Midnight Song

By paintingmyskies

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„Hast du noch Angst?“ „Nein“, sagte Annie bestimmt und Roman öffnete überrascht die Augen. „Warum nicht?“ „... More

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Tag 4384 - 16. Geburtstag
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Tag 4749 - 17. Geburtstag
Tag 5084 - Kälte
Tag 5091 - Gedankenspiele
Tag 50115 - 18. Geburtstag - Erwachsen (Teil 1)
'Soundtrack'
18. Geburtstag - Erwachsen (Teil 2)
Nachwort

Epilog - Tag 65 nach der Kindheit

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By paintingmyskies

Es war melancholisch, auf das kleine, geduckte Fachwerkhaus zurückzublicken, umgeben von Blumenbeten und riesigen Maschinen, die noch stillstanden. Der Termin war für 10 Uhr angesetzt, und mit
einem Blick auf ihre silberne Armbanduhr stellte Annie fest, dass die
Zeit schon gekommen war, jedoch die Arbeiten noch nicht begonnen
hatten. Mehrere Männer mit orangefarbenen Helmen standen auf dem Vorhof und schienen angeregt zu diskutieren, während sie sie unbemerkt von der anderen Straßenseite beobachtete.

Gestern hatte Annie ihr Abiturzeugnis erhalten, Schnitt 2,1. Sie war zufrieden damit, doch in der neuen Wohnung ihrer Mutter konnte sie trotzdem noch nicht schlafen. Ihre Mutter hatte sich zum Auszug aus dem Haus Annies Kindheit entschieden, als klar wurde, dass sie zum Studium die Stadt verlassen würde. Wahrscheinlich ging es zurück nach Dresden für sie – Lehramt studieren. Verantwortung
übernehmen. Die nachfolgende Inspektion hatte das Schicksal des
Fachwerks entschieden.

Annie wurde aus ihren Gedanken geschreckt, als eine helle Stimme sie von der Seite ansprach. „Entschuldigen sie bitte?" Verwundert drehte sie ihren Kopf. Eine brünette Frau, einige Zentimeter kleiner als sie selbst, blinzelte sie geblendet von der ironischerweise strahlenden Sonne an. Ihre strahlend blauen Augen stachen sofort aus ihrem Gesicht heraus und dominierten über der scharfen Nase und dem schmalen Mund, der zu einem höflichen Lächeln verzogen war. „Wissen Sie, ob dieses Haus heute abgerissen wird?" Sie deutete zum geduckten Häuschen hinüber. Die Haare hatte sie zu einem ordentlichen Knoten gesteckt und sie schien ungeschminkt zu sein.

Annie arrangierte die Träger ihrer Handtasche und nickte bestätigend. „Ja, die Arbeiten sollten gleich anfangen", antwortete sie so neutral wie möglich. „Wissen Sie vielleicht den Grund?", hakte die Brünette nach. Die Fragerei war Annie zwar suspekt, aber die Frau erschien ihr sympathisch – eine Aura von Wärme schien sie zu umgeben, und so verließ anstatt einer skeptischen Frage eine ehrliche Antwort ihre Lippen. „Das Bauwerk
ist marode", sagte sie, „Einige tragende Balken sind morsch, andere von Termiten befallen. Die Renovierungen wären zu aufwendig, sie würden sich nicht lohnen." Die Fremde nickte. „Vielen Dank", sagte sie, schien jedoch abwesend. Ihr Blick war auf das Haus
gerichtet. Eine der Maschinen setzte sich geräuschvoll in Bewegung.

Annie fasste sich zusammen. „Warum wollen Sie das alles wissen, wenn ich fragen darf?" Die Frau zuckte mit den Schultern. „Ich bin in diesem Haus aufgewachsen", erklärte sie, ohne Annies Blick zu erwidern. Dann lachte sie leicht. „Obwohl das natürlich einige Jahre her ist. Ich war gerade in der Gegend und dachte, ich könnte mal dem Haus einen kleinen Besuch abstatten." Überrascht weiteten sich Annies Augen. „Ich auch", eröffnete sie ihr. „Wir sind gerade erst dort ausgezogen." Breit lächelte die Frau Annie an.

„Was für ein Zufall", bemerkte sie und streckte Annie ihre Hand aus. „Emma Belcourt", stellte sie sich vor und schüttelte kräftig die Hand der anderen. „Andria Calmer", erwiderte sie und lächelte zurück.

Kurz herrschte Schweigen zwischen den beiden, als
ihre Aufmerksamkeit zurück auf die Abrissgeräte gelenkt wurde. Der Kran mit der Abrissbirne begann zu schwingen und traf auf die Hauswand, die wie Mürbeteig unter ihrer Wucht nachgab. Krachend brachen Wandstücke hinunter und trafen hart auf dem Boden auf. Annie zuckte zusammen, als der Blick auf ihr altes Zimmer freigelegt wurde. Tröstend legte Emma eine Hand auf ihren Arm.

„Es ist schon traurig, sich das anzusehen", sprach sie aus, was beide Frauen dachten. Irgendetwas an ihrer Präsenz schien Annie vertraut – sie schien alles ein bisschen weniger schlimm zu machen. Sie nickte bestätigend. „Andria – darf ich Sie so nennen?", fragend blickte Emma sie an und fuhr fort, als Annie nickte. „Andria, wir müssen nicht zugucken", sagte sie. Das Mädchen schluckte, doch gab ihr Recht. Sie wollte sich bereits verabschieden, doch die Ältere hielt sie auf. „Es mag zwar ein bisschen seltsam erscheinen", räumte sie ein, „Doch ich bin heute wegen dem Todestag meines Bruders hier, ich möchte sein Grab besuchen. Er ist auch in diesem Haus aufgewachsen." Sie machte eine Pause, und Annie traf es wie ein Schlag.

Natürlich! Wie hatte sie es nicht vorher bemerken können? Die beiden hatten die gleichen Augen, die gleiche Nase, die gleiche Ausstrahlung. „Würdest du
mich vielleicht begleiten? Ich bin allein hier und vielleicht könnten wir uns noch ein wenig unterhalten."

-

Sein Grab war unscheinbar, das war das einzige Wort, das Annie zu dem Anblick einfiel. Eines von vielen in einer von vielen Reihen auf dem Stadtfriedhof. Es war komplett mit niedrigem Buchsbaum überzogen, wahrscheinlich um Aufwand und Geld zu sparen – für sie war er schon lange tot, lange Jahre. Die Daten auf dem weißem Marmor, dunkel eingraviert unter seinem Namen, kamen ihr so surreal vor.

Jean-Roman Belcourt,
*09.07.1969
18.08.1987.

Sie wusste nicht einmal, dass seine Familie französisch war, er hatte seinen Namen immer deutsch ausgesprochen, also hatte sie es auch getan. Annie wusste, dass Emma neben ihr mit ihr redete, doch sie bekam es nur am Rande mit. Ihre Ohren schienen zu summen und die Ränder ihres Sichtfeldes wurden schwarz – es war einfach zu viel. Er war echt.

Er hatte gelebt und er war gestorben. Er hatte lange vor ihr ein Leben gehabt, mit Familie und Freunden und Lieben und Leiden. Die Luft schien immer knapper zu werden, ihre Brust immer enger. Sein Grab zu sehen...

„...Um uns gekümmert, als unsere Eltern es nicht mehr konnten. Unser Vater hatte psychische Leiden, die ihm letztendlich – aber viel später – das Leben gekostet haben, und unsere Mutter war plötzlich todkrank. Es war eine schwere Zeit für uns", sagte die Brünette gerade, als es Annie gelang, wieder in die Realität zurückzukehren. „Woran ist eure Mutter denn gestorben?", hakte Annie plötzlich nach. Das hier war womöglich ihre einzige Gelegenheit zu versuchen, die Bruchstücke von Romans Vergangenheit zusammen zu puzzeln, zumindest einen Teil von ihnen. Erstaunlicherweise verzog sich Emmas schmaler Mund zu einem Lächeln. „Sie starb nicht. Alles deutete darauf hin, dass ihre Tage gezählt waren, doch plötzlich änderte sich alles; die Therapie schlug an", erzählte sie. „Meine Kinder können mit ihrer Großmutter spielen." Eine Pause entstand, Emma betrachtete scheinbar gedankenverloren den Grabstein, doch Annie erkannte, dass ihre Augen unfokussiert waren. Emma war in Gedanken nicht mehr neben Annie, sondern in ihrer Kindheit. Es war erstaunlich, dachte Annie, wie ähnlich die beiden sich bei genauerer Betrachtung sahen. Die Form ihres Kopfes und der Wangenknochen, der dichte Wimpernkranz; ihre Verwandtschaft war unverkennbar, auch wenn Emmas Haut bereits von feinen Furchen durchzogen war. Die Frau schüttelte den Kopf und murmelte leise: „Du gehörst einem anderen Jahrhundert an, unglaublich." Annie hatte nicht das Gefühl, dass die Worte dafür bestimmt waren, von ihr gehört zu werden, also schwieg sie.

Vorsichtig umrundete Romans jüngere Schwester die Grabstätte und wischte ein paar Nadeln, die von einer der umliegenden Tannen auf den Grabstein gerieselt sein mussten, herunter. Sie tat es sanft, mit einem liebevollen Ausdruck in den Augen, der Annie das Gefühl gab, ein Eindringling zu sein. Doch dieser Moment war schnell vorbei, und Emma wandte sich wieder direkt an sie. „Unser großer Bruder konnte leider nicht mehr miterleben, wie Maman gesund wurde. Sie sagten, es wäre Selbstmord gewesen, er wäre vom Kirchturm gesprungen. Nachts, als wir alle schliefen, circa Mitternacht." Sie seufzte. „Keiner
von uns glaubte daran, sein Körper war zu... Nur sein Genick war gebrochen. Keine anderen Wunden. Aber was rede ich", unterbrach sie sich selbst und lachte leise. „Es bringt nichts mehr und ich belaste dich nur mit meinem Gerede." Annie wollte protestieren, doch Emma wehrte sofort mit einer Geste ab, als sie den Mund öffnete.
„Du musst gar nichts anderes behaupten." Sie warf einen Blick auf
ihre Armbanduhr und ein erstaunter Ausdruck breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Schon 12 Uhr! Ich muss jetzt aber wirklich weiter. Vielen Dank, mein Kind, das hättest du nicht tun brauchen." Sie tätschelte Annies Wange, beinahe großmütterlich. Annie unterdrückte den Impuls, ihr zu danken.„Ich wünsche dir alles Gute, Andria", versprach sie grinsend, das gleiche Grinsen.

Unwillkürlich lächelte Annie breit zurück und gab ihr ihre besten
Wünsche. „Es war schön, dich kennenzulernen", fügte sie hinzu. „Man sieht sich im Leben immer zwei Mal", zwinkerte die Dame und ging ein paar Schritte rückwärts. „Vielleicht werden wir uns noch einmal begegnen." Und damit kehrte sie ihr den Rücken zu und verschwand. Annie sah ihr nachdenklich hinterher. Sie wusste nicht, ob es gut oder schlecht war, eine seiner drei kleinen Schwestern getroffen zu haben. Einige ihrer Fragen wurden beantwortet, doch wiederum neue wurden aufgeworfen. Roman würde, so gut sie ihn auch kannte, wohl immer ein Mysterium für sie sein. Sie sah zurück zum Grabstein, warf einen Blick in die Richtung, in die Emma verschwunden war. Die Frau war verschwunden. Annie ließ sich auf dem Kieselweg nieder und erlaubte sich endlich, zu weinen. Eine Träne rollte ihre Wange hinab, dann die zweite. Irgendwie trotzdem wütend auf sich selbst wischte sie sich energisch über das Gesicht, in das der Wind ihre Haare peitschen ließ. Einige Vögel stoben mit lauten Gekrächze auf. Reflexartig schaute Annie sich nach ihnen um, doch sie waren schon fortgeflogen. Langsam ließ sie ihren Kopf auf ihre Knie sinken und zog diese nah an sich heran. Sie musste einen seltsamen Anblick bieten – eine junge Frau, zusammengekauert und weinend vor einem viel zu altem Grab für jemanden, den sie kennen hätte können. Doch es war ihr egal. Dieser Friedhof, wie alle anderen auch, war für die Lebenden, für die Hinterbliebenen – und das war sie doch irgendwie auch. Roman war ihre Familie gewesen, er war ihre Kindheit gewesen.

Annie liebte Roman aus ganzem Herzen, als kleines Mädchen genauso wie jetzt. Und er hatte sie geliebt, wie eine vierte kleine Schwester. Sie waren ein Teil des jeweils anderen gewesen, ein bedeutender Teil, und auch wenn sie Roman zu Lebzeiten nicht gekannt hatte, war Annie eins klar:

Sie hatte das Recht, um ihren Roman zu trauern.

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