The Bucket List

By applepie1912

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Ein ganzes Leben in 100 Tagen --- Jolina war ein niedliches, aufgewecktes Mädchen. Stets fröhlich. Stets lebe... More

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Prolog
Tag 100 // Tag 99
Tag 96 // Tag 95
Tag 94 // Tag 90
Tag 89 // Tag 88
Tag 83 // Tag 82
Tag 81 // Tag 79
Tag 76 // Tag 74
Tag 73 // Tag 71
Tag 70 // Tag 69
Tag 67 // Tag 62
Tag 61 // Tag 60
Tag 58 // Tag 57
Tag 55 // Tag 54
Tag 53 // Tag 52
Tag 50 // Tag 49
Tag 48 // Tag 46
Tag 45 // Tag 44
Tag 43 // Tag 40
Tag 39 // Tag 38
Tag 37 // Tag 36
Tag 35 // Tag 32
Tag 30 // Tag 29
Tag 27 // Tag 23
Tag 22 // Tag 21
Tag 18 // Tag 17
Tag 16 // Tag 15
Tag 12 // Tag 11
Tag 9 // Tag 7
Tag 4 // Tag 3 // Tag 2
Tag 0 // Epilog
Dank

Tag 87 // Tag 85

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By applepie1912

Tag 87

Der beste Zeitpunkt ist immer jetzt. Wer das gesagt hat, weiß ich nicht, aber es stimmte. Mein Leben war mittlerweile zu kurz, um ernsthaft als Leben bezeichnet werden zu können.

Als ich nach dem Essen nach Hause kam, kotzte ich es wieder aus und besänftigte meinen mäkeligen Magen mit etwas stillem Wasser. Die besorgten Blicke meiner Mutter tat ich mit einem entschuldigten Lächeln ab. Mein Dad saß am Esstisch und las die Zeitung, weil er dafür am Morgen keine Zeit mehr gefunden hatte. Auch sein Blick sah nicht gerade wie eine Reise nach Disneyland aus. Ich ignorierte ihre Blicke und flüchtete nach oben in mein Zimmer. Mortem wartete dort auf mich. Er saß auf meinem Schreibtischstuhl und drehte sich um die eigene Achse.

»Wie war dein Date?«, fragte er.

»Es war kein Date«, meinte ich abfällig und schmiss meine Jacke in die Ecke.

»Wenn du es sagst«, erwiderte er und schmunzelte, während er sich weiter um sich selbst drehte. Ich ignorierte ihn und stellte mich vor den Spiegel. Mein Gesicht war eingefallen und meine Augen lagen tief in den Höhlen. Mortem hörte auf, sich zu drehen, und beobachtete mich. Ich begegnete seinem Blick im Spiegel und fasste einen Entschluss.

»Drei Monate«, sagte ich und nickte einmal bestätigend. »Mir bleiben noch drei Monate, die die besten meines Lebens werden sollen.« Ich wandte mich zu Mortem um und stemmte meine Hände in die Hüften. »Und du wirst mich nicht daran hindern.«

»Ich hindere dich an gar nichts, Jo. Ich bin einfach nur da.«

Entschlossen zog ich mir am nächsten Morgen die Jacke über und stapfte zum Auto. Ich würde leben und ich würde jede Minute auskosten. Und ich war zu ehrgeizig, um mich dem Tod kampflos zu ergeben. Nur dass der Kampf mein Leben sein würde.

In der Schule marschierte ich schnurstracks auf Kyle zu, der sich mit einem Freund unterhielt.

»Du. Mitkommen!«, forderte ich und rauschte zwischen die beiden. Kyle sah mich irritiert an.

»Was willst du denn jetzt?«, fragte er und zog wütend die Augenbrauen zusammen. Ich lächelte gefährlich.

»Es tut mir wirklich leid, euer absolut unintelligentes Gespräch zu unterbrechen, aber ich denke, der Bedarf an minderbemittelten Themen dürfte auch nach dem Training noch gedeckt sein.« Dann zerrte ich Kyle in den nächstbesten Raum. Der Computerraum, der zum Glück unabgeschlossen und leer war.

»Bist du komplett bescheuert?«, zischte Kyle, aber ich ignorierte ihn und kam gleich zur Sache.

»Wenn dir deine Note lieb ist, dann wirst du dir jetzt anhören, was ich zu sagen habe«, warnte ich ihn und sah Kyle herausfordernd an. Er biss die Zähne zusammen und warf mir einen bösen Blick nach dem anderen zu. Ich lächelte.

»Schön.« Kyle bedeutete mir, fortzufahren.

»Du wirst mir helfen, all die Dinge zu tun, die ich tun will, bevor ich-«, sterbe, »-zwanzig werde.« Ich schluckte. »Und im Gegenzug garantiere ich dir eine Topnote im Kreativen Schreiben.« Kyle sah mich an, als wäre ich geisteskrank.

»Ist das dein Ernst?«, fragte er und lachte im nächsten Moment. Ich dagegen verschränkte die Arme und warf ihm meinen besten bösen Blick zu, den ich von Zoey gelernt hatte. Abwartend zog ich die Augenbrauen hoch. Kyle verschluckte sich und sah mich erschrocken an.

»Ich werde nicht Babysitter für dich spielen«, stellte er klar und schüttelte ablehnend den Kopf. Als er Anstalten machte, zu gehen, stellte ich mich ihm in den Weg.

»Wenn du mir nicht hilfst, dann werde ich dafür sorgen, dass du im Kreativen Schreiben durchfällst. Dann wird dir selbst dein kleines Sportstipendium nichts nützen«, drohte ich und streckte demonstrativ das Kinn in die Höhe. Kyle schnaubte.

»Du bist so ein Biest«, stieß er hervor und schüttelte den Kopf.

Ich grinste. »Ja, aber auch das mit höherem IQ als du.« Dann öffnete ich die Tür. Im Rahmen hielt ich inne und drehte mich noch einmal um. »Danke für deine Hilfe, Kyle Thompson.« Provokant klopfte ich zwei Mal gegen den Türrahmen, zwinkerte ihm einmal zu und rauschte dann davon.

Die Stunden bis zu Mittagspause verbrachte ich damit, über einer Liste zu hocken und Ziele aufzuschreiben, die ich noch erreichen wollte. Nebenbei ließ ich meinen Blick schweifen und suchte mir Anregungen bei meinen Mitschülern.

Zu meinem Entsetzen stellte ich fest, dass es keinen gab, dessen Leben auch nur halb so interessant war, wie mein Leben es noch werden sollte. Es war mir zwar bewusst, dass ich nie einen Nobelpreis bekommen oder ein cooler Rockstar werden würde, aber all diese Teenager scherten sich so sehr um ihre Zukunft, dass sie ihre Gegenwart vergaßen.

Die Streber büffelten für den besten Notendurchschnitt, die Sportler trainierten für ein Sportstipendium und die Cheerleader überlegten sich die nächste Intrige, mit der sie die Ballkönigin wurden. Und zwischen all dem Lernen und Trainieren und intriganten Lügengeschichten kümmerte sich keiner um die Gegenwart. Um das wirklich Wichtige im Leben.

Vielleicht war ich dazu verdammt, jung zu sterben, aber ich wollte wenigstens etwas, für das es sich zu sterben lohnte. Und vielleicht war es eben dieses Wunschdenken, was mich in den Tod riss.

Das Klingeln erschreckte mich und ich zuckte auf meinem Stuhl zusammen. Schnell schnappte ich mir mein Zeug und machte mich auf der Suche nach Nathalie.

Im Flur entdeckte ich sie und lief los, um sie aufzuhalten. Schüler sprangen mir aus dem Weg und Beleidigungen wurden mir hinterhergerufen, aber es war mir gleich. Jetzt zählten nur Nathalies kurzes Haar und ihre rotweiß gestreifte Jacke.

»Nathalie!«, rief ich und klammerte mich im nächsten Moment an ihren Arm. »Nathalie.«

»Jo«, nuschelte sie völlig perplex, doch dann wurde sie wieder wütend. »Was soll das? Ich hab doch gesagt, du sollst mir aus dem Weg gehen!«

»Es tut mir leid!«, rief ich und zog sie beiseite. »Wirklich! Es ist nur so, dass ich Leute nicht gern zu mir nach Hause einlade. Es gibt da was in meinem Leben, das ich dir nicht sagen kann.« Ich biss mir auf die Lippe. Nathalie entwand sich aus meinem Griff und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ich mag dich, Jo, ehrlich. Aber ich hasse es, wenn man mich abschiebt, als wäre ich ranzige Milch. Ich bin mehr wert als das.«

»Das weiß ich, Nathalie!«, beteuerte ich. Dann biss ich mir auf die Lippe. »Aber du hast mich überrumpelt. Die meisten Menschen wollen Ehrlichkeit, aber können mit ihr nicht umgehen. Und ich war nicht bereit, dir zu sagen, dass ich einfach keinen Besuch möchte.« Nathalie nickte kurz, dann holte sie tief Luft und sah mir ernst ins Gesicht.

»Okay, dann merk dir eins, Jo. Ich bin nicht wie die meisten Menschen. Ich vertrage Ehrlichkeit. Also wenn du noch einmal so eine miese Nummer abziehst, dann verfrachte ich dich auf das nächste Schiff nach Shanghai, klar?«, fauchte sie, aber ich lächelte schon wieder. Dann fiel ich ihr vor lauter Übermut um den Hals. Nathalie verdrehte die Augen, erwiderte die Umarmung jedoch.

»Aber dafür bezahlst du mein Essen«, murmelte sie und ich grinste.

»Wenn ihr was tun könntet, was ihr schon immer tun wolltet, was würde das sein?«, fragte ich Nathalie und Logan, als wir in der Mensa am Tisch saßen. Nathalie überlegte.

»Ich würde in Hawaii surfen gehen.«

»Wie langweilig!«, fiel Logan ein. »Ich würde im Orient was richtig Ausgefallenes essen. Wer kann schon von sich behaupten, dass er einen Oktopus gegessen hat?« Nathalie lachte.

»Ich will Fallschirmspringen«, sagte ich und stützte meinen Kopf auf meine Hand. »Dieses Gefühl der Schwerelosigkeit muss unbeschreiblich sein.«

»Oder verhaftet werden«, warf Nathalie ein.

»Was hat das jetzt damit zu tun?«, fragte Logan und runzelte sie Stirn.

»Na ja, das wäre bestimmt auch unbeschreiblich«, grinste Nathalie.

Gemeinsam liefen wir aus der Cafeteria zu unseren nächsten Stunden. Nathalie und Logan verabschiedeten sich und ich stiefelte beschwingt zu meinem Fach mit Kyle.

Er saß wieder auf dem Platz neben meinem und ich ging zielstrebig auf ihn zu. Als ich mich auf meinen Stuhl plumpsen ließ, sah er mich an.

»Na, schon Ideen für deine dämliche Bucket List?«, fragte er abschätzig. Wortlos schob ich ihm meinen Zettel zu. Während Mrs Dickinson den Unterricht begann, überflog er meine Stichpunkte. Dann sah er mich skeptisch an.

»Du hast zu viele Filme gesehen«, meinte er.

Mir schlief das Gesicht ein. »Wie meinst du das?«

»Nur die Hälfte aller Jugendlichen erlebt auch nur irgendwas auf dieser Liste. Und das nur, weil sie höchstwahrscheinlich mit Drogen dealen«, entgegnete er und schüttelte den Kopf. »Im Ernst, Jo. Ich meine, Fallschirm springen? Nachts baden gehen? Verhaftet werden?«

»Na und? Dann werde ich eben diejenige sein, die alles zusammen erlebt«, fauchte ich zurück.

»Das ist doch lächerlich. Wieso willst du alles jetzt auf einmal?«

»Weil ich nichts erlebt habe, Kyle«, flüsterte ich, als Mrs Dickinson uns einen strengen Blick zuwarf. »Weil ich nicht gelebt habe. Wenn ich jetzt sterben würde, einfach so, was hätte ich dann gemacht? Ich hätte in der Schule gesessen und gelernt und mich über die Lehrer aufgeregt und sonst?«

Kyle schnaubte. »Aber so geht es uns doch allen, Jo.«, erwiderte er. »Unser Job als Jugendliche ist nun mal, für die Schule zu lernen und uns über die Lehrer aufzuregen.«

Ich kniff die Augen zusammen und beugte mich zu ihm herüber. »Und dein Job ist es, mir mit der Liste zu helfen.« Ich war ein Miststück, das wusste ich, und Kyle würde es vielleicht besser verstehen, wenn er den wahren Grund kannte, aber in diesem Moment war er ein reines Mittel zum Zweck.

Ich lehnte mich wieder zurück.

»Weißt du, was ich glaube, Kyle Thompson?«, fragte ich rhetorisch. »Jeder hat Ziele, die er erreichen möchte. Jeder hat Vorstellungen von einem erfüllten Leben. Jeder hat eine Liste, egal ob auf Papier oder im Kopf. Und ich glaube, sogar du. Man sollte früh genug mit ihr anfangen.«

Kyle rollte die Augen und fuhr sich gestresst durch die Haare. Doch schließlich gab er nach.

»Bitte, dann gehen wir zuerst angeln und haken das von deiner dämlichen Liste. Und wenn eine Party ansteht, dann darfst du mitkommen. Deal?«

»Deal!«

---


Tag 85

Es dauerte zwei Tage, bis Kyle die Zeit fand, mit mir angeln zu gehen. Es war Samstag und meine Mum staunte nicht schlecht, als ich nicht bis mittags im Bett lag und dann den restlichen Tag im Pyjama herum stakste und Serien schaute.

»Was hast du denn heute vor?«, fragte sie beiläufig. Ich zog meine Jacke zu.

»Ich gehe angeln«, verkündete ich und schlüpfte in meine Chucks.

»Allein?«, hakte meine Mutter nach. Ich verdrehte die Augen, während ich mir die Schuhe zuschnürte. Dann richtete ich mich wieder auf.

»Mit einem Jungen aus der Schule. Wir müssen ein Projekt bearbeiten«, erklärte ich und holte mir vorsichtshalber Handschuhe aus einer Schublade heraus. Es war Anfang April und das Wetter spielte verrückt.

»Und da müsst ihr angeln gehen?« Misstrauisch zog meine Mum die Augenbrauen zusammen. Ich seufzte.

»Mum, was ist wirklich los?«, fragte ich und sah sie an. Sie biss sich auf die Lippe und fuhr sich dann nervös durch die Haare.

»Ich würde gern mit ihm reden, Jo. Weiß er denn-«

»Nein«, unterbrach ich sie barsch. »Er weiß es nicht. Und das wird auch so bleiben.«

»Jo, er weiß doch gar nicht, was er machen soll, wenn du wieder einen Anfall hast«, flehte meine Mum und fasste mich am Arm. Gerade wollte ich sie anfauchen, mich endlich in Ruhe zu lassen, als ich ihre tränenbenetzten Augen sah. Und die eigene Mutter beinah weinen zu sehen, ließ selbst den gefallenen Engel weich werden.

»Mum, mir geht es gut. Ich habe heute früh etwas gegessen und es drin behalten. Ich habe auch keine Kopfschmerzen, sehe nicht doppelt und kann mein Gleichgewicht halten. Ich gehe einfach nur ein bisschen an die frische Luft. Das ist keine große Sache. Ich möchte einfach nur einen Samstag, der nicht auf der Couch stattfindet. Bitte!« Ich strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht und sie schloss die Augen.

»Ruf an, wenn etwas ist«, sagte sie und küsste mich auf die Wange.

»Mach ich«, versprach ich. Dann trat ich nach draußen und setzte mich auf die Verandastufen. Während ich auf Kyle wartete, hörte ich das Gespräch meiner Eltern durch ein geöffnetes Wohnzimmerfenster.

»Was, wenn ihr etwas passiert, Thomas?«, fragte meine Mutter. Man hörte die Panik in ihrer Stimme. Mein Dad beruhigte sie.

»Megan, du musst darauf vertrauen, dass sie auf sich selbst aufpassen kann. Wie jede andere Mutter auch«, sagte er sachlich.

»Aber ich bin nicht wie jede andere Mutter. Mein Kind ist todkrank«, erwiderte Mum aufgebracht.

»Dass du sie hierbehältst, verschont sie auch nicht vor dem Tod, Megan.« Dann hörte ich, wie meine Mum schluchzte und ich stand auf und ging mit einem Kloß im Hals zur Straße. Hier konnte ich meine Eltern nicht mehr hören.

Todkrank zu sein, war beschissen. Aber ein Kind zu haben, was todkrank war und der Hilflosigkeit ausgeliefert zu sein, dass man nichts dagegen machen konnte, war viel, viel schlimmer.

Schließlich kam Kyle die Straße heraufgefahren und hielt vor mir an. Ungefragt öffnete ich die Beifahrertür und stieg ein.

»Willst du das echt durchziehen?«, fragte Kyle.

Ich sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Dann säße ich nicht halb neun morgens mit dir hier. Freiwillig, wohlgemerkt.« Kyle lachte kurz auf.

»Stimmt«, sagte er und gab Gas. Wir fuhren aus der Stadt raus und passierten auch die nächste Stadt. Im Radio lief eine alte Country Band und Kyle konnte zu meinem Entsetzen den ganzen Text.

»Wieso kannst du das alles auswendig?«, fragte ich kopfschüttelnd. Kyle sah zu mir rüber und grinste, seine Sonnenbrille saß schief auf der Nase.

»Fünf Sommer bei meinem Onkel in Tennessee«, rief er und ich schmunzelte.

»Hast du auch einen Cowboyhut?«, fragte ich.

»Witzig«, meinte er und drehte die Musik auf, sang lauthals mit und quälte mich somit mit seinem schiefen Gesang.

»Hör auf!«, bat ich schreiend und hielt mir demonstrativ die Ohren zu.

Nach einer Weile rollten wir auf einen Parkplatz bei einer Tankstelle. Kyle stieg aus und ich folgte ihm. Er spazierte vergnügt in den Laden und schlenderte zu dem Verkäufer.

»Ich brauche Fischköder«, bestellte er und ich stellte mich vorsichtig neben ihn. Der Verkäufer kam zurück und zeigte Kyle zwei Dosen. Ich verzog angewidert das Gesicht, als ich die sich windenden Viecher darin sah. Kyle bezahlte und nahm die zwei Boxen.

»Igitt«, kommentierte ich auf dem Weg zum Auto.

»Was ist, Eisprinzessin? Schickt sich das in Euren Reihen etwa nicht?«, lachte er gehässig und holte eine große Kühlbox aus dem Auto. Danach folgten zwei Angelruten.

»Hier, die trägst du«, bestimmte er und drückte mir die Ruten in die Hand. Dann schloss er das Auto ab und lief los. Ich stolperte hinter ihm her. Schließlich verschwand Kyle im Busch und ich schluckte. Worauf hatte ich mich hier bloß eingelassen?

Nach einem kurzen Fußmarsch standen wir am Ufer eines Sees. Dort lag ein altes Ruderboot. Die blaue Farbe platze ab und als Kyle die Plane zurückschlug, sah man so manche Spinne davonhuschen.

Kyle grinste mich schadenfroh an, aber ich nickte nur und versuchte mir nichts anmerken zu lassen.

Er packte alles ins Boot und schob es ins Wasser. Schließlich zog er seine Schuhe aus, warf sie in das Boot und lief in den See.

»Was ist?«, rief er mir zu, als er schon knietief in den seichten Wellen stand und über die Schulter zu mir zurückschaute. »Wenn du kneifst, dann komme ich und hole dich!«

Ich gab mir einen Ruck, zog meine Chucks aus, krempelte die Hosen hoch und watete dann ins Wasser. Bei Kyle angekommen ließ ich mich sofort ins Boot plumpsen, was jedoch gefährlich schaukelte. Kyle lachte mich unterdessen aus.

»Ist doch nur Wasser«, meinte er süffisant und spritze mich nass. Ich warf ihm einen drohenden Blick zu und boxte ihm gegen die Schulter. Als er sich beschwerte, lächelte ich süß.

»Ist doch nur meine Faust.« Zur Antwort sprang Kyle ins Boot und brachte es noch mehr zum Schaukeln. Langsam bereute ich diesen Ausflug.

Kyle packte zwei Rettungswesten aus und warf mir eine zu. Skeptisch sah ich erst die Weste und dann ihn an.

»Was? Denkst du, ich spring dir hinter her, wenn du ins Wasser fällst?«, fragte er abschätzig.

»Wenn dir deine Note lieb ist, dann ja«, meinte ich, zog sie aber über.

Kyle packte die Ruder und begann uns auf den offenen See hinaus zu rudern. Eine Weile genossen wir die Stille zwischen uns.

»Kommst du oft hierher?«, fragte ich und sah ihn an. Kyle hielt in seinen Bewegungen inne und holte die Ruder ein.

»Früher als Kind war ich oft mit meinem Vater hier. Jetzt nicht mehr wirklich. Wir haben keine Zeit mehr dafür«, gab er zu. Er nahm die Angelruten in die Hand und hielt mir eine entgegen.

»Also, du musst sie so auswerfen«, erklärte Kyle und machte es mir vor. »Und dann besteht der größte Teil des Angelns aus Warten.« Ich schwang die Rute, um ein Gefühl dafür zu bekommen. Das letzte Mal hatte ich allerdings so viel Schwung drauf, dass sich die Schnur löste und Kyle der Haken entgegen schnippte. Kyle fing ihn auf und sah mich mit aufgerissenen Augen an.

»Man hält die Rute aufs Wasser«, meinte er trocken.

»Schade, ich dachte schon, Angeln könnte zu meiner neuen Lieblingsbeschäftigung werden.«

Kyle gab keine Antwort und holte stattdessen die Köder heraus. Als Erstes nahm er eine Made. Sie kringelte sich zwischen seinen Fingern und ich verzog das Gesicht.

»Na, immer noch deine Lieblingsbeschäftigung?«, fragte Kyle augenbrauenwackelnd. Ich widerstand dem Drang, ihn ins Wasser zu schubsen, und hielt ihm meinen Haken hin. Er befestigte den Köder und ich schwang die Rute in Richtung Wasser. Kyle wiederholte das bei seiner Angel und so saßen wir schließlich da.

»Und jetzt?«, fragte ich.

»Jetzt warten wir«, sagte Kyle.

»Wie langweilig«, kommentierte ich und bekam im nächsten Moment ein Stoß von Kyle ab. Das Boot schaukelte gefährlich.

Wir saßen lange Zeit schweigend da. Nichts biss an. Irgendwann holte Kyle ein Sandwich heraus und bot mir auch eines an, doch ich lehnte dankend ab.

»Wieso bist du so versessen darauf, all diese Dinge zu tun, bis du zwanzig bist?«, wollte Kyle wissen. »Ich meine, was hast du dann davon?«

»Weiß ich nicht. Vielleicht, weil ich dann sagen kann, dass ich es wenigstens probiert habe.«

»Was probiert?«, hakte Kyle nach.

Ich starrte aufs Wasser. »Zu leben.«

»Jo, wieso willst du so unbedingt, dass du das alles noch vor deinem 20. Geburtstag erreichst?« Kyle sah mich ernst an und auch ich blickte ihm in die Augen. Und das war der erste Moment, in dem ich große Lust hatte, jemandem von meinem Dilemma zu erzählen. Plötzlich wollte ich ihm alles beichten.

Doch dann besann ich mich darauf, wer wirklich hier mit mir in diesem Boot saß. Das war Kyle Thompson. Fußballer und Frauenheld. Unter keinen Umständen würde ich ihm mein Herz ausschütten.

»Das brauchst du nicht zu wissen. Das einzige, was du tust, ist, dafür zu sorgen, dass ich diese Liste abarbeiten kann, klar?«, keifte ich und hasste mich selbst dafür.

Kyle schüttelte den Kopf. »Ich will ja bloß sagen, dass es vielleicht besser ist, die Situation einfach so zu nehmen, wie sie kommt. Wenn du jedes Detail planst, bis du am Ende nur enttäuscht und verpasst dabei das wirkliche Leben.«

Wieder saßen wir schweigend in dem Boot. Ich ließ meinen Blick schweifen. Das dunkle Wasser des Sees war ruhig, Grillen zirpten irgendwo und eine frische Brise kam auf. Jetzt konnte ich verstehen, wieso so viele sich in die Natur flüchteten. Hier gab es nur einen selbst und man konnte wunderbar abschalten.

Plötzlich wackelte meine Leine. Erschrocken griff ich danach.

»Es hat einer angebissen!«, rief Kyle und half mir, die Leine einzudrehen. Der Fisch zerrte unterdessen ganz schön an der Rute und ich hatte Mühe, dagegen zu halten. Mit einem Ruck zog Kyle den Fisch aus dem Wasser. Er zappelte und als er in das Boot klatschte, schrie ich unwillkürlich auf. Kyle betäubte den Fisch mit einem gezielten Schlag auf den Kopf und durchtrennte ihm dann den Kiemenbigen. Geschockt sah ich auf den Fisch.

»Wow, das ist ein wirklich großer Fang«, meinte Kyle und stemmte die Hände in die Hüften.

»Du hast ihn getötet«, murmelte ich. Kyle blickte auf und verdrehte die Augen.

»Ja, das macht man so beim Angeln. Ich will nach dem langen Rumsitzen ja auch etwas in der Hand haben.« Ich schieg und starrte auf das tote Tier.

»Jo, er war ohnehin verletzt vom Angelhaken«, sagte Kyle beschwichtigend. Ich sah ihn an und seine besorgten Augen ließen mich nicken und lächeln.

»Ist schon okay. Mir gehts gut.« Kyle sorgte sich darum, dass ich wahrscheinlich jeden Moment in den See hüpfen und Green Peace anbeten würde.

Schließlich fuhren wir zurück und gingen zur Tankstelle. Kyle hatte den Fisch in der Kühlbox und zeigte ihm den Tankstellenbesitzer. Dieser staunte nicht schlecht. Er identifizierte das Tier als einen Fisch, dessen Name ich sogleich wieder vergaß. Das Einzige, was ich mir merkte, war, dass diese Art normalerweise nicht so groß wurde.

»Hast du den gefangen?«, fragte mich der Mann und sah mich aus seinen grauen Augen an. Ich nickte stumm.

»Darf ich den fotografieren? Für meine Sammlung?«, fragte er. Ich blinzelte überrascht, nickte aber wieder. Der Mann ging und kam mir einer Polaroidkamera wieder. Er bedeutete uns, den Fisch zu nehmen und uns nebeneinanderzustellen. Kyle hievte das Vieh auf seine Arme.

»Nimm du wenigstens die Angel, wenn du den Fisch schon nicht halten möchtest«, lachte Kyle mich aus. Ich nahm die Rute und stellte mich schließlich neben diesen Fischmörder.

»Und lächeln!«, dirigierte der Mann. Kyle grinste auf Kommando und ich rang mir ein Lächeln ab. Als ich allerdings auf den glitschigen Fisch sah, verrutschte es leicht.

Der Tankstellenwart drückte mir ein zweites Polaroidfoto in die Hand, was noch nicht entwickelt war.

»Danke. Und gute Heimfahrt«, verabschiedete er sich. Kyle packte den Fisch wieder ein.

»Denkst du, der hat wirklich eine Sammlung? Oder wollte er bloß ein Foto von mir?«, fragte ich irritiert. Kyle schmunzelte.

»Er hatte eine gigantische Fotosammlung bei dem Angelzubehör hängen. Mein Dad ist auch dabei. Und du jetzt auch.«

»Wir«, korrigierte ich.

Kyle lachte. »Stimmt, wir.«

Dann fuhren wir nach Hause. Meine Hände stanken nach Fisch und mir war kalt. Aber ich hatte diesen Tag genossen. Wenigstens wusste ich jetzt, wie es war, zu angeln.

»Du behältst doch aber den Fisch, oder?«, fragte ich Kyle vorsichtig. Er sah mich an.

»Du hast ihn gefangen, er gehört dir.«

»Igitt, den kann ich doch jetzt nicht mehr essen.« Kyle verdrehte die Augen.

»Bitte, dann gibt es bei uns heute Abend Fisch. Dad wird begeistert sein«, grinste dieser Sadist und wackelte mit den Augenbrauen.

Ich blickte auf das Foto. Man sah mir an, dass ich nicht ganz überzeugt war, während Kyle sein Strahlelächeln zeigte. Unwillkürlich rutschte mir ein Lachen raus. Dann klemmte ich das Foto hinter die Rückblende des Beifahrersitzes und lehnte mich im Sitz zurück.

Wie ironisch, dass mein Leben mit einem Tod begann. Aber wenigstens begann es überhaupt.


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