Niramun II - Mörder und Basta...

By RoReRaven

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Falrey hat das Vertrauen in Jaz verloren. Mit dem Job als Aufpasser im Liliths kann er sich über Wasser halte... More

Kapitel 1 - Veränderungen
Kapitel 2 - Poss, der Finder
Kapitel 3 - Antworten
Kapitel 4 - Leb wohl, Emila
Kapitel 6 - Saufhäuser nach Vitar
Kapitel 7 - Brennender Zorn
Kapitel 8 - Erinnerung
Kapitel 9 - Ich bitte dich
Kapitel 10 - Eine Ausnahme
Kapitel 11 - Heimkehr
Kapitel 12 - Jeder Kampf ist echt, wenn du alleine stehst
Kapitel 13 - Regeln
Kapitel 14 - Masochisten und andere Verrückte
Kapitel 15 - Neue Chancen
Kapitel 16 - Von Menschen und Wölfen
Kapitel 17 - Wo warst du?!
Kapitel 18 - Seniah
Kapitel 19 - Die Kinder des Mondes
Kapitel 20 - Träume und Hoffnungen
Kapitel 21 - Das Arbeiterviertel
Kapitel 22 - Rata!
Kapitel 23 - Bilder
Kapitel 24 - Tersavell
Kapitel 25 - Falle
Kapitel 26 - Maskeraden
Kapitel 27 - Warum kann es nicht mal gut laufen?
Kapitel 28 - Die Felder
Kapitel 29 - Der Fluss
Kapitel 30 - Suratis
Kapitel 31 - Geh nie nach Süden
Kapitel 32 - Die Kinder des Surs
Kapitel 33 - Totenfeuer
Kapitel 34 - Einfach wäre ja langweilig
Kapitel 35 - Silberdiebe
Kapitel 36 - Süss
Kapitel 37 - Bauer oder Jäger
Kapitel 38 - Nur ein Märchen
Kapitel 39 - Der Held der Huren
Kapitel 40 - Nicht fair
Kapitel 41 - Wind und Leere
Kapitel 42 - Inayenda mit den Goldaugen
Kapitel 43 - Winterwolf
Kapitel 44 - Davonlaufen
Kapitel 45 - Limit und Nuaril
Kapitel 46 - Der halbe Eber
Kapitel 47 - Geschwister
Kapitel 48 - Aussenseiter
Kapitel 49 - Einbrecher
Kapitel 50 - Familie
Kapitel 51 - Nicht mehr zwölf
Kapitel 52 - Mesche
Kapitel 53 - Der Geruch von Erde
Kapitel 54 - Die Hochöfen
Kapitel 55 - Diebe und Räuber
Kapitel 56 - Die Konsequenzen von Fehlern
Kapitel 57 - Auf der Suche
Kapitel 58 - Freiheit
Kapitel 59 - Zukunftspläne
Kapitel 60 - Jemanden zu mögen
Kapitel 61 - Unter Freunden
Kapitel 62 - Aufgeben
Kapitel 63 - Ein bisschen Abenteuer
Kapitel 64 - Durras Geschichte
Kapitel 65 - Ernst zu nehmen
Kapitel 66 - Tintenflecken
Kapitel 67 - Verflucht
Kapitel 68 - Heldenmut
Kapitel 69 - Die Verletzlichkeit der Guten
Kapitel 70 - Djora
Kapitel 71 - Erzählen
Kapitel 72 - Déjà-vu
Kapitel 73 - Vissuri
Kapitel 74 - Das Richtige zu tun
Kapitel 75 - Gerechter Zorn
Kapitel 76 - Narben der Vergangenheit
Kapitel 77 - Der wahre Kern des Märchens
Kapitel 78 - Jaz' Stärke
Kapitel 79 - Kaputt
Kapitel 80 - Der Wert von Fortschritt
Kapitel 81 - Blut und Tränen
Kapitel 82 - Fragen und Versprechen
Kapitel 83 - Ein Antrag
Kapitel 84 - Jemand wie du
Kapitel 85 - Ein Kind Yainils
Kapitel 86 - Warten und Beobachten
Kapitel 87 - Am Fenster
Kapitel 88 - Selbstlos
Kapitel 89 - Eine Drohung
Kapitel 90 - Eine Antwort
Kapitel 91 - Nein
Kapitel 92 - Seniah
Kapitel 93 - Arschlöcher
Kapitel 94 - Am Brunnen
Kapitel 95 - Ich bleibe
Kapitel 96 - Suppe
Kapitel 97 - Jäger und Gejagte
Kapitel 98 - Krieg
Kapitel 99 - Feigling
Kapitel 100 - Loyal
Kapitel 101 - Schmerz
Kapitel 102 - Was bleibt
Hinweis und Stuff

Kapitel 5 - Menschen

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By RoReRaven


Sie folgte ihm nicht, rief ihm nicht hinterher, um zu fragen, was zur Hölle er damit sagen wollte, was es bedeutete, oder um ihn am Ende sogar zu bitten zu bleiben. Ein Teil von ihm bedauerte es. Aber ein Teil war auch froh. Er wollte nicht weiter darüber reden. Es fühlte sich jetzt schon an, als hätte er zu viel gesagt, Geister der Vergangenheit geweckt, die man besser schlafen liess. Er fragte sich, warum er es überhaupt erzählt hatte. Und ob er damit irgendetwas bewirkte. Würde sie es überdenken und ihr Handeln ändern? Würde sie es nur ignorieren und mitsamt ihm auf die Liste der Dinge setzen, die zu vergessen waren? Er war sich sicher, dass es ihr zumindest in Bezug auf ihn nicht wirklich schwer fallen dürfte. Hatte er überhaupt wirklich verstanden, oder sich am Ende nur wieder einmal in etwas verrannt und alles, was er gesagt hatte, war in Emilas Augen nur totaler Blödsinn?

Es braucht dich nicht mehr zu interessieren, flüsterte er sich zu. Es ist egal. Es betrifft dich nicht mehr, so oder so. Das war einfach gedacht, aber es zu verinnerlichen, wirklich daran zu glauben, war etwas ganz anderes. Du hast nur die Wahrheit gesagt. Was sie damit tut, ist ihre Entscheidung. Und die muss dich nicht mehr kümmern. Er würde nichts mehr mit ihr zu tun haben.

Und mit diesem Gedanken kam die Angst, die er bisher erfolgreich verdrängt hatte. Konnte er wirklich alleine Leben? Kam er über die Runden? Was wenn er die Stelle bei Jelerik irgendwann verlor, oder wenn etwas passierte, wenn er verletzt wurde?

Du schaffst das!, fuhr er sich an, um die aufsteigende Panik niederzuringen. Irgendwie schaffst du das. Irgendwie wirst du dich über Wasser halten, egal was kommt. Er mochte schwach sein und eine Heulsuse, die zu schnell aufgab, aber er hatte es auch geschafft nach Niramun zu kommen. Er hatte es geschafft, weil er es sich zum Ziel gesetzt hatte. Überleben war auch ein Ziel. Und er hatte zumindest den Vorteil, dass es nur wenige Leute gab, die irgendein Interesse daran hatten, ihm zu schaden. Er mochte keine Freunde haben. Aber er hatte auch keine wirklichen Feinde.

Tief durchatmend und sich zur Ruhe zwingend verliess er das Quartier und machte sich auf den Weg in Richtung Nordosten. Schnell spürte er, wie lange er nicht mehr barfuss gelaufen war. Die dicken Stiefelsohlen hatten seine Füsse aus der Übung kommen lassen, sie empfindlich gemacht, er spürte jeden Kieselstein als unangenehmen Stich und der rauhe Staub fühlte sich an, als würde er ihm die Haut wegraspeln, ganz davon zu schweigen, dass er saukalt war. Weichei, murmelte die Stimme in seinen Gedanken. Er streckte ihr die Zunge heraus und marschierte weiter.

Er hatte nicht vor, direkt zum Liliths zu gehen, es war noch viel zu früh, er wollte nicht womöglich noch jemanden wecken, wenn er anklopfte, und schon gar kein Aufsehen erregen. Der Plan war einfach etwas früher als sonst dort aufzutauchen, seine Sachen hinauf ins Zimmer zu stellen, sich umzuziehen und mit der Arbeit zu beginnen, als hätte sich nichts geändert. Die Mädchen würden ohnehin merken, dass er jetzt im Haus wohnte, er brauchte es ihnen nicht lautstark zu verkünden.

Sein Weg führte ihn halb zufällig durch den mittleren Le und in den Min. Auf einem Mäuerchen entlang der Speiche setzte er sich eine Weile hin um seine kalten Füsse in der Sonne zu wärmen und beobachtete die vorbeigehenden Leute. Es war ein buntes Gemisch aus allen Klassen, Berufen, Altersstufen, Frauen, Männer, Händler, Handwerker, Tagelöhner. Falrey folgte ihnen mit den Augen, musterte sie, ihre Kleidung, ihre Gesichter, ihre Art zu gehen und sich zu bewegen, Splitter eines Spiegels, der ihre Persönlichkeit zeigte, wenn man vermochte ihn zusammenzusetzen, Fragmente, die einen Blick auf Details erhaschen liessen, manche leicht zu erkennen, andere völlig unsinnig ohne den Kontext, aber niemals das gesamte Bild. Leben marschierten an ihm vorbei, jedes ein eigenes Schicksal, eine eigene Geschichte von Geburt bis Tod, die niederzuschreiben eine ganze Wand von Büchern hätte füllen können.

Vor seinem inneren Auge reihten sich die Wände zu Legionen, einer Bibliothek, die kein Ende nahm. Kein Mensch konnte jemals all diese Bücher lesen, nicht einmal die einer einzigen Wand, er konnte nur leben und seine eigenen Bücher weiter füllen, und alles, was er sah aus den Bänden der anderen, waren einzelne Seiten, Zeilen, an denen unsichtbare Federn immer weiter schrieben und schrieben, in jedem Atemzug, jedem Herzschlag, jedem Augenblick, bis sich der letzte Deckel schloss und an seinen Platz zwischen den anderen geschoben wurde, um dann auf alle Ewigkeit nicht mehr angerührt zu werden. Vergessenes Archivmaterial, ein Werk, das im Moment seiner Vollendung jede Relevanz verlor, weil in jedem Lidschlag mehr neues geschrieben wurde, als jemand in einem Leben lesen konnte.

Der Gedanke überwältigte seine Vorstellungskraft, schob sie an die unsichtbare Grenze dessen, was man begreifen konnte, an einen Strand, an den der Ozean der Unendlichkeit brandete, unfassbar, aber von einer solchen Gewalt, dass einem seine blosse Nähe den Atem raubte und den Boden unter den Füssen wegzog, als würde der Geist für einen Augenblick aus dem Gefüge der Realität herausgerissen auf eine höhere, sternendurchtoste Ebene. Und gleichzeitig begriff er: egal, wie sehr man versuchte, die Hintergründe eines Menschen, seine mögliche Vergangenheit in das eigene Urteil über ihn einzubeziehen, man wurde ihm niemals gerecht. Alles, was man sah, waren immer nur Zeilen und Splitter, denn um das Leben eines Menschen zu erfassen, hätte es eines Lebens bedurft.

Gratuliere, bemerkte eine Stimme in seinem Hinterkopf. Du hast soeben einen weiteren grundlegenden Aspekt deines Weltverständnisses zu Grabe getragen. Denn wenn man gar nicht erfassen konnte, wer ein Mensch war, wie sollte man ihn dann jemals einteilen, einschätzen, jemals wissen, woran man wirklich war? Was machte all das Beobachten noch für einen Sinn? Wie konnte man lernen, wenn es keine Regeln gab, keine Muster, wie... wie sollte man die Welt verstehen, wenn sie Chaos war?! Er hätte am liebsten den Kopf irgendwo gegen eine Wand geschlagen.

Die Erlösung aus diesem Gedankenstrudel kam aus unerwarteter Richtung: sein Magen unterbrach ihn mit lautstarkem Knurren. Automatisch stand er auf und fing nach etwas zu Essen Ausschau zu halten, erst auf den zweiten oder dritten Gedanken erinnerte er sich, dass er vor gar nicht allzu langer Zeit erst Frühstück gehabt hatte, und das nicht zu knapp. Er konnte eigentlich noch gar nicht wieder Hunger haben. Aber offenbar war seine Verdauung da anderer Meinung und er wusste, dass es keinen Sinn hatte, mit ihr zu diskutieren, denn ihre Argumente waren zwar alles andere als hochstehend, aber dafür sehr effektiv. Ausserdem, wenn er Hunger hatte, hatte er eben Hunger und es gab eigentlich auch keinen rationalen Grund nichts zu essen, oder?

Das erste, worüber er stolperte, war eine Bäckerei, und er kaufte sich kurzerhand einen Laib frischgebackenes Brot. Genüsslich Stücke von dem noch warmen, kompakten Klumpen abreissend und sich in den Mund stopfend, schlenderte er weiter, hinüber in den Het und der Speiche entlang nach Norden. Nachdem er über die Hälfte verdrückt hatte, beschloss er, dass jetzt genug war, und verstaute den Rest im Rucksack, bevor er an einem Brunnen Halt machte, um seine Wasserflasche zu füllen. Die Sonne näherte sich bereits dem westlichen Kraterrand und so schlug er wieder den Weg in Richtung Le ein, denn nach wie vor war es unangenehm kalt ohne Schuhe an den Füssen und sobald es dunkel wurde, würde die Temperatur noch einmal um ein gutes Stück sinken.

Allmählich begann er das Gewicht des Rucksacks zu spüren, vor allem an den Schultern, wo die Träger einschnitten, aber es hatte nichts von der drückenden Schwere, die auf der Reise damals jeden seiner Schritte hatte träge werden lassen. Er fragte sich, ob es daran lag, dass er stärker geworden war, durch das Training mit Jaz, oder ob mehr dahinter steckte. Ob das Gewicht vielleicht am Ende immer mehr in seinem Kopf gewesen war, weil er etwas mit sich trug, das man nicht sehen konnte. Und jetzt, hast du es abgelegt?

Nein, gab er sich selbst die Antwort. Es fällt mir nur leichter, nicht daran zu denken. Für einen Augenblick fragte er sich, ob er im Endeffekt wirklich besser war als Emila oder Misty. Ja, sagte er sich dann. Er tat niemandem weh damit. Und ich Lüge nicht. Er... er hatte nichts vergessen, es war alles noch da. Es war nur nicht immer da.

Er schob den Gedanken aus seinem Kopf und konzentrierte sich auf den Strassenstaub vor seinen Füssen und die Verzweigungen, die er nehmen musste, um zu Jeleriks Bordell zu gelangen.

Er war zu früh dort, aber nicht so viel, dass es sich gelohnt hätte noch eine Runde zu drehen, und so klopfte er an. Muyma öffnete ihm, liess ihn ein und drückte ihm einen Schlüssel in die Hand, der auf der Küchenablage gelegen hatte. Ihm entging nicht, dass sie ihn dabei musterte, oder eher seine Kleidung. Waldjunge?, hörte er Jaz spöttische Stimme, auch wenn er nichts von seiner Abfälligkeit im Blick der Köchin sah. Er nahm den Schlüssel und stieg die Treppe hinauf.

Die Kammer war genauso klein und kahl, wie er sie in Erinnerung hatte, nur dass jetzt eine Matratze an der linken Wand lag, darauf, säuberlich gefaltet, seine Arbeitskleidung. Er liess seinen Rucksack neben der Matratze zu Boden fallen, durchquerte den Raum und öffnete den Fensterladen. Der Blick, der sich ihm bot, war unspektakulär, denn das Zimmer lag an der Seite des Hauses, über der schmalen Seitengasse, in der sich der Kücheneingang befand, aber wenn er den Kopf etwas hinausstreckte, konnte er auf den Platz an der Front und den Brunnen in der Mitte sehen.

Vorsichtig, um nicht irgendwo anzustossen, zog er den Kopf zurück, kehrte zurück zur Tür und schloss sie, bevor er sich auf die Matratze fallen liess und den Rucksack heranzog. Das erste, was ihm entgegen kam, als er ihn öffnete, war das Brot und automatisch riss er ein Stück davon ab und steckte es sich in den Mund, dann tastete er weiter auf der Suche nach den Kerzenstummeln, die irgendwo nach unten gerutscht sein mussten. Eine Lampe wäre praktischer gewesen, aber nur für das Licht um schlafen zu gehen reichten die Stummel vorläufig, wenn er sie in der Nähe der Türe deponierte, wo er sie auch fand.

Schliesslich schlossen sich seine Finger um etwas Wachsiges, das die richtige Form hatte und er zog sie heraus und warf sie an die Wand neben dem Eingang, sodass sie am Boden davor liegen blieben. Als er sich zurück zum Rucksack wandte, um auch die Decke herauszuziehen, blieb sein Blick an dem hängen, was zuoberst lag: Jaz Dolch. Das rote Leder schimmerte wie Blut, das Metall von Parier und Klinge glänzte im schwächer werdenden Licht, das durch das Fenster hereinfiel, die Schneide so scharf, dass sie von Auge kaum erkennbar war, und plötzlich war die Angst zurück und umklammerte Falreys Kehle mit kaltem Griff. Die Angst, einen Fehler gemacht zu haben, zu versagen. Was wusste er denn schon davon, wie man überlebte? Da waren immer andere gewesen, die seine Entscheidungen getroffen hatten, seine Mutter, Erwachsene, Jaz, der ihm sagte, wann er zu warten oder zu rennen hatte. Woher sollte er wissen, wann er was tun musste? Wie an alles denken? Er hatte es schon im Wald nicht gekonnt, wie sollte er hier?

Auf der Reise hast du es auch geschafft. Das stimmte, aber... er wusste nicht, woran es lag, aber die Reise, Liti Mer, Satrach, zweieinhalb Monate auf der Strasse... es schien ihm so fern wie aus einem Traum. Als wäre es eine andere Person gewesen, die gelaufen war, eine Person, die gewisse Erinnerungen mit ihm teilte, aber die nicht er war, eine Person, die seinen Platz eingenommen hatte und ihn getragen, und die irgendwann wieder verschwunden war und nur einige Bilder als Erinnerung zurückgelassen hatte, Geräusche, Fakten, keine Erklärungen oder Gedanken. Er fragte sich, wann er zu sich selbst zurückgekehrt war und warum. Er hatte es nicht bemerkt. Aber er hatte auch nie wirklich bemerkt, dass er fort gewesen war.

Tatsache war nur, dass er dort gewusst hatte, wie man Entscheidungen traf, Pläne machte, und jetzt wusste er es nicht mehr. Jetzt war alles nur noch ein Chaos. Es wird wieder besser werden, versuchte er sich einzureden. Es wird vorbeigehen. Du musst dich nur solange über Wasser halten, und dann funktioniert es wieder. Du kannst das.

Einen Moment lang streckte er die Hand aus, um nach dem Dolch zu greifen, aber einem Impuls folgend stand er auf und zog sich aus, um sich dann die dunklen Arbeitskleider überzustreifen. Du kannst das. Er nahm den Dolch in die eine Hand, das Brot in die andere und rutschte auf der Matratze nach hinten, bis er mit dem Rücken an die Wand stiess.

Allmählich wurde es dunkel im Zimmer, aber das Licht reichte noch immer, um sich in der Klinge zu fangen und sie aufleuchten zu lassen, wenn er sie drehte. Er würde es schaffen. Jaz hatte ihm eine Menge beigebracht, vielleicht mehr, als ihm bewusst gewesen war. Zu kämpfen, zu töten, ja, aber auch schlicht wie man überlebte. Falrey wusste, dass er niemals jemanden umbringen wollte, aber es tat gut, die Wahl zu haben. Er wollte Menschen nicht einschüchtern oder bedrohen, aber es war viel wert, es zu können, wenn es nötig war, zu wissen, wie man sich geben musste, damit die Leute einen ernst nahmen, selbst wenn man an sich selber zweifelte. Jaz hatte ihm das beigebracht, schlicht dadurch, dass er war, wie er war. Er hatte ihm die Spielregeln gezeigt. Und er hatte ihm den Dolch überlassen.

Falrey fragte sich warum. Weil du ihn brauchst, hatte er gesagt. Aber er hätte sich doch auch selber einen kaufen können. Hättest du es getan?

Nein, gestand er sich selbst ein. Es hätte ihm trotz allem zu sehr widerstrebt Geld auszugeben für die Möglichkeit jemanden zu töten. Manchmal hatte er das Gefühl, dass Jaz ihn besser kannte, als er selbst.

Er steckte den Dolch in die Tasche an seiner Hüfte, lehnte sich zurück und ass den Rest des Brotes.


Er träumte in dieser Nacht. Merkwürdigerweise war ihm bewusst, dass es ein Traum war, zumindest die meiste Zeit über, trotzdem wachte er nicht auf, und die Bilder und Geschehnisse waren aussergewöhnlich klar und zusammenhängend, fast mehr eine Erinnerung.

Er stand in Renards Lagerhaus, oder zumindest wusste er, dass es Renards Lagerhaus war, auch wenn es vielleicht ganz anders aussah als in Wirklichkeit. Er achtete ohnehin nicht gross auf die Umgebung, auch nicht auf die Toten, die irgendwo am Rande lagen, denn er suchte Jaz. Nicht, weil er Angst um ihn hatte, er wusste dass sie den Kampf gewonnen hatten, aber er wollte ihm etwas sagen, und der Gedanke daran erfüllte ihn mit angesichts der Umstände fast absurder Vorfreude.

Da war der Korridor, in dem Kreon stand, die offenen Türen auf der linken Seite. Kreon bemerkte ihn und grinste spöttisch, dann trat Jaz aus der Tür, in der Hand einen Dolch. Seine Hände waren blutig rot und über die Schwelle zu seinen Füssen kroch es wie dickflüssige, purpurne Finger, leckte um seine Stiefel und kroch daran empor, als wollte es sich an ihm festklammern, ihn zurückhalten und nie mehr loslassen, blutgefärbt für den Rest seines Lebens. Für einen Augenblick bekam Falrey Angst, aber sie verschwand so schnell wieder, wie sie gekommen war und er lief auf Jaz zu, Kreons immer breiter werdendes Grinsen ignorierend, bis Jaz sich umdrehte und ihn ansah.

Binnen eines Herzschlages war er bei ihm und stiess ihn zurück. „Geh!", schrie er ihn an, das Gesicht verzerrt vor Angst und Zorn. „Geh weg!"

Falrey stolperte rückwärts, aber er war weder erschrocken noch wütend, er hatte damit gerechnet. Keine Angst, Jaz, ich weiss es.

„Geh!"

Ich weiss es längst.

Er wusste es, weil er durch die Wand sah, in den Raum, aus dem das Blut quoll. Er sah eine Frau, gegen eine blutverspritzte Wand geschlagen und daran entlang zu Boden gerutscht, Blut über ihrer Brust, ihrem Kleid, ihren Händen, zu ihren Füssen zwei Kinder. Er sah sie genau. Sie waren noch klein, drei Jahre alt, vier vielleicht, die dunklen Haare blutverklebt, die weiche Haut blass wie Schnee.

Er versuchte Jaz Hand zu fassen. Ich weiss es, Jaz, es ist in Ordnung.

„Du weisst gar nichts!", schrie Jaz und stiess ihn rückwärts über die Kante.

Er wehrte sich nicht, und während er fiel, sah er die Tränen auf Jaz Wangen. Sie waren rot wie Blut.

Er erwachte keuchend, seine Hände so nass dass er für einen Moment lang dachte, das Blut aus seinem Traum wäre Realität geworden, dann wurde ihm klar, dass es Schweiss sein musste. Es war kühl im Raum, aber Decke und Hose klebten praktisch an ihm. Er setzte sich auf und für einen Augenblick war er völlig desorientiert, dann erinnerte er sich, wo er war und die Verwirrung wich dem Gefühl, an einem Ort zu sein, an den er nicht gehörte.

Er lehnte sich gegen die Wand und schauderte am ganzen Körper, denn sie war eiskalt, trotzdem blieb er so, die Bilder des Traumes noch farbig, so nah und intensiv, dass er sie fast schmecken konnte, den Rauch der Fackeln, den metallischen Geruch, der alles überdeckte, das Gefühl, das sie hinterlassen hatten so heftig wie ein Schlag in den Magen. Nicht Angst, nicht Ablehnung, sondern Bedauern und etwas, das er nur als Schuld bezeichnen konnte. Wieso zum Teufel Schuld?! Das machte keinen Sinn. Nicht bei dieser Erinnerung. Er hatte die Kinder nicht umgebracht, hatte nicht einmal gewusst, dass so etwas passieren würde.

Die Szene schob sich vor seine Augen, wie sie dalagen, und er fragte sich, warum sein Kopf ein so detailliertes Bild davon zustande brachte. Er hatte niemals tote Kinder in diesem Alter gesehen, geschweige denn die Renards, wusste weder wie alt sie wirklich gewesen waren, noch ihre Haarfarbe, aber da waren sie, und seltsamerweise schockierte ihn der Anblick nicht halb so sehr, wie er erwartet hatte.

Ich weiss es doch längst.

Und dann fing er an zu heulen, ohne Vorwarnung, das Schluchzen in seiner Kehle aus dem Nichts hervorgeblubbert, die Tränen da, als hätten sie nur darauf gewartet. Er war sich nicht einmal sicher, worüber er weinte, aber es tat gut, auf eine merkwürdige, schmerzhafte Art, wie wenn ein ausgekugeltes Gelenk an seinen Platz zurücksprang.

Als er sich irgendwann beruhigte, bemerkte er, dass unter dem Fensterladen ein schmaler Streifen Licht hindurchdrang, kaum mehr als ein Hauch, ein zartes, feines blaugrau, wie es nur ein anbrechender Tag zustande brachte. Die Decke um sich wickelnd stand er auf, trat hinüber und schob den Laden zur Seite. Es war dämmrig, die Sonne noch nicht aufgegangen, aber er hörte Vögel zwitschern und der Himmel über den Dächern begann sich rosa zu verfärben. Ein schöner Tag, wisperte eine Stimme in seinem Kopf.

Jeder Tag ist schön, wisperte er zurück. Manchmal sehen wir es nur nicht.

Er stand lange dort und sah zu, wie der Himmel heller und heller wurde und die ersten Sonnenstrahlen begannen über die Stadt zu kriechen und die Dachkante gegenüber golden zu färben. Als er schliesslich zurück zu seinem Bett ging, liess er das Fenster offen, und während draussen die Stadt allmählich erwachte, trug ihn die Müdigkeit zurück in den Schlaf.

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