The Bucket List

By applepie1912

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Ein ganzes Leben in 100 Tagen --- Jolina war ein niedliches, aufgewecktes Mädchen. Stets fröhlich. Stets lebe... More

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Prolog
Tag 96 // Tag 95
Tag 94 // Tag 90
Tag 89 // Tag 88
Tag 87 // Tag 85
Tag 83 // Tag 82
Tag 81 // Tag 79
Tag 76 // Tag 74
Tag 73 // Tag 71
Tag 70 // Tag 69
Tag 67 // Tag 62
Tag 61 // Tag 60
Tag 58 // Tag 57
Tag 55 // Tag 54
Tag 53 // Tag 52
Tag 50 // Tag 49
Tag 48 // Tag 46
Tag 45 // Tag 44
Tag 43 // Tag 40
Tag 39 // Tag 38
Tag 37 // Tag 36
Tag 35 // Tag 32
Tag 30 // Tag 29
Tag 27 // Tag 23
Tag 22 // Tag 21
Tag 18 // Tag 17
Tag 16 // Tag 15
Tag 12 // Tag 11
Tag 9 // Tag 7
Tag 4 // Tag 3 // Tag 2
Tag 0 // Epilog
Dank

Tag 100 // Tag 99

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By applepie1912

Tag 100

Ich werde sterben. Das ist mein Schicksal.

Ich war achtzehn Jahre alt, todkrank und dabei, mich damit zu arrangieren.

Was ich nicht verkraftete, war die Tatsache, dass ich anscheinend auch verrückt wurde.

Mit zusammengebissenen Zähnen lenkte ich meine Schrottkarre von Wagen durch den trägen Morgenverkehr. Ich lag gut in der Zeit, um die erste Unterrichtsstunde pünktlich zu schaffen, auch wenn die Schule für mich nur noch ein Zeitvertreib war, um nicht den Verstand zu verlieren. Was offensichtlich nichts brachte.

»Hau ab!«, zischte ich genervt und starrte im Rückspiegel auf den Straßenrand, an dem ein Junge mit schwarzen Haaren und Augenringen stand. Er verfolgte mich seit anderthalb Jahren, aber hielt sich immer in der Ferne. Ich hatte noch nie mit ihm gesprochen und auch sonst kam er mir nicht bekannt vor.

Aber ich bemerkte ihn aus dem Augenwinkel, wenn ich morgens aus dem Haus trat und abends wieder heimkam. Er rührte sich nicht und als ich meinen Blick abwandte und dann wieder hinsah, war er verschwunden.

Er war eine Halluzination. Ich wusste das, weil ich meine Mutter gefragt hatte, ob sie den krank aussehenden Jungen auch sah und sie mich daraufhin noch beunruhigter angesehen hatte.

Dinge zu sehen, die nicht da waren, war eines der Symptome für ein Glioblastom und einer der Gründe, warum ich eines Tages in der Sprechstunde des Neurologen im Krankenhaus gesessen hatte, um mich durchchecken zu lassen.

Was folgte, waren eine lange Reihe an Bildgebungsverfahren, Anamnesegesprächen und Tests aller Art.

Die Antwort auf den Jungen im Rückspiegel war Krebs.

Ich bog um eine Ecke und entdeckte ihn an einer Bushaltestelle. Die Beanie auf dem Kopf war leicht verrutscht. Genervt schloss ich die Augen und öffnete sie wieder. Sie wanderten automatisch zum Seitenspiegel. Er stand noch da.

»Niemand mag solche Menschen«, murmelte ich, wohlwissend, dass er definitiv kein Mensch war. Aber so mit ihm zu sprechen, gab mir das Gefühl, mich nicht in der nächsten Ecke vor und zurück wiegen zu müssen.

Als ich auf den Parkplatz der Schule einbog, war er verschwunden und ich atmete erleichtert auf. Meistens ließ er mich in den Unterrichtsstunden in Ruhe.

In einer fließenden Bewegung steckte ich mir einen Ohrstöpsel ins Ohr und schwang mir meine Tasche über die Schulter. Dann stieß ich schwungvoll die Tür meines ausgedienten Autos zu. Die Beifahrertür klemmte und die Klimaanlage war hinüber. Aber ich liebte es, weil es seine besten Zeiten schon hinter sich hatte. Es gab niemanden, den ich mitnehmen konnte und ich fuhr ohnehin lieber mit heruntergelassenen Fenstern.

Ich quetschte mich durch eine Gruppe von Schülern, die den Weg zwischen zwei Wagen versperrten, und lächelte halbherzig über die Bemerkungen, die sie mir hinterherriefen. Ich zeigte ihnen über meiner Schulter den Mittelfinger und setzte meine Sonnenbrille auf. Dann schlenderte ich lässig über die Pflastersteine zum Eingang meiner Schule.

Dort bahne ich mir einen Weg zu meinem Schließfach. Ich ignorierte Zoey und Bianca, die auf dem Schulflur standen und mich musterten, obwohl wir die Middle School gemeinsam hinter uns gebracht und auch die ersten Jahre auf der Highschool zusammen durchgestanden hatten. Wir waren ein Team gewesen.

Aber nach meiner Diagnose und der Chemo danach hatte ich den Kontakt abgebrochen. Wir waren wie die Mean Girls gewesen und mir fehlte schlichtweg die Kraft, um diese Fassade weiterhin aufrecht zu erhalten.

Ein Rockband schmetterte einen grandiosen Song in meinen Ohren, als ich meine Bücher aus dem Schließfach holte und sie unter den Arm klemmte. Dann machte ich mich auf den Weg zu Mathe und trommelte mit meinen Fingern leise den Takt auf den Umschlägen mit.

Die Narbe an meinem Kopf kribbelte, als ich mich durch die Flure drängte. Ich trug die Haare offen, damit niemand sie sah. Aber sie brannte auf meiner Haut, als würde sie neonfarben leuchten und aller Augen lägen darauf.

Ich erwischte mich dabei, wie ich den Takt mit dem Kopf mitwippte und hörte auf. Einige Leute sahen mich komisch an und ich merkte, wie sie über mich redeten. Noch immer mit der Sonnenbrille im Gesicht schritt ich ironisch lächelnd an ihnen vorbei. Ich bin ein Freak. Der gefallene Engel dieser Highschool. Aus den Sphären des Himmels der Coolen war ich abgestürzt in die Hölle der Außenseiter.

Im Matheunterricht ließ ich mich auf meinen Platz in der letzten Reihe fallen, schob die Sonnenbrille nach oben und legte meine Bücher vor mir ab. Untermalt von der Musik in meinen Ohren beobachtete ich die anderen, die sich unterhielten und sich nach und nach setzten, als unser Lehrer hereinkam. Er begann mit dem Unterricht und ich stellte die Musik lauter.

Lediglich mein Schulleiter wusste von meinem Dilemma. Die anderen Lehrer hatten keine Ahnung, dass ich mit dem Tod quasi per du war, aber dass ich – sagen wir mal – nicht ganz normal war. Deshalb ließen sie mich in Ruhe in der letzten Reihe sitzen und meine Bildchen aufs Papier kritzeln. Manchmal las ich auch. Was ich auch tat, die Lehrer ignorierten es.

Sie stellten keine Fragen und sagten nichts, wenn ich einen Test unausgefüllt wieder abgab oder bei einer schlechten Note nur mit den Schultern zuckte. Ich vermutete, sie gaben Drogen die Schuld an meinem Benehmen. Oder einem Todesfall in der Familie. Dass ich der Todesfall war, darauf kamen die Hochstudierten allerdings nicht.

Die erste Hälfte des Tages saß ich ab, starrte auf die Uhr und las meinen neuen Roman. Die Mittagspause verbrachte ich in der Bibliothek.

Als ich mich zu meinem Nachmittagsunterricht aufmachte, nahm ich einen Umweg über die Toilette. Als ich aus der Kabine trat, wusch ich mir die Hände und sah mich im Spiegel an. Ich sah blass aus, hatte Schatten unter den Augen. Ich sah aus, als würde ich sterben.

Über meine Schulter sah ich im Spiegel den seltsamen Jungen an der Wand lehnen und mich mustern.

»Das ist das Mädchenklo«, sagte ich warnend. Er zeigte keine Regung und als ich mich wieder selbst im Spiegel ansah, verschwand er. Ich zwang mich zu einem Lächeln. Es sah ziemlich gequält aus, also ließ ich es wieder und seufzte angestrengt. Dann ging die Tür auf und Bianca erschien im Waschraum. Sie sah mich für eine Sekunde an, ehe sie die Hand in die Hüfte stemmte und schnaubte, während ich mit den Händen aufgestützt auf dem Waschbecken mich zum Spiegel lehnte und sie erschrocken anschaute.

»Suchst du die Haare auf deinen Zähnen?«, fragte sie und hob eine ihrer perfekt gezupften Augenbrauen. Ich ließ vom Spiegel ab und wippte zurück auf meine Fersen. Arrogant lächelte ich, wandte mich zu ihr und verschränkte langsam die Arme vor der Brust.

»Ich habe versucht, so süß zu lächeln wie du«, antwortete ich und küsste einmal in die Luft. »Aber so falsch grinsen kann ich einfach nicht.« Bianca schüttelte genervt den Kopf.

»Kannst du überhaupt noch lächeln?«, wollte sie wissen und sah mir in die Augen. Ich lachte hart auf.

»Na klar. Aber nicht für dich, mein Schatz«, meinte ich und dann drängte ich mich an ihr vorbei aus dem Waschraum. Vor der Tür fiel meine arrogante Miene in sich zusammen und ich rammte meine Hände in meine Jackentaschen. Schließlich machte ich mich auf den Weg zu dem, was meinem liebsten Kurs am nächsten kam: Kreatives Schreiben. Auch wenn dieser Kurs uns darauf vorbereiten sollte, in Zukunft sensationelle Texte zu verfassen und das für mich nicht zur Debatte stand, war es doch das Einzige, das ich für mich tat. Und das ich gerne tat.

Auch in diesem Unterricht saß ich ganz hinten und wahrte den Abstand zu den anderen. Diesmal hatte ich keine Musik im Ohr.

Meine Lehrerin Mrs Dickinson rauschte ins Zimmer. Ihre große Brille steckte in ihrer Hochsteckfrisur und ihre zahlreichen Ketten und Armbänder klimperten. Die Leute hielten sie für verrückt. Aber ich liebte sie.

Nach ihr betrat Kyle Thompson den Raum und schmunzelte über unsere kleine Lehrerin. Er hatte noch immer ein Lächeln auf den Lippen, als er durch die Reihen ging und sich auf seinem Platz niederließ.

Ich verfolgte ihn mit den Augen und mein Mund verzog sich angewidert. Ich hasste die Schüler hier, aber Kyle hasste ich am meisten. Ich verstand nicht, was er in diesem Kurs wollte.

»Ihr Lieben!«, rief Mrs Dickinson begeistert und machte vor der Klasse halt. »Heute möchte ich mit euch über euer Abschlussprojekt sprechen. Ihr sollt zusammen mit dem Partner, den ich euch zuteile, eine Geschichte schreiben. Das Thema ist nicht vorgegeben. Aber ich will, dass ihr Wert auf die Charakterentwicklungen legt.« Ich verkrampfte mich. Partnerarbeit? Menschenkontakt? Igitt.

Mrs Dickinson begann die Paare vorzulesen und ich schlang unwillkürlich einen Arm um meinen Bauch. Mir wurde schlecht und ich betete inständig für einen guten Partner.

»Jolina«, verkündete Mrs Dickinson und sah auf, »dir habe ich Kyle zugeteilt.« Sie sah wieder auf ihren Zettel und machte gleich mit dem nächsten Team weiter.

Oh Scheiße. Aus dem Augenwinkel merkte ich, wie Kyle sich zu mir umdrehte und mich ansah. Ich spürte, wie alle sich zu mir umdrehten und mich anglotzten. Mrs D. bekam davon nichts mit, aber so war das eben. Lehrer zerstörten einem das Leben, ohne es zu merken, und das machte das Ganze nur noch schlimmer.

Ich rutschte tiefer in meinen Stuhl und jetzt holte ich doch meine Musik aus der Tasche, während ich Kyle einen Blick zuwarf, der deutlich machte, dass er mich ja in Ruhe lassen sollte. Er war beliebt, aber nicht abgehoben. Er kam mit jedem zurecht, war höflich zu den Lehrern und nett zu den Außenseitern. Er war lustig und charmant, aber er war auch gern für sich allein. Und wenn er wollte, konnte er auch arrogant sein. Für mich schien es immer so, als wäre er unantastbar. Kyle Thompson, das große Mysterium.

Er spielte Fußball in dem wohl einzigen Team an meiner Highschool, das es jemals über die Qualifizierungsrunden brachte. Und dafür liebte die Schule ihn. Sein dunkelblondes, kurzes Haar und die blauen Augen waren eine gute Kombination, um alles zu bekommen, was er wollte. So auszusehen war, als würde man sein Leben im easy mode spielen. Einfachste Schwierigkeitsstufe, keine Hindernisse.

»Ich schlage vor, ihr fangt rechtzeitig mit dem Projekt an. Um zu üben, werden wir Charakterisierungen voneinander erstellen.« Mrs Dickinson ließ sich hinter ihrem Schreibtisch nieder. »Wir beschäftigen uns deshalb mit dem Modell auf Seite sechsunddreißig in eurem Buch.«

Sobald es klingelte, sprang ich auf und stopfte meine Bücher in meine Tasche. Als ich den Kopf hob, merkte ich, dass Kyle sich auf den Weg zu mir machte. Ich sah ihn böse an, schlüpfte an ihm vorbei und rauschte aus dem Klassenzimmer.

Überall strömten die Schüler in die Flure, lachten und planten ihren Nachmittag. Ich drängte mich an ihnen vorbei, holte meine Sonnenbrille aus der Tasche und atmete erleichtert auf, als ich die Haupttüren aufstieß und über den Schulcampus zum Parkplatz lief.

Ich stieg ein, drehte die Musik auf, ließ die Scheiben ein Stück herunter und fuhr los. Während ich mich in den Verkehr einfädelte und die Schule mit jedem Meter weiter hinter mir zurückließ, tauchte ich ein Stück mehr aus meiner Starre auf.

Ich wippte wieder mit dem Kopf zur Musik mit, trommelte die Gitarrensoli auf dem Lenkrad mit und langsam hoben sich meine Mundwinkel.

Mit Schwung bog ich in die Einfahrt meines Zuhauses ein und stieg aus. Die Sonne schien und wärmte mein Gesicht.

Ich stieg die Stufen der Veranda nach oben und holte mein Schlüssel aus meiner Jackentasche, als ich ihn sah.

Der seltsame Junge lehnte am anderen Straßenrand an einem Baum und beobachtete mich.

Ich biss die Zähne zusammen, wandte mich um und beeilte mich, ins Haus zu kommen. Dann rannte ich die Treppen nach oben, riss die Vorhänge zu und warf mich aufs Bett.

»Ich will nicht verrückt sein!«, rief ich wütend in mein Kissen. Dabei hatten mir die Ärzte gesagt, Dinge zu sehen, die nicht da waren, sei bei meiner Diagnose normal. Aber nichts an dem Jungen da draußen war normal.

Ich rollte mich auf den Rücken und starrte an die Decke. Ich hatte so viel Tumor in meinem Kopf wie andere Jugendliche Pickel im Gesicht, eine Lebenserwartung von ein paar Jahren und ich sah einen Typen, der nicht existierte.

Ich war meine ganz eigene Tragödie.

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Tag 99

Mein Leben war noch nie interessant. Selbst vor meinem Tumor nicht. Aber als die Ärzte in meinem Kopf dieses Ding entdeckten, wurde ich zu einer medizinischen Sensation. Zumindest für eine Weile. Als klar wurde, dass ich kein Wunder der Nation werden würde, verloren die Halbgötter in Weiß ihr Interesse und mein Leben wurde wieder vom gleichen ermüdenden Alltagstrott beherrscht wie vorher. Nur mit einer Zeitbombe im Gepäck.

Als ich diesen Morgen an der Schule ankam und aus meinem Auto ausstieg, passte das Wetter hervorragend zu meiner Stimmung. Es nieselte leicht, war kalt und eklig. Ich wollte mich im Bett verkriechen. Besonders als ich den Jungen mit der Mütze ein paar Autos weiter sah. Ich warf ihm einen finsteren Blick zu und beschleunigte meine Schritte.

Ich stieß die Haupttüren auf, sah über die Schulter zurück und stellte erleichtert fest, dass er verschwunden war. Jemand rempelte mich an, als ich mich gerade wieder nach vorne drehte und rief mir eine Beleidigung zu. Doch dann drehte ich mein Gesicht zu ihm und als er mich erkannte, wurde er still.

Ich musterte ihn von oben bis unten und lief dann weiter, während er das Weite suchte. Ich glaubte, es rankten sich fast so viele Gerüchte um mich wie um Mike aus dem Baseballteam, der behauptete, jedes Wochenende eine andere verrückte Story zu erleben.

Die Leute verachtend bahnte ich mir einen Weg durch die Menge, bis ich an meinem Spind ankam. Zu allem Übel wartete dort Kyle auf mich. Das erklärte das überraschend große Gedränge. Betont lässig ging ich zu ihm, öffnete die Tür und holte meine Bücher aus dem Fach.

»Was willst du?«, fragte ich genervt und ging meinen Stundenplan durch, als würde mich dieser tatsächlich interessieren.

»Du bist gestern so schnell verschwunden.«, erklärte er. »Da habe ich gedacht, ich fange dich hier ab.« Ich verkrampfte meine Finger um die Bücher, holte tief Luft und knallte dann schwungvoll meine Schließfachtür zu. Es schepperte laut.

»Und jetzt willst du mir sagen, ich solle die ganze Arbeit machen, weil das schließlich mein Job ist als unbeliebtes Außenseitermädchen?« Ich reckte das Kinn nach vorn als stumme Kampfansage. Kyle betrachtete mich für eine Sekunde, als wäre ich eine Gleichung, die er nicht lösen könnte, aber dann klärte sich sein Blick.

»Vergiss es. Ich lass auf keinen Fall zu, dass du mir die Note versaust. Wir arbeiten an diesem Projekt schön zusammen, jeder erledigt seinen Teil und am Ende gehen wir wieder getrennte Wege.«

»Deine Note ist mir egal.«, pfefferte ich zurück. Ich glaubte schon, ich hätte ihm den Wind aus den Segeln genommen, da lehnte er sich zu mir vor, sodass nur ich ihn hören konnte.

»Mag sein, Jolina. Aber das Schreiben ist dir nicht egal. Und ich glaube kaum, dass du in dem einzigen Kurs, der dir offenbar noch etwas wert ist, durchfallen möchtest.« Er richtete sich wieder auf und sah aus seinen blauen Augen auf mich herab. Darin lag eine Härte, die mich plötzlich schäbig fühlen ließ.

»Also, bringen wir diese Projektarbeit hinter uns?«, fragte er und zog seine Augenbrauen in die Höhe. Ich schluckte.

»Meinetwegen«, presste ich hervor. »Aber dann nenn mich nie wieder Jolina.«

»Warum nicht? Das ist dein Name«, gab er zurück und wirkte ehrlich überrascht.

»Nein, nicht mehr«, meinte ich abweisend. Ich holte meine Musik hervor.

»Und wie soll ich dich dann nennen?«, fragte er ernst.

»Jo«, erwiderte ich leise. »Einfach nur Jo.« Ich sah auf und für einen Moment, als wir uns auf dem überfüllten Schulflur in die Augen sahen, glaubte ich, Interesse in seinem Gesicht zu sehen. Als wollte Kyle Thompson wirklich hinter meine Fassade blicken. Ich schnaubte und riss mich selbst aus dieser Farce.

»Zwei Buchstaben dürftest du dir wohl noch merken können«, sagte ich und lächelte breit. Dann drehte ich mich um, steckte meine Ohrstöpsel in die Ohren und drehte die Musik auf. Ich ging, ohne mich noch einmal umzusehen.

Den restlichen Tag überstand ich wie immer. Ich machte mich in den hinteren Reihen der Klassenräume klein, las ein Buch und hörte meinen Lieblingsbands zu. Ich zählte die Stunden, bis ich wieder meinen Lieblingskurs besuchen konnte. Nur dass Kyle diesem nun einen faden Beigeschmack verlieh.

Er saß schon an seinem Platz, als ich den Raum betrat. Er musterte mich, als ich an ihm vorbeilief und ich war versucht, ihm eine obszöne Geste zu zeigen, einfach nur, um ihn zu schockieren. Ein leises Gefühl in mir jedoch flüsterte, dass Kyle Thompson nicht leicht aus der Ruhe zu bringen war.

Kaum saß ich, rauschte Mrs Dickinson in das Zimmer. Sie lächelte, klatschte in die Hände und sah uns glücklich an. Der Klang ihrer Armbänder und Ketten, die laut klimperten, ließ mich schmunzeln.

»Ihr Lieben!«, rief sie enthusiastisch und klatschte in die Hände. »Wir widmen uns in dieser Stunde eurer Partnerarbeit.« Mein Lächeln verschwand und ich ballte meine Hände zu Fäusten, die auf dem Tisch lagen.

»Setzt euch zusammen und unterhaltet euch. Lernt euch kennen. Für die nächste Zeit wird eure Aufgabe sein, eine Charakterisierung von eurem Partner zu schreiben, um zu üben.« Reihum begannen Schüler von ihren Plätzen aufzustehen und sich zusammenzusetzen. Ich sah nicht auf, als sich Kyle neben mir niederließ.

»Alles, was wir tun, ist eine Reaktion auf etwas, das müsst ihr euch bewusst machen. Wir tun nichts einfach so. Ihr müsst nur anfangen, nach dem Grund zu suchen.« Mrs Dickinson setzte sich an ihren Schreibtisch und ließ uns in Ruhe. Ich schluckte. Kyle drehte sich zu mir um.

»Willst du anfangen?«, fragte er. Ich blickte zu ihm und zog nur abwertend meine Augenbrauen in die Höhe. Er schnaubte genervt, als ich wieder wegsah.

»Jo«, sagte er und traf damit etwas in meinem Inneren. Ich sah stur gerade aus, um die Fassung nicht zu verlieren. Kyle seufzte.

»Hör zu, ich weiß, dass du darauf keine Lust hast. Aber ich brauche eine gute Note und deshalb sollten wir das hinter uns bringen. Lass uns einfach nur ein paar Fragen stellen und beantworten.« Kyle lachte charmant. »Ich meine, komm schon, grumpy cat. Was hast du schon zu verlieren?« Kyle wartete, lockte mich. Und er hatte recht. Ich würde sterben. Ich hatte doch schon längst verloren.

»Gut«, meinte ich und wandte mich zu ihm. »Dann fang an. Erzähl mir was von dir, Kyle Thompson. Was ist deine Lieblingsfarbe und deine Lieblingszahl? Das wollte ich immer schon wissen.« Kyle kniff die Augen zusammen, als würde ich ihm eine Falle stellen. Ich bedeutete ihm ungeduldig, endlich anzufangen und nach einem Räuspern fügte er sich.

»Ich bin achtzehn Jahre alt und habe eine kleine Schwester. Ihr Name ist Callie und sie ist gerade in dem Alter, wo sie glaubt, alles durch einen Heulkrampf zu bekommen. Mein Dad leitet ein Bankunternehmen und meine Mum ist Krankenschwester.« Kyle lehnte sich zu mir und grinste verächtlich. »Meine Lieblingsfarbe ist blau und meine Lieblingszahl ist sieben.« Er beendete seinen Monolog und lehnte sich wieder zurück. Mit verschränkten Armen sah er mich abwartend an.

»Hast du deshalb so Stress gemacht, um das Trikot mit der Nummer sieben zu bekommen?«, fragte ich, als ich mich daran erinnerte, wie Kyle bei seinem Einstieg in die Fußballmannschaft mit dem Coach lautstark in der Mensa diskutierte. Aber so war er. Wenn er etwas wollte, dann setzte er alles daran, um es zu bekommen. Kyle grinste verschmitzt.

»Er hat es bis heute keine einzige Minute bereut, nachgegeben zu haben«, meinte er und ich schüttelte verächtlich den Kopf.

»Sich über solche Kleinigkeiten aufzuregen, ist doch reine Zeitverschwendung«, sagte ich bestimmt. Kyle zuckte die Schultern.

»Es war mir wichtig, also war es keine Zeitverschwendung.«

Touché, dachte ich widerwillig. Kyle schmunzelte, als er meine Miene sah. Dann nickte er mit dem Kopf in meine Richtung. »Und jetzt du.«

Ich überlegte fieberhaft, welche unwichtigen Informationen ich ihm auftischen konnte.

»Ich mag keine Pilze. Ich habe eine Schwäche für Röcke, ziehe sie aber kaum noch an. Meine Lieblingsfarbe ist schwarz und falls du jetzt behaupten solltest, dass schwarz keine Farbe sei: Für mich ist sie das. Ich mag Rockmusik. Am liebsten alte Legenden wie Queen, aber auch neueres Zeug. Ich höre sie dann gerne in meinem Auto in voller Lautstärke«, erzählte ich, doch Kyle unterbrach mich und stöhnte theatralisch.

»Oh ja, man hört dein Auto über den ganzen Parkplatz. Es ist bestimmt doppelt so alt wie du«, beschwerte er sich.

Ich schoss sofort zurück. »Sei bloß still! Wenigstens fahre ich ein Auto mit Stil.«

Kyle lachte leise. »Darüber lässt sich streiten.« Ich schnaubte abfällig und wollte meinen Wagen weiter verteidigen, aber er bedeutete mir, mit meiner Erzählung fortzufahren.

»Also, wo war ich? Ach ja, meine Mum arbeitet von zu Hause aus und mein Dad ist Elektriker.«

»Hast du Geschwister?«, wollte Kyle wissen.

Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe eine Katze, zählt das?«

Seine Mundwinkel zuckten kurz. »Ist die auch eine grumpy cat, wie du?« Ich zog meine Augenbrauen nach oben. Kyle machte schnell weiter.

»Was willst du nach der Schule machen?«, fragte er und kritzelte auf seinem Block herum. Ich stockte.

»Darüber habe ich nie nachgedacht«, murmelte ich. Kyle sah von seinen Notizen auf.

»Nie?«, fragte er ungläubig und ich verfluchte mich, dass ich das gesagt hatte.

»Bis jetzt habe ich einfach noch nichts gefunden, was mich wirklich interessiert«, log ich.

In Wahrheit hatte ich nie nach etwas Ausschau gehalten. Das war wie, wenn man ohne Geld in ein Schuhgeschäft ging. Man riskierte, die perfekten High Heels zu finden, obwohl man wusste, dass man sie nie wird kaufen können. Und ich hatte nun wirklich schon genug Probleme.

Ein was wäre, wenn war das Letzte, das ich gerade gebrauchen konnte.

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