Tag 3287 - 13. Geburtstag

1.2K 131 6
                                    

U N E D I T E D 

Annie hörte nicht, wie es Zwölf schlug. Das einzige, was sie hören konnte, waren ihre Gedanken, unerträglich laut, wie heulende Monster, die an den Rändern ihres Bewusstseins kratzten.

Die letzten Monate waren hart gewesen. Irgendwie schien sie nicht mehr mit reinzupassen, dazuzugehören. Irgendwie schien die ganze Welt sich gegen sie gerichtet zu haben, jedenfalls kam es ihr so vor. Und dass sie wusste, dass sie sich anstellte und dass andere es viel schlimmer hatten, ließ sie nur noch tiefer in dieses Lock sinken.

Annie war 13 und jung und fand gerade heraus, dass das Leben nicht so schön und einfach ist, wie sie früher gedacht hatte, und es tat weh.

Ein Wimmern drang aus ihrer Kehle und sie vergrub ihren Kopf noch tiefer in ihrem Kissen, um das Geräusch zu ersticken. Ihr gesamter Körper wurde von ihren Schluchzern geschüttelt und ihre Schultern zitterten.

Sie hielt die Luft an als plötzlich als die Matratze neben ihr unter einem Gewicht nachgab. Erst als sie die kalte Hand in ihrem Rücken spürte, war sie sich sicher, dass er es war.

„Ist es schon Mitternacht?“, murmelte sie in ihr Kopfkissen hinein, ohne sich zu bewegen. Es kam keine Antwort; war ja irgendwie klar.

„Was ist los?“ Seine Stimme klang rau. Sie konnte sich nicht entscheiden warum. Mitgefühl? Trauer? Desinteresse?

„Nicht so wichtig“, murmelte Annie, nur um von ihm geschüttelt zu werden. Wiederwillig drehte sie sich auf die Seite, sodass sie ihn ansehen konnte, wie er auf ihrer Bettkante saß und nur seine Silhouette im Mondlicht erkennbar war. In Gedanken dankte sie kurz dafür, dass sie das Licht ausgemacht hatte, sodass er nicht sehen konnte, wie rot ihre Augen waren. Er dachte daran, dass er noch nie gesehen hatte, wie geschwollen und rot Augen vom Weinen werden konnten. In seiner Lebzeit hatte er nie viel geweint, es wollte einfach nicht so richtig zu ihm passen.

„Du lügst“, merkte er an. Annie schlug ihre Augen nieder, und es kehrte wieder Stille ein.

„Wieso erzählen wir unseren Kindern, die Welt wäre gut?“ Es folgte eine lange Pause. Roman streckte sich langsam neben Annie aus und dachte über ihre Frage nach. Sie hatte Recht. Nicht nur spielen wir unseren Kindern eine perfekte Welt vor, wir spielen ihnen auch vor, dass die Menschen gut sind, dass wir gut sind. Warum?

„Ich glaube, damit wir uns selbst nicht das Gegenteil eingestehen müssen“, antwortete er dann langsam. Annie hob ihre Augen und betrachtete sein Profil. „Wie meinst du das?“, hakte sie nach. Sie versuchte, sich die Überraschung nicht anmerken zu lassen. Roman, so dachte sie sich, war immer gut im Ausweichen von Fragen gewesen. Es kam selten vor, dass er eine so ehrlich und direkt beantwortete.

„Ich denke, solange sie es glauben, also die Kinder, können wir es uns auch vorspielen“, erklärte er, „Es ist leichter, sich an das zu klammern, was jemand anders glaubt, als sich seinen eigenen Gedanken zu stellen. Auch wenn dieser Glaube nur eine traurige Reflexion unserer eigenen Lügen ist.“ Erschöpft schloss Roman die Augen. Es tat ihm weh so zu denken, und er erinnerte sich gut daran, wie sein Weltbild zusammengebrochen war, als ihm klarwurde, dass es alles eine Lüge war. Und dass er es nicht anders gemacht hatte, weder mit Annie noch mit seinen Schwestern.

„Wann hast du's denn rausgefunden?“, fragte Annie. Ihre Augen waren immer noch auf sein Gesicht gerichtet, ihre Atmung war flach und sie bewegte sich kaum.

„Das Jahr, in dem mein Vater weg musste“, sagte Roman. Die Worte quollen einfach aus ihm hervor, er konnte nichts dagegen tun. „Plötzlich war er nicht mehr wirklich da und ich war alleine mit meiner Mutter und Emma und Daisy und Maddie – das war zu viel. So viel Verantwortung. Davor hab' ich mir nie Gedanken um die Welt gemacht, ich bin zu gedankenlos um das einfach so zu tun, aber -“ Er stockte. Nicht zu viel sagen, nicht zu viel preisgeben, was dich verraten könnte. Es ist zu früh.

Tief durchatmend riss er sich zusammen und fuhr mit festerer Stimme fort: „Aber ich habe etwas daraus gelernt. Und wenn ich das Gefühl hatte, alles würde mir über den Kopf wachsen, habe ich einfach daran gedacht. Es hilft ein bisschen.“

Nun war Annie an der Reihe, die Augen zu schließen. Es war mitten in der Woche und ihre Müdigkeit machte sich bemerkbar, auch wenn sie versuchte, alles aufzusaugen, was er sagte. Jede noch so kleine Einzelheit aus Romans Leben schien das Bild des Jungen, den sie vor sich hatte, vollständiger zu machen. Doch sie machte sich nichts vor, sie würde ihn wahrscheinlich nie verstehen, mit seinen Höhen und Tiefen und Stimmungsumschlägen und Enthusiasmus und manchmal dieser tief sitzenden Müdigkeit und... Sie riss sich aus dem Gedanken, bevor er zu tief führen konnte. „Was denn?“ Ihre Stimme klang schon distanziert vor Müdigkeit, als wäre sie schon weit weg, weiter, als sie es eigentlich war.

 Als Roman antwortete, hörte sie das Lächeln in seiner Stimme. „So wie wir unseren Kindern die Welt erklären, gut und perfekt, ist sie unglaublich langweilig. Wo ist denn der Spaß, wenn etwas nur rein weiß ist?“ Er richtete sich auf und sah Annie an, deren Gesichtszüge ihr immer mehr entglitten. „Es ist nicht alles gut, aber dafür ist alles so viel größer, so viel interessanter, so viel mehr als einfach nur gut.“ Ein sanftes Lächeln erschien auf Annies Gesicht, als sie einschlief, immer noch Tränenspuren im Gesicht. Vorsichtig beugte Roman sich vor und küsste sie sanft auf die Stirn. „Alles Gute zum Geburtstag, Annie.“

widmung an IcyWings für die bewertung :)

Midnight SongWo Geschichten leben. Entdecke jetzt