Tag 5091 - Gedankenspiele

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unedited af


Annies Schultasche schlug immer wieder gegen ihre Seite, als sie versuchte, im Vollsprint noch den Bus einzuholen, der bereits an der Haltestelle stand. Ein fülliger, türkischer Junge in knallgrüner Trainingsjacke stieg hinzu, und in dem Moment, in dem sie beinahe auf einer Höhe mit dem Fahrzeug war, brauste es davon. Abrupt blieb sie stehen, sie glaubte, noch einen Blick auf das schadenfrohe Grinsen des unsympathischen, alten Busfahrers zu erhaschen, der die Linie 59 um diese Zeit immer fuhr. Arschloch, dachte sie und fuhr sich dann seufzend durch die Haare. Es war halb 6 abends, nach der 10. Schulstunde, und das war der letzte Bus für heute in diese Richtung gewesen. Sie hangelte ihren Jutebeutel mit der verblassten, grauen Silhouette eines auf den Hinterläufen stehenden Kaninchens von ihrer Schulter und begann, nach ihrem Handy zu kramen. Collegeblock, Etui, Brotdose, ihr Schal, aber keine Spur von dem Handy. Stirnrunzelnd schob sie ihre Hand tiefer in die Tasche hinein und tastete den Boden ab, als ein Räuspern sie zusammenzucken ließ. Die hochgewachsene Frau, die vor ihr stand, kam ihr auf eine Art gleichzeitig seltsam bekannt und wie aus einem weit entfernten Traum vor, die ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Lange, dunkle Locken umspielten ihre Schultern, ein tiefrotes, enges Kleid schmiegte sich um ihre Kurven. Hohe Wangenknochen, ein arrogant-belustigtes Lächeln auf den vollen, geschminkten Lippen. Leere, schwarze Augen; hohle Schönheit. Plötzlich wusste Annie wieder, wen sie vor sich hatte.

Immer noch mit diesem überheblichen Lächeln im Gesicht hielt sie eine Hand ausgestreckt vor sich, einen pinken, rechteckigen Gegenstand darin haltend. Annies Handy. „Suchst du das hier?", fragte sie süffisant. Ihre Augen glänzten, doch ihr Haar blieb von dem aufkommenden Wind, der an Annies Kleidung zerrte, unbewegt. Es störte sie, dass die Frau so groß war, dass sie gezwungen war, zu ihr aufzublicken. Es verstärkte nur das unangenehme Gefühl, unterlegen zu sein; unterlegen und wage bedroht. Die Bewegung so schnell ausführend, wie sie konnte, schnappte Annie sich das Handy und ließ es in ihre hintere Hosentasche gleiten. „Was willst du von mir?", fragte sie scharf. Sie war nicht dumm. Diese Frau musste ein Dämon sein, genau wie der alte Mann, der Roman hintergangen hatte. Sie rief das gleiche beklemmte Gefühl in ihr hervor, die gleiche Kälte. Die Haare in Annies Nacken richteten sich unter dem Blick der Frau auf. Diese ließ die Hand langsam sinken. „Du wirst es nicht glauben, aber ich will dir helfen", antwortete sie langsam, und Annie schnaubte unwillkürlich auf. Sie wollte ihr helfen? Sie wollte wohl eher ihre Seele. „Ich werde ganz bestimmt keinen Deal mit dir eingehen", entgegnete sie daher. Doch irgendetwas hinderte sie daran, sich abzuwenden, so wie sie es vorhatte. Lag es an der Dämonin? Oder hielt ihre Neugierde sie fest? „Das will ich auch nicht", erwiderte die Dämonin schnell und blickte Annie fest in die Augen. Vielleicht sollte es aufrichtig wirken, doch es jagte Annie Angst ein. „Ich kann dir sagen, was du tun kannst, um Romans Veränderung aufzuhalten." Hoffnung, Unglaube und Skepsis durchströmten Annies Körper, alles gleichzeitig, vermischt mit Angst und Misstrauen. Könnte sie tatsächlich die Wahrheit sagen? Und wenn, was würde der Preis für dieses Wissen sein? „Willst du mir noch einmal auf die Nase binden, dass ich ihn verlieren werde? Gibt dir das irgendein krankes Machtgefühl? Auf so etwas steht ihr doch bestimmt", stieß Annie bitter hervor, selbst von ihren harten Worten überrascht. Die Frau sah kurz zur Seite, dann begann sie, ihre Hände zu kneten; eine Geste, die seltsam deplatziert wirkte. „Weißt du, was mit uns passiert, nachdem wir sterben? Wir werden Geister, an den Ort gebunden, der am meisten Erinnerungen und Gefühle für uns hält, gezwungen, nie wieder mit denen in Kontakt zu treten, die dir in deinem Leben am meisten bedeutet haben. Und irgendwann merken wir, dass nichts mehr da ist, was uns hält, und dann verändern wir uns. Unsere guten Eigenschaften kehren sich um, Selbstlosigkeit und Hilfsbereitschaft wird zu Egoismus und Sadismus, Güte wird zu Hinterhältigkeit, Gut wird zu Böse. Wir verlieren unsere Fähigkeit, irgendetwas zu fühlen. Und am Ende, wenn nichts mehr da ist von der Person, die wir einmal waren, dann werden wir Dämonen und wir sind wieder körperlich frei, nicht mehr an diesen Ort gebunden, der uns nun nichts mehr bedeutet." Erwartungsvoll blickte die Dämonin Annie an, die irritiert zurückblickte. Was sie sagte, passte zu dem, was mit Roman geschah. Es musste nicht mehr lange dauern, wurde ihr klar, und Panik machte sich in ihr breit. Sie würde es nicht aushalten können, wenn Roman so werden würde. Wenn er Menschen so ins Unglück reißen würde, wie es mit ihm geschehen ist. Plötzlich kam ihr ein Gedanke, bei dem sich ihr Herz schmerzhaft zusammenzog. Sie war dagewesen, jede Nacht, in der sie konnte, sie sollte Roman doch eigentlich halten können. Oder hatte sie ihm nie etwas bedeutet?

Die Frau in Rot schien zu wissen, was sie dachte. „Der Prozess lässt sich nicht aufhalten", fügte sie hinzu, die Augen leicht geweitet, „Nur verlangsamen. Der Junge hatte schon viele Jahre mehr, als andere sie haben." Annie runzelte die Stirn, Ekel stieg angesichts ihrer Worte in ihr auf. Sie war so heuchlerisch. „Warum solltest du mir helfen wollen?", spuckte sie in einem Anflug von Mut aus. „Du bist ein Dämon." Die Dämonin lächelte ein weiteres feines Lächeln, dass ihre leblos glänzenden Augen nicht erreichte. „Vielleicht habe ich mir einen Funken Menschlichkeit bewahrt. Das ist ein schöner Gedanke, nicht wahr? Ich war zu Lebzeiten kein guter Mensch, habe meine Seele für Rache verkauft. Vielleicht will ich ja jemanden schützen, der dieses Schicksal nicht verdient hat." Ihre Augen schienen kurz aufzuglimmen, wie glühende Kohlen. „Ich erwarte nicht, dass du mir glaubst. Aber vielleicht tröstet dich der Gedanke. Meine Beweggründe tun für dich ohnehin nichts zur Sache. Du bist verzweifelt", stellte sie fest. „Ich wette, du wärst bereit, alles zu tun." Sie stemmte eine Hand in die Hüfte und warf mit der anderen ihre schweren Locken zurück. „Und du hast keinen Schimmer, was du tun könntest. Ich biete dir eine Möglichkeit an. Es ist unsicher, aber es ist das einzige, was du tun könntest." Annie fühlte sich hin- und hergerissen. Einerseits hatte sie recht - ihr blieben keine Möglichkeiten mehr. Der Gedanke an einen Exorzismus, wie Roman ihn in einer seiner letzten guten Nächte erwähnt hatte, schien ihr unerträglich - sie wollte Roman nicht des Hauses, ihres Hauses verbannen, niemals. Sie wollte nicht, dass es ihm schlecht ergeht; und was passierte wohl mit korrupten Seelen, wenn sie von der Erde verbannt wurden? Rosig sah es für sie bestimmt nicht aus, ob man nun an einen Gott glaubte oder nicht. Andererseits konnte sie der Dämonin nicht vertrauen. Vertraute sie ihr blind, könnte sie die Situation nur noch verschlimmern. Sie wusste nichts über diese Frau, nicht einmal einen Namen hatte sie, und Annie bezweifelte, dass sie auf Nachfrage einen bekommen würde. In Gedanken nannte sie sie bereits „Miss X", auch wenn sie sich selbst dafür ein wenig albern vorkam.

Miss X schnalzte mit der Zunge. „Willst du mir nun zuhören oder nicht?", fragte sie fordernd. Einen kurzen Moment zögerte sie - und dann gab sie nach. „Sag, was du mir zu sagen hast."




Ja, ich lebe noch, und ja, ich werde auch noch zu Ende schreiben :D

Entschuldigung für die lange Pause, ich habe nicht wirklich eine Ausrede. Irgendwie hänge ich einfach noch an der Geschichte und der Gedanke, dass es jetzt nur noch 2 Teile sind, bis sie beendet ist, ist echt seltsam.

Midnight SongWhere stories live. Discover now