Walk the line ✓

By peniku

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„Ich war tot." Mich trennte nur noch ein Hauch von der anderen Seite. Doch ein fremdes Herz entschied für mic... More

Prolog - Zwei Herzschläge.
1 Kirschbonbons.
2 Mr Blümchenhemd.
3 Verstecken spielen für Profis.
4 Der Fall Horan.
5 Abenteuer.
6 Granny Baker.
7 Der verlorene Junge.
8 Kenwood Park.
10 Seelenpanik.
11 Herznarben.
12 Unwahrheit.
13 Der Fall Elounor.
14 Stürmische Gefühle.
15 Hassliebe.
16 Die Schlucht der Freundschaft.
17 Der Fall Payne.
Die erste Erinnerung.
18 Überdosis Glück.
19 Schmetterlinge aus Eis.
20 Magnetische Theorie.
21 389 Tage später.
22 Eine Richtung.
23 Verknüpfte Wege.
24 Selbstlos.
25 Liebeswehmut.
26 Samuel.
Die zweite Erinnerung.
27 Liebe beginnt im Kopf.
28 Wir fliegen.
Die dritte Erinnerung.
Die vierte Erinnerung.
29 Liebe mich.
30 Du, ich, zusammen.
31 Herzentscheidung.
32 Sein letztes Geschenk.
Epilog - Ein alter Freund kehrt zurück.
Nachwort.

9 Der Fall Tomlinson.

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By peniku


【 LOUIS 】


━━━━



Ich hasste Harry! Und wie ich ihn hasste!

Zuerst verschwand er einfach von der Bildfläche und dann erklärte Niall mir am Telefon, dass sämtliche Einnahmen durch unsere Musik augenblicklich stoppten, da Harry vertraglich gegen irgendeine Klausel verstoßen hätte.

Mein Anwalt hatte versprochen sich darüber zu informieren. Ich selbst stieg kaum durch dieses juristische Gequatsche. Somit war mein Konto im all dem Kuddelmuddel erst einmal gesperrt. Die Kirsche auf dem Sahnehäubchen war sowieso die Tatsache, dass ich Liam nicht erreichte.

Ich hatte ihm ein paar unschöne Dinge auf die Mailbox gequatscht und gedroht, dass ich ihm die Kehle aufschlitzen würde, wenn er nicht bald seinen Arsch Richtung Britannien bewegen würde. Dieser Vollidiot wusste nicht einmal, dass seine Langzeitfreundin ausgezogen war.

„Fein!", sprach ich in mein Handy. „Gut, ich tanze nach Harrys Pfeife. Meine Schwestern sind auf dem Weg. Ich habe sie volle vier Tage hier und wenn sie mich noch ganz lassen, dann werde ich mich auf dem Weg nach Timbuktu machen."

„Ach Lou, du machst das schon. Vier Tage gehen schneller herum, als du glaubst. Außerdem musst du nach Carlton's Mills und nicht nach Timbuktu", erklärte Niall mir gelassen.

Ich dagegen setzte mich auf die Steintreppe, die mich in die unteren Wohnräume führten. Gerade hatte ich die zwei Gästezimmer bezogen und mein privates Musikstudio abgeschlossen. Nicht das meine Geschwister noch auf die Idee kamen dort ihre Nasen reinzustecken.

Meine Mum war so erfreut gewesen, dass ich die Rasselbande für die Frühjahresferien einladen wollte, dass ich prompt ein schlechtes Gewissen bekommen hatte. Fizzy würde das Auto fahren, da Lotti wegen ihrem Studium nicht mitkommen konnte.

„Im Ernst, Lou. Das wird schon. Genieße die Tage."

„Wieso bist du so ruhig? Alter, du kommst nicht mehr an dein Geld, wenn unsere Finanzen weiter gesperrt bleiben!", erinnerte ich ihn. Dann hörte ich ihn lachen und plötzlich war mir alles klar. „Du hast gewusst, was Harry vorhat und genügend vorher abgehoben! Du Verräter!"

Niall kicherte und ich runzelte die Stirn. So hatte ich ihn schon lange nicht mehr vernommen. Heiter, irgendwie leicht und sonniger. Unbeschwert, so wie früher. Es war ein komisches und schönes Gefühl zur gleichen Zeit.

„Wenn du deine Feuertaufe bestanden hast, dann komm her und vielleicht läuft dein Konto dann wieder rund", gluckste er. „Ich muss los, Lou. Die Handwerker sind da und ich will mir zeigen lassen, wie man Holzbretter abschleift."

Ich schüttelte den Kopf. Irgendwie hatte sich so einiges verändert, seit wir eine etwas längere Pause machten. Aktuell fühlte es sich auch noch so an, als würde die Pause länger als gedacht anhalten. Keinen von uns zog es vorschnell ins Studio und grausamer Weise war mir das auch ganz recht.

Liam tat als sei alles in Ordnung und dabei nicht mehr er selbst war und Harry... etwas erzwingen wollte, was sich nicht erzwingen ließ. Ich hatte geglaubt, das Abstand etwas ändern würde.

Nun ja, Harry schien das auf seine Weise machen zu wollen, aber warum er mich nicht mit einbezog, gab Rätsel auf.

Und jetzt, nachdem ich zwar noch etwas Geld hatte, aber nicht mehr an mein Konto kam, fing ich an, ihm das verdammt übel zu nehmen. Zum Glück waren meine Einkäufe gestern Morgen noch geliefert worden, sonst hätte ich jetzt ein Problem.

Es klingelte.

Tief seufzte ich und erhob mich. Sah ganz so aus als wären meine Geschwister da. Ich öffnete die Tür und ganz, wie ich es gewohnt war, stürzte Phoebe mir als erstes entgegen.

„Boo!", grölte sie und fiel mir um den Hals, dann spürte ich Doris und Ernest, die gegen meine Beine rannten. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, spazierte Daisy an mir vorbei und stellte ihren Rucksack ab. Dann sah sie in den weiten Flur meines Hauses, der einen Blick in das Wohnzimmer zuließ.

„Ruf die Polizei, hier wurde eingebrochen!", sprach sie erschrocken und ich rollte mit den Augen, dann zog ich an ihrem Haarzopf: „Beruhige dich. Ich hab nur nicht aufgeräumt." Dabei fand ich, dass es für meine Verhältnisse wirklich ordentlich war. Zumindest den Müll hatte ich rausgebracht.

Ich wollte Fizzy bei dem Gepäck helfen und bemerkte gerade noch, dass meine Schwester wie eine glatte Eins rückwärts eingeparkt hatte. Leider machten mir Doris und Ernest einen Strich durch die Rechnung, da sie mich einfach nicht losließen.

„Daisy schnell! Lasst uns in den Pool gehen!", kreischte Phoebe und zog sich das Shirt hemmungslos über den Kopf. Überfordert sah ich, dass meine Schwester ihren Badeanzug schon drunter hatte. Sie warf die Klamotten einfach auf den Boden und rannte durch mein Wohnzimmer. Kurz darauf folgte Daisy ihr etwas weniger wild.

„Seid vorsichtig, keinen Kopfsprung!", rief Fizzy ihnen hinterher und wuchtete die ersten Taschen in den Flur, zu mir meinte sie: „Nimm Doris und Ernest mit zum Pool und pass auf, dass sie nicht absaufen."

Mit diesen Worten schleppte sie das Gepäck nach oben in die Gästezimmer. Zumindest die erste Runde, denn wie ich feststellen musste, hatten alle so viele Taschen dabei, als würden sie ein paar Wochen bleiben.

Ich sah, wie Pheobe eine beherzte Arschbombe ins Wasser machte und es ihr egal war, dass es nicht gerade warm draußen war. Dafür war der Pool immerhin beheizt. Ernest wollte ebenfalls ins Wasser und wenig später sprang er Daisy in die Arme.

Doris wollte lieber bei mir am Beckenrand bleiben und erzählte mir Geschichten aus dem Kindergarten. Mit wem sie spielte, was sie gemacht hatte und das sie mir ganz viele Bilder mitgebracht hatte, die sie mir in ihrer Gruppe gemalt hatte.

„Miss Sweeting ist nett, sie singt ganz viel mit uns. Soll ich mal vorsingen?", bevor ich etwas sagen konnte, trällerte sie auch schon mit Inbrunst: „I've got two arms, one two. I've got two legs, one and two. I've got two eyes, one and two. I've got two ears, one and two. I've got one nose, one. I've got one mouth, one. I've got one smile, one."Jedes Mal hielt sie mir den Finger unter die Nase, wenn es one oder two hieß.

Großer Gott, meine Ohren klingelten. Doch so schnell erlöste Doris mich nicht und dann stimmte Ernest mit übergroßen Schwimmflügeln auch noch bei 'Miss Polly had a Dolly' mit ein.

Ich war froh, als Fizzy zurückkam und mir Doris abnahm. Aber bevor ich mich verdrücken konnte, mit einer fadenscheinigen Begründung, ich würde Getränke holen, griffen zwei nasse Kinderhände nach mir und ich stürzte rückwärts in den Pool.

Sie erdrückten mich.

So, wie sie es schon einmal getan hatten. Einer der vielen Gründe, warum ich weniger nach Hause fuhr. Denn sie bildeten eine Welle an kleinen Monstern, die sich um mich rissen.

Ich konnte kaum stehen, deshalb war es umso schwieriger, sich nicht von den Gören unterdrücken zu lassen. Fizzy war mir keine große Hilfe, sie saß regungslos am Rand des Pools zusammen mit Doris, die das Ganze sehr lustig zu finden schien.

Erst als sich die Zwillinge müde gestrampelt hatten und Ernest Hunger bekam, wurde ich erlöst. Doch als ich mir gerade die Haare mit einem Handtuch trocken rubbeln wollte, drückte mir Fizzy Doris wieder in die Arme und wies die Zwillinge an, sich zu duschen, während sie sich um Ernest kümmerte.

Und da fiel es mir zum ersten Mal auf.

Alles, was Fizzy tat, wirkte absolut einstudiert, so als wäre das ein ganz normaler Tag. Es war wie ein Schlag ins Gesicht, meiner Schwester nachzusehen und festzustellen, dass sie nicht mehr das kleine Mädchen war, sondern... irgendwie erwachsen.

Bei Lottie hatte mich das nie geschockt, schließlich hatte ich zu ihr einen guten Draht und traf sie regelmäßig, da sie mich oft auf Tour besucht hatte. Jetzt zahlte ich ihre Studiengebühren und bekam regelmäßig Anrufe.

In der Küche reichte ich Doris einen Saft und sie fragte: „Können wir Pizza essen?"

Pizza kam bei meinen gesamten Geschwistern gut an. Sie schmatzten zwei Stunden später zufrieden vor sich hin und am Tisch herrschte so ein Chaos, dass man meine Unordnung schon Ordnung nennen konnte.

„Daisy hat Marvin vor dem Schultor geküsst", grölte Phoebe in die Runde und Doris und Ernest riefen synchron: „Iiiiieh!" Meine jüngste Schwester schüttelte energisch den Kopf: „Jungen küssen ist ekelig!"

Daisy selbst lief knallrot an. „Das ist nicht eklig, außerdem habe ich gesehen, das Fizzy Alex auch geknutscht hat!"

„Bei Fizzy ist das okay", erklärte Ernest weise. „Fizzy ist auch älter und Alex cool. Marvin ist uncool."

Dann drehte sich das Thema um Phoebes letzten Fußballspiel, wo sie den Nachbarprovinzverein ordentlich in den Hintern getreten hatten.

„Ich bin eben der Goal-Getter des neuen Jahrhunderts", erklärte sie nicht die Spur bescheiden. Zwischen all den Diskussionen, egal ob gebastelte Fensterbilder, Fußballspiele und Schulnoten wurde mir klar, dass ich irgendwie wohl ziemlich den Anschluss bei meinen Schwestern und auch Ernest verloren zu haben schien.

Denn ich hatte weder gewusst, dass Phoebe mit dem Fußballspielen angefangen hatte und außergewöhnlich gut war, noch, dass Ernest es hasste in Kunst irgendwelchen Mist zusammenzukleben. Ich kannte das, denn ich hatte Kunst auch nicht besonders gemocht.

Um den Abend entspannt ausklingen zu lassen, wurde von allen einstimmig der Vorschlag bewilligt, einen Film zu schauen. Küss den Frosch war der Gewinner und eh ich mich versah, wurde ich auf der Couch von allen Seiten belagert.

„Leute, so geht das nicht, kommt, macht ein bisschen Platz. Ich schmelze noch unter eurer Körperwärme!", sprach ich und dann zitterten drei Lippen, als hätte ich sie angeschrien. Stöhnend sank ich zurück in die Kissen und ließ mich todkuscheln.

Ich verbrachte meine Freitagabende eigentlich nie auf der Couch. Sondern war unterwegs. Es fühlte sich ungewohnt an, Disney zu schauen, Chips zu krümeln und mich um Gummibärchen zu streiten. Am Ende landete ich im Gästezimmer mitten in einem Kissenkrieg.

„Stopp!", krähe ich und bekam eiskalt ein Kissen ins Gesicht. „Hier oben ist spielfreie Zone! So sind die Regeln!"

„Wenn du dich an alle Regeln hältst, verpasst du den ganzen Spaß", hielt Phoebe dagegen (Der Spruch war eindeutig von mir) und schon segelte das nächste Kissen in meine Richtung. Gott, ich klang schon, wie meine Mutter. Mein Spaßlimit war jedoch zwanzig Minuten später erreicht, als mein Gesicht in die Matratze gedrückt wurde und drei Kinder auf mir herum hüpften.

Ich hatte keine Chance, das Bett für mich zu haben, denn Doris, Ernest und Phoebe bestanden alle drei darauf, bei mir zu schlafen. Somit musste ich, der große Superstar, um halb elf ins Bett. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich je so früh schlafen gegangen war. Zumindest das letzte halbe Jahr. Hellwach lag ich umgeben von Teddys und Kinderärmchen.

Phoebe strampelte im Schlaf immer wieder. Vielleicht träumte sie vom Fußball. Ernest erzählte etwas, verstummte und fing wieder an, vor sich hinzumurmeln. Lediglich Doris schlief auf den Rücken, wie eine Tote. Ganze drei Nächte würde ich das hier schaffen müssen.

Die Nacht war furchtbar kurz. Immer wieder schlug mir Phoebe eine Hand ins Gesicht und am Morgen hatte ich das Gefühl um zehn Jahre gealtert zu sein. Nicht mal Kaffee belebte meine Geister. Ich war alles andere als wach und Fizzy schien Erbarmen zu haben. Sie schlug den anderen vor, dass sie in den Hyde Park gingen und Enten fütterten. Bei allen fand Fizzy Anklang, nur bei Daisy nicht. Also blieb sie bei mir.

Erleichtert schloss ich die Tür hinter der Rasselbande und raufte mir die Haare. Beim lauten Frühstück hatte Doris Stimme an meinen Nerven gezerrt. Ich war nicht einmal dazu gekommen, mich zu rasieren, oder zu waschen.

In der Küche stellte ich fest, dass Daisy bereits damit angefangen hatte, den Tisch abzudecken und die Spülmaschine einzuräumen. Ich beschloss also im Wohnzimmer Kram zusammenzuräumen und sah, dass Fizzy ihren Laptop angelassen hatte und ein Block mit Telefonnummern, Adressen und Anforderungen daneben lagen.

Was war das?

Ich ging an den Laptop und entdeckte die Jobbörse. Ohne Scheu klickte ich mich durch die Angebote. Sie alle waren im Umkreis von Oxford zu finden. Daisy lehnte sich über die Couch und schien das nicht ungewöhnlich zu finden. „Oh, Fizzy sucht also immer noch? Ich dachte, sie hätte mittlerweile was." Dann hopst sie wieder runter. Ich drehte mich zu ihr um, sie wollte gerade den Raum verlassen.

„Was sucht sie?"

„Einen Nebenjob", erklärte mir Daisy, als würde das auf der Hand liegen. „Du weißt schon, im Herbst geht ihr Studium in Oxford los."

In meinem Kopf ratterte es. „Die Bewerbungen sind doch erst in acht Wochen!"

Meine kleine Schwester neigte leicht den Kopf: „Aber Lou, sie hat doch schon die Zusage für Oxford. Außerdem entfallen ihr diese... dieses Geld, das man sonst für ein halbes Jahr zahlen muss."

„Ihr wurden die Studiengebühren erlassen?", hakte ich nach und Daisy nickte: „Genau."

Das gab mir ein Rätsel nach dem nächsten auf. „Weshalb?" War das so ein Familienbonus, Bafög, oder so ein Quotending? Von den Studienregeln hatte ich nicht besonders viel Ahnung.

„Nein, sie hat ein Stipendium, weil sie so gute Noten hat. Fizzy ist nämlich echt schlau", sprach Daisy und setzte hinzu: „Ich bin ein bisschen oben." Dann polterte sie die Treppen hoch. Ich sah ihr einen Moment geschockt nach. Fizzy hatte ein Stipendium für die University of Oxford?

Warum suchte sie nach einem Job? Ich würde ihr den Unterhalt problemlos bezahlen. Kurzerhand rief ich meine Mutter an und erzählte ihr, was ich herausbekommen hatte und mich Fizzys Verhalten verwirrte. Zuerst schwieg meine Mum, dann sprach sie langsam: „Ich denke nicht, dass sie dich nach Hilfe fragen wird, Boobear."

„Wieso nicht? Ich meine, ich würde, ohne mit der Wimper zu zucken-"

„Ihr Geld geben, ich weiß, Schätzchen", schnitt mir meine Mum den Satz ab. „Aber Fizzy will kein Geld von dir. Sie ist selbstständig und verantwortungsbewusst, um sich ihren eigenen Weg zu suchen. Wenn du ihr wirklich helfen willst, dann gib ihr ein bisschen Zeit mit dir. Das ist alles, was sie wirklich will."

Ich schluckte hart und setzte mich auf die Couch. Fizzy war bei mir immer untergegangen. Lottie nahm mich sehr ein, Phoebe und Daisy hatten die Lautstärke immer an sich gerissen und Doris und Ernest waren die Kleinen gewesen. Doch richtig kennen tat ich sie nicht.

Ich sollte mich schämen.

Ein unangenehmer Kloß machte sich in meinem Hals breit und ich verabschiedete mich knapp von meiner Mutter. Harrys Auftrag war nicht dafür da, dass er mich nervte, sondern damit ich etwas begriff. Ich hatte meine Geschwister ziemlich aus den Augen verloren.

Sie erschienen mir nicht mehr so wichtig, wie am Anfang, bevor wir mit One Direction anfingen die Welt zu erobern. Ich hatte mir immer vorgegaukelt, dass sie auf mich warten würden, aber ihre Welt drehte sich genauso weiter, wie meine. Sie wurden älter, entwickelten sich in verschiedenen Richtungen und ich war nicht dabei.

Plötzlich fühlte ich mich merkwürdig ausgeschlossen. Nur das ich den Schritt von ihnen weg gemacht hatte. Ich rieb mir über das Gesicht und dann hörte ich es das erste Mal.

Sanfte, leise, fast schon gedämpfte Klänge einer Violine.

Es war nur Daisy im Haus. Lautlos schlich ich die Treppen hoch und bemerkte, dass die Tür zum Gästezimmer nicht richtig geschlossen war. Vorsichtig öffnete ich dir Tür und sah Daisy am Fenster. Sie spielte Geige. Ganz für sich und mit geschlossenen Augen. Jetzt begriff ich auch, warum sie zu Hause hatte bleiben wollen. Damit sie etwas Ruhe für sich hatte.

In diesem Augenblick beschloss ich, dass ich Harrys Aufgabe nicht nur pro Forma abhaken würde, sondern das ganze eine Gelegenheit war, die Zeit mit meinen Geschwistern zu genießen und sie kennen zulernen. Vielleicht gab mir das eine Chance, etwas aufzuholen, was ich in den letzten Jahren verpasst hatte.

Daisy zuckte erschrocken zusammen, als sie bemerkte, dass ich in der Tür stand. Sie hörte sofort auf zu spielen. „T-Tut mir leid, ich wollte nur etwas üben."

Ich hob abwehren die Hände, dann sah ich auf die abgenutzte Geige und schließlich in Daisys Gesicht. Knapp räusperte ich mich, dann schlug ich vor: „Wie wäre es, wenn wir zusammen üben?"

Im Wohnzimmer stand mein Flügel, ich hatte ihn schon ewig nicht mehr genutzt, einfach, weil ich ungern allein spielte. Früher hatte ich regelmäßig für Eleanor gespielt. Sie hatte es geliebt mir zu zuhören. Morgens, noch bevor wir gefrühstückt hatten, nachts, wenn wir von einer Party kamen, eigentlich immer. Aber ob sie das wirklich getan hatte, empfand ich mittlerweile als fraglich.

Unsicher trat Daisy im Wohnzimmer neben mir von einem Bein auf das andere. Ich klappte den Kastendeckel am Piano hoch. Meine Schwester biss sich auf die Unterlippe, schließlich meinte sie: „Ich glaube, das ist keine so gute Idee."

„Quatsch, komm, was kannst du spielen?", verwarf ich ihren Einwurf. Sie nuschelte: „Für Elise?"

Wir begannen zusammen zu spielen, erst hoppelig und nicht ganz stimmig, dann fingen wir von vorne an und ohne Hast und Druck fanden wir eine Linie. Ein Lächeln glitt über meine Lippen und als ich in Daisys Richtung blickte, bemerkte ich, dass auch sie glücklich zu sein schien.

Nach 'Für Elise' folgten weitere Lieder. Es war so wunderschön mit meiner Schwester zu spielen. Plötzlich war nicht alles nur noch laut und anstrengend, sondern Besonders. Allein Daisys rote Wangen waren es wert.

Ich hatte vergessen, wie toll es war, mit anderen zu musizieren.

Am nächsten Morgen spielte ich mit Phoebe im Garten Fußball und zeigte ihr einige Tricks. Noch bevor wir gefrühstückt hatten, waren wir völlig verdreckt und mein Rasen sah furchtbar aus. Aber es störte mich nicht. Stattdessen musste ich feststellen, dass Phoebe für ein Mädchen einen ordentlichen Schuss hatte. Sie hatte Technik, Kraft und ließ sich begierig alles zeigen.

Erst als Doris verkündete, dass der Speck kalt werden würde, huschten wir in die Küche. „Ihr seht aus, wie Schlammkobolde!", stellte Ernest kichernd fest und als ich mich mit meinem Kaffee zurücklehnte, war die Lautstärke nicht mehr erdrückend. Chaotisch ja, aber nach und nach durchblickte ich das System. Am Tisch gab es immer ein zentrales Thema, aber nie aus allen Ecken Zustimmung.

Mittags wollten wir zum London Eye und Fizzy verlangte, dass sie sich vorher alle gründlich waschen würden und Phoebe in die Wanne musste. „Du auch, Lou. Du riechst furchtbar!"

„Ja gleich", hielt ich Fizzy hin, die damit anfing, den Tisch zu räumen. „Hör mal Fizzy, du musst nicht neben dem Studium arbeiten", versuchte ich ihr zu erklären als wir alleine waren. „Ich übernehme deine Miete und die Nebenkosten."

„Es wird mich nicht umbringen, nebenbei ein bisschen zu arbeiten."

„Und mich bringt es nicht um, dir Geld zu überweisen", hielt ich dagegen. Ich verdiente schließlich, selbst in der Zeit etwas, wenn ich nicht unterwegs war. Zumindest dann, wenn mein Konto wieder freigeschaltet wurde.

Fizzy drehte sich um und setzte sich auf den Stuhl auf den zuvor Ernest gesessen hatte. „Ich will dein Geld nicht", sprach sie ruhig und betonte jedes einzelne Wort. „Mach dir keinen Kopf darüber. Ich komme schon klar."

Es klang selbstbewusst und so sicher, dass es mich nicht die Spur beruhigte. Ich wollte ihr Leben erleichtern, immerhin hatte ich die Mittel dazu. Früher hatte meine Mutter immer an allen Ecken sparen müssen, jetzt nicht mehr und das sollten alle meine Geschwister zu spüren bekommen. Ihnen sollten sämtliche Türen offen stehen. Genau das sagte ich Fizzy auch. Sie hörte mir zu und nickte schließlich.

„Lass mich irgendwas tun, was dir im Studium hilft", schloss ich. Sie schwieg und stand auf, als sie das Brot weggeräumt hatte, drehte sie sich schwungvoll um: „Okay, du kannst mir helfen."

Gespannt sah ich sie an und sie verschränkte die Arme vor der Brust: „Alle zwei Monate gehen wir etwas essen. Du lädst mich ein."

„Was?"

„Ich würde ja jeden Monat einmal sagen, aber bei deinem Terminkalender sind alle zwei Monate schon ein Drahtseilakt. Das Restaurant suchst du aus und ich darf mir den Magen vollschlagen, egal mit was. Das heißt, ich darf auch ein Glas Wein trinken, oder ein ordentliches Bier."

Überrumpelt blinzelte ich. „Ich-"

„Du würdest meinem Magen helfen."

„Indem wir was essen?", wiederholte ich dümmlich und Fizzy nickte: „Ganz genau. Nur wir beide. Keine Lottie, keiner deiner Kumpels, keine Bimbos-"

„Bimbos?"

„Ach komm Lou, nach Eleanor triffst du dich nur noch mit furchtbaren Püppchen", knallte sie mir ehrlich ins Gesicht. „Alle sind sie blond, dumm und giggelig. Wir wetten sogar schon darum, wie lange dieser Sasha Luss, dein neustes Püppchen, mit dir um die Häuser zieht, bis sie dir zu langweilig wird."

„Habt ihr den Verstand verloren?", entwich es mir nun. Dreist wedelte Fizzy mit der Hand herum: „Haben wir einen Deal mit dem Essen?"

Das sEssen war mir gerade so egal, dass ich überhaupt nicht drauf einging. „Wer wettet?"

„Wir alle", gab Fizzy freimütig zu. „Aktuell liegt Phoebe mit einem beachtlichen Gewinn vorne."

Das war unglaublich! Niemals hätte ich geglaubt, dass sie so etwas machen würden. Ich hörte, wie die Horde der kleinen Monster zurückkam und ohne Absicht kopierte ich Fizzys Haltung und verschränkte die Arme vor der Brust. Ohne Umschweifen fuhr ich die Zwerge an: „Ihr wettet auf meine...-" Ja, ich wusste selbst nicht, wie ich sie nennen sollte.

„Auf deine Affären?", half Fizzy bereitwillig aus und ich funkelte sie wütend an. Phoebe strahlte vollkommen unangebracht: „Ist doch cool, denn ich habe hundertfünfzig Pfund von den anderen bekommen, weil du keine Lust mehr auf diese rothaarige Lady hattest. Aber mit dieser Sasha Luss musst du bald Schluss machen, sonst verliere ich achtzig Mäuse."

Ich starrte sie an, als würde ich sie heute zum ersten Mal sehen. Daisy zog sich ihre rote Mütze über und sprach: „Du warst nicht da, also konnten wir dich nicht fragen, was du so machst."

„Also haben wir angefangen den Klatschzeitschriften zu folgen", ergänzte Phoebe. „Es macht wirklich Spaß, weißt du? Aber du darfst ruhig einen Tipp geben, damit wir wissen, wie lange das Kapitel Luss noch dauert."

Leicht angefressen ging ich unter die Dusche und war auch noch nicht sonderlich gut gelaunt, als meine Geschwister albern Richtung London Eye zogen. Natürlich hatte ich Frank, einen Personenschützer im Nacken.

So ganz allein mit diesem auffälligen Pulk unterwegs zu sein, war nicht ganz sicher. Der Wind war etwas frisch, doch davon schienen meine Geschwister nichts zu merken. Erst vor dem London Eye zögerte der erste.

Ernest legte den Kopf in den Nacken und schien nicht besonders wild darauf, die Gondel zu betreten. Kurzerhand erklärte ich den anderen: „Geht ihr nur, mir ist nicht gut, ich warte auf der Bank da vorne auf euch."

Mein Bruder ging in die Falle, indem er meinte: „I-Ich bleibe bei Boo." Die Erleichterung auf seinem Gesicht war grenzenlos und wenig später kauten wir an einer Brezel und ließen die Seele auf der Bank baumeln. So eine Fahrt mit dem London Eye war lang und ich hoffte, dass mich zwischenzeitlich kein Fan entdeckte.

„Manchmal sind Mädchen doof", verkündete mein Bruder und kurz darauf lernte ich, dass nicht nur ich es im Frauenhaushalt sehr anstrengend gefunden hatte. Aber als der Kleine war es wohl noch eine Nummer schwerer.

Doris hampelte auf dem Rückweg an meiner Hand herum und als ich am Ende des vierten Tages meine Geschwister verabschiedete, war mir zum Heulen zumute. Einfach, weil ich komplett vergessen hatte, wie es sich anfühlte, ein Teil der Familie zu sein.

Am Vorabend hatten wir so viele Selfies und Erinnerungsfotos geschossen, sogar aufgenommen, wie Daisy und ich ein Cover von Baby one more time spielten, dass mein Instagram fast einbrach.

Die Fans zeigen sich begeistert darüber, dass der Erste von uns sich endlich einmal wieder regte. Ein wenig bekam ich ein schlechtes Gewissen, dass ich sie so sträflich vernachlässigt hatte. Etwas verloren winkte ich dem Wagen meiner Schwester hinterher und hatte einen Kloß im Hals, da Doris und Ernest bitterliche Tränen geweint hatten. Sobald ich alle von Harrys Aufgaben erledigt hatte, würde ich meine Geschwister besuchen. Ein Vorsatz, den ich einhalten würde.

Kaum, dass ich wieder in der Wohnung war, rief ich Niall an und teilte ihm mit, dass ich schon beim Packen wäre. Dann ließ ich mir die genaue Adresse geben und kurz vor Schluss reichte er mich an diese ominöse Miss Baker, die Harry angeheuert hatte, weiter.

Ich sollte jemanden mitnehmen, der den Jungs und mir ein wenig unter die Arme greifen sollte und weitere wichtige Unterlagen mitbringen würde. Außerdem bat sie mich im Flüsterton, dass ich doch bitte bei Niall einen Abstecher machte und eine Gitarre mitgehen ließ. Ich wunderte mich darüber, denn normalerweise reiste der blonde Ire nirgends ohne seine heißgeliebte Gitarre hin.

Schlussendlich fuhr ich also mit meinem schwarzen Geländewagen einen Bogen und sammelte zuerst die Gitarre ein. Zum Glück besaß ich Nialls Zugangscode und kam ungehindert in das Haus. Danach kurvte ich zur nächsten Adresse. Ich hatte einen langen Weg von mir, wenn ich noch vor den Abend in Carlton's Mills sein wollte.

Vor einem klassischen Altbau parkte ich und sprang aus dem Auto. Die Haustür war offen, ein Reisekoffer stand zwischen Tür und Angel, ebenso mehrere Stofftaschen, voller Bücher, Akten und schlussendlich sogar ein alter CD-Spieler.

Verwirrt sah ich mich um und wollte schon am Klingelfeld nach einem bekannten Namen suchen. Schließlich hatte mir diese Miss Baker nicht gesagt, wen ich hier abholen sollte.

Schritte ertönten und ich sah hoch ins Treppenhaus. Frauenabsätze klapperten und dann sprach eine weibliche Stimme leicht genervt: „Ich habe alles eingepackt, was du mir gesagt hast, aber ernsthaft Nella, du solltest dringend in deiner Rumpelkammer aufräumen. Man findet absolut nichts!"

Die Stimme, sie kam mir unheimlich bekannt vor. Mein Herz schlug bis zum Hals, ich erkannte eine zartgliedrige Hand am Gelände und dann hatte ich die brutale Gewissheit. Ihr braunes, langes Haar war zu einem eleganten, seitlichen Dutt gebunden. Unter den schwarzen Mantel lugte ein rotes Kostüm hervor und in der einen Hand hielt sie ihr Handy, in der anderen eine Tüte voller Lebensmittel.

Eleanor blieb prompt auf der Stufe stehen, als sie mich entdeckte. Sie spannte sich an, ihre braunen Augen musterten mich und dann presste sie die Lippen aufeinander.

Ich regte mich nicht, stattdessen sah ich sie einfach nur an. Bitterkeit machte sich breit und sofort verspürte ich wieder sämtliche Abneigung und all die Demütigung, der sie mich ausgesetzt hatte, wurde wieder gegenwärtig.

Sie fing sich als erstes wieder und ganz langsam wandte sie sich wieder ihrem Handy zu. „Schätzchen, du weißt, dass du gerade dein Todesurteil unterschrieben hast?"

Todesurteil war das richtige Stichwort.

Ich konnte mir Besseres vorstellen, als mir für die nächsten Stunden ein Auto mit Eleanor zu teilen und scheinbar erging es ihr nicht anders. Sie legte auf und wieder lag ihr Blick auf mir. Ich weigerte mich, auch nur ein einziges Wort zu sagen.

„Hallo Louis", war ihre knappe Begrüßung. Ihre Stimme klang emotionslos, genauso wie ihre Miene. Ich wog die Chance ab, wie gut es kommen würde, wenn ich einfach ohne sie fuhr. Denn wenn ich es drauf anlegte, dann war ich schneller weg, als sie Simsalabim sagen konnte.

Schlussendlich bückte ich mich einfach, griff nach dem Koffer und der ersten Stofftasche. Ich wusste nicht, was für Aufgaben noch auf mich warten würden.

Am Ende schickte Harry mich noch einmal zurück, um sie zu holen. Oder er bestrafte mich, indem er höchst peinliche Fotos von mir an die Öffentlichkeit brachte. Nur für den Fall, dass er die Sperrung meines Kontos nicht als Strafe genug empfand.

Eins wusste ich jedoch ganz genau: Die Würde ließ ich mir kein zweites Mal von Eleanor nehmen.




⸙ ● ⸙ ● ⸙

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