, Pinseln, Federkielen und Tintenfässern, in einer Ecke lagen Säcke, auf denen sich feiner, weisser Dunst festgesetzt hatte, vor der anderen stand quer eine kleine Theke, hinter der ein Mann mit halblangen, blonden Haaren sass und mit dem Blick einer träge herumsurrenden Fliege folgte. Ohne Falrey zu beachten, griff er langsam nach einer Lederklatsche. Die Fliege landete auf einem Regal und als hätte ihn jemand in den hintern gestochen, schnellte der Mann vor und erledigte sie mit einem lauten Knall. Triumphierend pickte er seine Beute von der klatsche und warf sie in einen Eimer unter seinem Tisch, dann lächelte er Falrey an. „Entschuldige, aber das Vieh hat mich schon den ganzen Tag genervt. Kann ich dir helfen?"
„Ich suche Farben", antwortete Falrey.
Der Händler legte die Klatsche beiseite und setzte sich wieder. „Was für eine Art von Farbe?"
„Hm, zum Malen", meinte Falrey und deutete vage eine Pinselbewegung an. „Also Bilder."
Der Mann lächelte. „Auf was für ein Material? Leinen? Verputz? Ton?"
„Ehm...", Falrey kratzte sich ratlos am Kopf.
„Ist es für ein Wandbild?", half ihm der Mann. „Oder für Töpferware, die danach noch gebrannt wird?"
Falrey schüttelte den Kopf. „Ich schätze, Schilfpapier, Holz, so etwas."
Der Mann nickte und stand auf. „In dem Falle empfehle ich dir diese Pigmente hier." Er nahm einen der Töpfe vom Regal, öffnete ihn und hielt ihn Falrey unter die Nase. Ein tiefrotes Pulver befand sich darin. „Die kannst du mit Öl und Wasser anmischen, oder auch als Tempera, was dir besser liegt."
Falrey nickte. Den Begriff Tempera hatte er schon gehört, auch wenn er nicht wirklich wusste, was es bedeutete.
„Was für Farbtöne möchtest du?"
Falrey dachte nach. Mit einer einzelnen Farbe konnte man nicht wirklich malen, nur zeichnen. Die Frage war, wie viele brauchte man zum malen? „Was kosten sie denn?", fragte er vorsichtig.
„Sehr unterschiedlich", antwortete der Mann. „Der Preis hängt davon ab, was für Rohstoffe und Arbeitsschritte nötig sind, um das Pigment herzustellen. Russschwarz und Kalkweiss zum Beispiel sind sehr günstig, dasselbe gilt für Erdtöne. Ungebrannten Ocker verschiedener Sorten kann ich dir für einen Falber die hundert Gramm geben. Andere Pigmente, wie Ultramarin, sind bis zu zwanzig Mal so teuer, weil sie von weit her stammen und aus seltenen Rohstoffen hergestellt werden, im Falle von Ultramarin aus Lapislazuli."
Er deutete auf verschiedene Töpfe, während er sprach und hielt Falrey zwei davon unter die Nase, bevor er sie wieder zurückstellte. „Sag mir, was du für Farben möchtest, und ich kann dir die verschiedenen Möglichkeiten aufzeigen."
Falrey dachte nach. „Also auf jeden Fall brauche ich Blau. Schwarz wäre sicher auch nicht schlecht, und weiss."
Der Händler nickte, musterte ihn kurz, vermutlich um seine Kaufkraft abzuschätzen und zog dann zwei verschiedene Töpfe hervor, stellte sie auf den Tisch, öffnete sie und legte die Deckel, auf deren Unterseite jeweils ein farbiges Stück Stoff klebte, umgedreht daneben. „Das hier ist Indigo", erklärte er und deutete auf den einen Topf, dessen Farbprobe ein tiefes Dunkelblau an der Schwelle zum Violett zeigte. „Es entsteht bei der Vergärung der Färberwaid. Das andere ist Smalte, auch Kobaltblau genannt. Man stellt es hier, indem man blau gefärbtes Glas zerreibt." Die Farbe im zweiten Topf war etwas heller und sie wirkte leuchtender und irgendwie... vielfältiger als das Indigo. „Beide Pigmente fallen nicht in das ganz günstige Preissegment, sind aber zahlbar, und für ein schönes Blau findet sich schlicht nichts unter drei, vier Falbern."
„Das gefällt mir besser", meinte Falrey und deutete auf das Pigment, welches der Händler als Smalte bezeichnet hatte.
Der Händler nickte und verschloss das Indigo wieder. „Wieviel möchtest du davon?", fragte er und zog auf Falreys ratlosen Blick hin ein Tütchen hervor, das aus gefaltetem Papier zu bestehen schien. Farbproben und hin gekritzelte Textzeilen auf der Aussenseite deuteten darauf hin, dass es sich dabei nicht um seinen ersten Verwendungszweck handelte. „In so ein Briefchen passen etwa fünfzig Gramm", erklärte der Mann. „Das reicht, solange du nicht nur mit Blau malst, eine ganze Weile."
„Dann nehme ich das", meinte Falrey nickend und der Händler füllte mit einem Schäufelchen Pigmente in das Tütchen, bis sein Inhalt die Gewichte auf der anderen Seite der Waage ausglich, dann faltete er es gekonnt zusammen, so dass die Öffnung fest verschlossen war. Falrey entschied sich ausserdem für weiss, wovon er zwei Briefchen nahm, schwarz, einen hellen rohen und einen gebrannten Ocker, der ein leuchtendes Orangerot ergab.
Als er den Laden verliess, die Tütchen sicher in der Westentasche, konnte er Jaz zuerst nirgends entdecken. Erst nachdem zwei Karren vorübergerumpelt waren, sah er ihn auf der anderen Strassenseite stehen, vor der Auslage eines Ladens mit Flachmännern und ähnlichen aufwendigen Metallwaren. Sich durch die Leute hindurchschlängelnd schloss er zu ihm auf und Jaz stellte das Gefäss, das er gerade betrachtet hatte, hin, um sich zum Gehen zu wenden. Falreys Blick blieb jedoch an einem anderen Objekt hängen. Es war eine kleine, runde Box mit teilweise verglastem Deckel und einem Scharnier. Eine Windrose aus feinen Metallstäben teilte das Glas.
Vorsichtig hob Falrey das Kästchen hoch und liess es aufschnappen. Auch das Innere zierte eine Windrose, wesentlich detaillierter und in Farbe, mit Symbolen und feinen Skalen beschriftet, und darüber hing eine metallene Nadel frei drehbar auf einem Dorn.
Jaz beugte sich herüber, um einen Blick darauf zu werfen. „Was ist das?"
„Ein Kompass", erwiderte Falrey. „Normalerweise zeigt er, wo Norden ist, aber irgendwie..." Er tippte gegen das Gehäuse und schüttelte es leicht, aber die Nadel hörte nicht auf, wild hin und her zu tanzen und sich im Kreis zu drehen. „Also eigentlich sollte das Ding sich so einpendeln, dass die Nadel nach Norden zeigt."
„Vielleicht kaputt", meinte Jaz schulterzuckend.
„Vielleicht", erwiderte Falrey, verschloss den Kompass wieder und legte ihn zurück. Sie liessen den Stand hinter sich und verliessen den Ring in Richtung Nordwesten.
„Hier in Niramun gibt es auch Minen, oder?", fragte Falrey nach einer Weile.
Jaz nickte.
„Wo sind die?"
„Von den Hochöfen aus gesehen noch weiter nach Westen und den Kraterrand entlang nach Süden."
„Was wird abgebaut?"
„Eisen und Kohle", erwiderte Jaz. „Kupfer auch, glaube ich, Gold, ein paar andere Sachen. Vor allem Eisen."
„So vieles?", meinte Falrey überrascht. Er war immer davon ausgegangen, dass man an einem Ort nur ein, maximal zwei verschiedene Materialien abbauen konnte.
Jaz zuckte mit den Schultern.
„Kannst du sie mir mal zeigen?"
Jaz nickte. „Aber nicht heute. Zeit reicht nicht mehr."
„Klar."
„Wann hast du frei?", fragte Jaz.
„Morgen", antwortete Falrey.
„Hm, hab ich zu tun", meinte Jaz.
„Beobachten?"
„Nein, aber muss an paar Orten vorbei."
Falrey sah ihn an. „Soll ich mitkommen?"
„Deine Entscheidung."
Falrey nickte knapp.
Jaz zündete sich ein Schilf an. „Und, triffst du heute noch dein Herzchen?"
Falrey verkniff es sich, auf den Spott einzugehen. „Nein. Erst morgen wieder."
Jaz grinste leicht. „Gut. Wärst nämlich jetzt zu spät."
Falrey schnaubte. „Als würde es dich interessieren."
„Naja, deine Investitionen sollen ja auch zu was führen", meinte Jaz und zog am Schilf. „Was hast du für das Farbzeug gezahlt?"
„Das geht dich nichts an", erwiderte Falrey genervt. „Und es ist keine Investition. Ich will ihr etwas schenken, um ihr eine Freude zu machen."
Jaz hob eine Augenbraue. „Ganz ohne Hintergedanken?"
„Ja! Sie malt gerne, aber hat kein Geld für Farben. Ich habe im Moment Geld, also warum nicht ihr etwas schenken, was sie brauchen kann?" Er sah Jaz an. „Es würde mich auch interessieren, mal ihre Bilder zu sehen."
„Weil dich die Bilder interessieren?"
„Teilweise. Vor allem weil sie mich interessiert."
Falrey sah Jaz Grinsen und ihm wurde klar, dass er ihn falsch verstanden hatte. Natürlich absichtlich. Und vermutlich nur um ihn zu ärgern. Es regte ihn trotzdem auf. Wütend kickte er nach Jaz Schienbein und fand sich prompt im Strassendreck wieder, weil Jaz ihm das Standbein weggetreten hatte.
Jaz grinste und lief davon. Fluchend und ohne auf die Blicke der umstehenden Leute zu achten sprang Falrey auf und rannte ihm hinterher. Die Verfolgung erwies sich als einfacher als nachts auf den Dächern, trotzdem war es der reinste Hindernislauf, sich in der Menge zu bewegen, ohne alle zwei Schritte jemanden umzurempeln oder unter einen Karren zu geraten, zudem legte Jaz ein ordentliches Tempo vor. Falrey schlug Haken, schlitterte um Ecken und quetschte sich durch die schmalsten Lücken, aber es gelang ihm einfach nicht, ihn einzuholen, und als sie schliesslich die Steingasse erreichten, war er so ausser Puste, dass er nur noch zu einem halbherzigen Faustschlag ansetzte.
Jaz wehrte den Schlag mühelos ab, aber es schien ihm nicht viel besser zu gehen. Halb japsend, halb lachend liess er sich gegen die Haustüre fallen und offenbar hatte er nicht damit gerechnet, dass sie nur angelehnt war, denn er fiel rücklings in den Flur. Falrey bekam einen Lachanfall und musste sich am Türrahmen abstützen, um nicht zusammenzuklappen, weil er so endgültig nicht mehr genügend Luft bekam.
Emila, der Jaz beinahe auf die Füsse gerollt war, musterte sie erst befremdet, dann misstrauisch. „Seid ihr betrunken oder was?"
Falrey schüttelte den Kopf und Jaz kam schnell auf die Füsse. „Nein." Mit einem Zucken um den Mundwinkel fügte er hinzu. „Noch nicht."
Emila warf ihm einen strafenden Blick zu. „Also, kommt ihr rein oder bleibt ihr draussen? Ich würde gerne die Türe schliessen."
Sie entschieden sich für ersteres und Jaz ging nach oben, während Emila Holz auflegte und den Topf darüber hängte. „Mögt ihr noch etwas zu essen?", fragte sie, als er wieder heruntergekommen war, und mit Blick auf Falrey: „Du musst bald los, oder?"
Falrey nickte. „Ja, gerne!"
Jaz antwortete nicht, dennoch holte Emila drei Teller hervor und füllte sie mit Eintopf. Falrey begann sofort zu essen, denn erstens hatte er Hunger und zweitens vermutlich tatsächlich nicht allzu viel Zeit, wenn er rechtzeitig im Liliths sein wollte. Auch Emila ass einige Löffel, hielt aber inne, als Jaz keinerlei Anstalten machte, sich an den Tisch zu setzen.
„Das ist für dich", meinte sie und deutete auf den dritten Teller, in dem Jaruks und Bohnen vor sich hin dampften.
„Ich hab nicht gesagt, dass ich will", antwortete Jaz neutral.
Emila blieb freundlich. „Du solltest trotzdem etwas essen."
„Ich hab keinen Hunger."
„Es würde dir aber gut tun."
Falrey spürte, wie die Stimmung im Raum sank und es verblüffte ihn einmal mehr, wie Jaz, der sich kaum jemals einen Gedanken anmerken liess, das Grundgefühl einer Gruppe oder eines Ortes dermassen schlagartig und massiv verändern konnte, als würde die Luft selbst seine Laune aufnehmen und ein Teil davon werden. Seine Stimme blieb kühl. „Ich will nichts, Ela."
Sie wandte sich zu ihm um. „Jaz, komm schon. Du hast seit Ewigkeiten nichts Anständiges gegessen."
„Das weisst du überhaupt nicht."
„Ich sehe es dir an!"
Sie starrten sich an.
„Tu mir den Gefallen."
Jaz gab keine Antwort und blickte in die andere Richtung.
Mit einem Seufzen stand Emila auf und nahm den Löffel in Jaz Teller. „Muss ich dich füttern?"
„Ela!"
Sie ignorierte die unausgesprochene Warnung, füllte den Löffel und trat damit auf ihn zu. „Probier es wenigstens."
„Ela, lass das!"
„Nein, ich lass das nicht!", entgegnete Emila. „Nicht, bevor du etwas gegessen hast."
Jaz wich zurück, als hielte sie eine Waffe in den Händen. „Hör auf damit!", zischte er in einem Tonfall, dass Falrey den Kopf einzog.
Emila liess sich nicht beirren. „Iss!"
„Nein!"
„Doch!" Sie trat auf ihn zu, bis er mit dem Rücken gegen die Wand stiess und führte den Löffel auf sein Gesicht zu.
„Ela, lass das! Ich will nicht..."
„Iss."
„Hör auf!"
Es war ein so merkwürdiger Anblick, dass Falrey vergass zu essen. Jaz stand mit dem Rücken zu Wand, den Kopf zurückgelehnt, um dem Löffel zu entgehen, und Emila vor ihm. Sie reichte ihm kaum bis ans Kinn und trotzdem bestimmte sie alles in diesem Moment. Jaz Gesicht war eine Maske, aber seine Haltung, seine Bewegungen waren die eines in die Ecke gedrängten Tieres, spiegelten die Art von auswegloser Panik, die sogar eine Maus dazu brachte, die Katze anzugreifen, sein Blick war starr auf den unaufhörlich näher kommenden Löffel gerichtet. „Ela, hör auf... hör auf, bitte! Hör... RATA!!"
Das letzte Wort war beinahe gebrüllt, und es hätte keinen verheerenderen Effekt auf Emila haben können. Sie zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen. Mit einem Klirren fiel der Löffel zu Boden und sein Inhalt verteilte sich über den Stein. Sie begann zu zittern und instinktiv sprang Falrey auf, um sie festzuhalten, sollte sie plötzlich umkippen, aber sie wich nur zurück, einen Schritt, zwei Schritte, und liess sich auf die Bank sinken.
Jaz lief davon und schlug die Türe hinter sich zu.