Nordlicht

By marinahernandez00

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Licht bedeutet Wärme. Es bedeutet Geborgenheit und Liebe. Licht ist Leben. Und Licht ist Hoffnung. Jelena, ku... More

Prolog - Liebes Tagebuch
Kapitel 1 - Meine Entscheidung
Kapitel 2 - Mr. Enigma
Kapitel 3 - Und tschüss!
Kapitel 4 - Nein
Kapitel 5 - Das Beste-Freunde-Mobil
Kapitel 6 - Der Zug zu dir
Kapitel 7 - Der dunkelgrüne Oldtimer Mustang
Kapitel 8 - Sein Mitbewohner
Kapitel 9 - Mein Minenfeld
Kapitel 11 - Abschied und Anfang
Kapitel 12 - Raum und Zeit
Kapitel 13 - Weit wie das Meer
Kapitel 14 - Enigma geknackt
Kapitel 15 - Ein Himmel voller Sterne
Kapitel 16 - Bunte Häuser und Frauengespräche
Kapitel 17 - Dunkler Abgrund
Kapitel 18 - Im Wechsel der Gezeiten
Kapitel 19 - Nadelstiche
Kapitel 20 - Wie weiter?
Kapitel 21 - Wenn ein Stern erlischt
Kapitel 22 - Tränen
Kapitel 23 - Das Versprechen
Kapitel 24 - Meine Familie
Kapitel 25 - Das Ende der Reise

Kapitel 10 - Das Danach

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By marinahernandez00

Gehe nicht, wohin der Weg führen mag, sondern dorthin, wo kein Weg ist, und hinterlasse eine Spur.
Jean Paul


Montag, 12. Oktober

„Örnsköldsvik. Bist du sicher, dass du dort hin willst? Wir werden nicht einmal nach dem Weg fragen können, weil wir diesen verzworgelten Namen nicht aussprechen können." Jason sieht mich skeptisch an. Ich lege meinen Kopf von hinten auf seine Schulter und sehe auf den Laptop, den er auf seinen Knien balanciert.

„Ja, ich will dort hin. Gerade wegen dem lustigen Namen", kommentiere ich und drücke ihm einen Kuss auf die Wange.

„Na gut, schreib auf: Stockholm - Örnsköldöldl irgendwas, sechs Stunden Fahrt, 530 Kilometer Distanz. Laut Google Maps. Gerundet natürlich."

Ich nehme mein Notizblatt zur Hand, lege es auf seinen Rücken und notiere, was er gerade gesagt hat.

„Sechs Stunden Fahrt, das wird ja prickelnd", murmle ich leise, als ich die Zahl ansehe. Jace dreht seinen Kopf zu mir. „Du willst diese Reise machen. Von mir aus können wir uns auch einen Dokumentarfilm ausleihen, uns auf meine Couch schmeissen, Wintertee nippen und uns die Nordlichter gemütlich von meiner Dachstockwohnung aus ansehen." Er grinst neckisch. Ich knuffe ihn in die Seite. „Das ist nicht dasselbe!"

„Natürlich nicht, aber ich sage dir, das werden lange Tage und kalte Nächte."

Ich lege meine Arme um seine Mitte und schmiege mich an seinen Rücken. „Ist mir egal. Wenn du dabei bist, wird die Zeit nur so verfliegen, und wenn du in der Nach neben mir liegst, kann es gar nicht kalt werden."

Er verdreht den Kopf so, dass er mich angrinsen kann. „Ich bin schon einfach ein heisser Kerl."

„Musst du immer alles kaputt machen?" Vorwurfsvoll sehe ich ihn an. Er küsst mich auf die Nasenspitze, oder versucht es zumindest, denn erwischen tut er mit seinen Lippen nur die Luft vor mir. Er ist eben keine Eule, die ihren Kopf um 180 Grad drehen kann, auch wenn er das glaubt. Ich lache ihn aus, was er nicht lustig findet.

„Ach komm schon, es wird Zeit, dass du ein ernstes Wörtchen mit dir selbst redest, wenn du nicht mehr über dich lachen kannst."

„Du freches Zwergchen!", knurrt er grinsend und legt seinen Laptop beiseite, um mich auskitzeln zu können. Lachend falle ich ihm zum Opfer. Ich zapple wie ein hilfloser Käfer. Irgendwann scheint er mich genügen geplagt zu haben, denn er stützt sich links und rechts von meinem Kopf mit den Ellenbogen ab und sieht mir direkt in die Augen. Mein Atem geht flach. Seine Nähe löst wie immer dieses Flattern in meiner Magengegend aus. Bisher habe ich ihn noch nicht auf den Mund geküsst. Ich wollte mir den Kuss aufsparen für einen romantischeren Moment als in einem Spitalbett. Na ja, ob das Schlafzimmer in seiner Dachstockwohnung romantischer ist, darüber lässt sich streiten, aber ich halte es einfach nicht mehr aus.

„Küss mich", hauche ich. Seine bernsteinfarbenen Augen funkeln im Licht der untergehenden Sonne, das durch das Fenster ins Zimmer fällt. Auf sein Gesicht tritt ein liebevoller Ausdruck. Langsam verringert er den Abstand zwischen uns. Ich schliesse die Augen, sauge seinen Duft ein und warte einfach auf die Berührung seiner weichen Lippen. Ein riesiges Feuerwerk geht in meinem Körper hoch, als seine Lippen meine kaum merklich streifen und er die Distanz zwischen uns schliesslich mit einem zärtlichen Kuss schliesst. Mein ganzer Körper blüht auf. Ich fühle mich befreit, so als hätte er meinen Käfig, in dem ich die ganze Zeit über eingesperrt war, aufgemacht und mich fliegen lassen.

Er verstärkt den Kuss vorsichtig, gerade so als wollte er die Grenzen abtasten, schauen wie weit ich gehe. Was er nicht begriffen zu haben scheint, ist, dass es keine Grenzen mehr gibt zwischen uns.

Ich vergrabe meinen Finger in seinen dunklen Haaren und ziehe ihn enger an mich. Er legt sich sachte auf mich und fährt mit seinen Händen über meine Wangen. Ich presse meine Lippen auf seine und ignoriere den Geruch nach Rauch, den er leider immer mit sich herumträgt. Er hat noch nicht aufgehört zu rauchen und wird es vielleicht auch nie. Aber das ist mir nicht mehr so wichtig.

Mein Kuss wird verlangender und er erwidert ihn, gibt mir, was ich möchte. Seine Hände gleiten unter meinen Winterpulli, in dem ich sowieso schon lange verschmachte, und schieben ihn hoch. Wir lösen uns voneinander, damit er mir den Pulli über den Kopf ziehen kann. Dem Pulli folgt mein BH und nun liege ich oben ohne unter ihm und sehe hoch in seine strahlenden Augen. Seine Wangen sind gerötet und er schaut mich zärtlich an. Er liebt mich wirklich. Mit einer einzigen, fliessenden Bewegung schlüpft er aus seinem T-Shirt und lässt es zu meinen Sachen auf den Boden segeln. Danach fährt er mit seinen Lippen über meinen Hals. Ich schliesse die Augen. Ein Stromstoss durchzuckt meinen Körper, als seine Finger an meinem Hosenbund entlang fahren und er dann zitternd den Verschluss meiner alten Jeans aufmacht. Keuchend stosse ich die Luft aus. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich die ganze Zeit über die Luft angehalten habe. Seine Hände gleiten an meinen Hüften hinunter und er hilft mir aus meiner Jeans, die einmal eng anliegend war und jetzt nur noch lose an meinen dünnen Beinen hängt. Es scheint ihn nicht zu stören, dass ich mager bin wie eine Bohnenstange. Zärtlich legt er seine Lippen wieder auf meine und streichelt mir über meine dunkelbraunen Haare.

„Du bist umwerfend", flüstert er leise und ich weiss, dass er das ernst meint. Er meint es wirklich ernst. Alles.

„Du auch", antworte ich. „Ich liebe dich." Es fühlt sich unglaublich an, diese Worte endlich auszusprechen. Aber sie fassen meine Gefühle für ihn nicht annähernd zusammen. Worte können einfach nicht alles ausdrücken. Wir sehen einander in die Augen. Es ist wieder, als wüsste er alles von mir schon, ohne dass ich es überhaupt in Worte fassen muss. Ich brauche nichts zu sagen und er auch nicht. Wir wissen beide, dass der andere dieselben Gefühle in der Brust verspürt. Liebe, Hoffnung, Sicherheit, Geborgenheit, Vertrauen. Ein Vertrauen, das weiter geht, als alles andere. Ich lege mein zerbrechliches Leben in seine blossen Hände, überlasse ihm den Schlüssel zu meinem Herzen, weil ich weiss, dass er beides mit allem in seiner Macht stehende bewachen wird. Und wenn das nicht mehr ausreicht, dann bin ich tot.

***

Frisch geduscht sitze ich neben meinem Freund am Küchentisch und deute auf die Karte, die er auf dem Bildschirm vor sich hat.

„Glaubst du, es ist realistisch, wenn wir von Muonio direkt hoch ans Nordkap fahren?"

Er legt seine Stirn in Falten. „Das sind sieben Stunden. Vielleicht wäre ein Zwischenstopp besser."

Ich betrachte die Karte. „Wie wäre es in Olderfjord."

Er grinst. „Ich sehe schon, ich werde dir das Reden überlassen. Diese komischen nordischen Namen kann ich einfach nicht aussprechen."

„Ach komm jetzt, du schmeisst in deinem Medizinstudium nur so mit Fachwörtern um dich und kannst nicht einmal einen Ortsnamen tackieren?"

Er zieht eine Augenbraue hoch. „Du stehst wohl darauf, neue Wörter zu erfinden."

„Normal ist langweilig. Ich muss Zeichen setzen. Irgendwann wird tackieren fest im deutschen Wortschatz aufgenommen sein, wirst schon sehen."

Er legt grinsend den Arm um mich. „Du bist flausch."

Lachend sehe ich ihn an. „Was bin ich?"

„Flausch. Bedeutet eigentlich alles: cool, süss, gemütlich, toll, in. Nicht nur du kannst neue Wörter kreieren. Flausch ist in der Uni momentan total in Mode, es ist eben flausch."

„Hey, Leute", begrüsst uns in dem Moment Zac, der den Kopf in die Küche gestreckt hat. Wir drehen uns zu ihm um.

„Hey, Alter", erwidert Jace grinsend. Ich hebe zur Begrüssung die Hand. Zac und ich, wir verstehen uns immer noch nicht prächtig, aber er scheint mich als Jasons Freundin akzeptiert zu haben. Vielleicht hat er auch einfach Angst vor einem weiteren Schlag in die Fresse. Ich weiss es nicht, aber es ist auch nicht wichtig.

„Kann ich deine dicken Wälzer endlich von unserem Couchtisch verbannen?", fragt er dann an meinen Freund gerichtet. Jason nickt. Verwirrt sehe ich ihn an, als Zac mit einem erleichterten Seufzen im Wohnzimmer verschwindet. „Musst du nicht lernen? Du hast doch bestimmt bald Semesterprüfungen."

Jason winkt nur ab. „Ich werde das Semester wiederholen. Ich will mit dir nach Norwegen fahren und zudem packe ich die Prüfung sowieso nicht. Ich habe viel zu oft gefehlt, weil ich es nicht wirklich wollte."

„Bringt es dann überhaupt etwas, wenn du wiederholst?", frage ich ihn skeptisch. Er blickt mir in die Augen. „Ja, denn jetzt bin ich mir sicher, dass ich Arzt werden will. Wegen dir."

Verblüfft starre ich ihn an. „Wegen mir?"

Er nickt. „Ich möchte Menschen, wie dir helfen können."

Einen Moment lang bin ich sprachlos, dann beuge ich mich zu ihm und küsse ihn zärtlich. Er erwidert den Kuss glücklich.

„So, bist du zufrieden mit unserer Route?", fragt er mich, als er sich wieder von mir gelöst hat. Ich nicke lächelnd und sehe unsere Liste durch. „3'810 Kilometer und 44 Stunden Fahrt", murmle ich und fahre mit dem Finger der Strecke nach.

„Wir werden mindestens zehn Tage unterwegs sein, bis wir den nördlichsten Punkt Europas erreichen", bemerkt er vorsichtig und sieht mich an. Mein Blick ist noch immer auf die Karte und unsere Liste gerichtet. „Das spielt keine Rolle", erwidere ich leise. Er greift nach meiner Hand und drückt sie sanft. „Hast du keine Angst, dass du..." Er bricht ab und senkt den Kopf, aber ich weiss auch so, was er hätte sagen wollen.

„Doch. Aber das Ziel ist mir nicht mehr wichtig. Ab Muonio werden wir die Nordlichter sehen können. Das Nordkap ist bloss das Fernziel. Ob ich dort ankomme oder nicht, spielt mir keine Rolle mehr."

„Aber mir", haucht er tonlos und streicht mir meine Haare aus der Stirn. „Ich will mit dir am nördlichsten Punkt stehen, um zu sehen, was dahinter kommt."

Ich sehe ihm in die Augen. „Meer. Glitzerndes Meer. Mehr nicht. Genau wie nach dem Tod."

Er schüttelt den Kopf. „Das akzeptiere ich nicht. Nach dem Tod kommst du bestimmt in den Himmel."

Ich nehme sanft sein Gesicht in meine Hände. „Ich glaube nicht an den Himmel, Jace", flüstere ich.

„Aber an irgendwas musst du doch glauben, Jeli!" Er klingt fast ein wenig verzweifelt.

„Ich glaube an eine weite Fläche aus grenzenlosem Nichts. An ein unberührtes Schneefeld, in dem du deine Spuren hinterlassen kannst."

Er legt seine Stirn gegen meine und schliesst die Augen. „Das ist wunderschön", flüstert er leise. „Ich werde mir ein Schneefeld direkt neben deinem erobern."

Lächelnd schliesse auch ich die Augen. „Das hoffe ich doch."

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