Tag 1461 - 8. Geburtstag (Teil 2)

1.5K 142 9
                                    

U N E D I T E D

Annie hatte keine Zeit zu schreien, doch genug, um den Fall zu spüren. Sie fühlte sich einen winzigen Augenblick lang schwerelos, federleicht, und sie wusste nicht, ob sie fiel oder schwebte.

Dann holte die beiden die Schwerkraft ein, und Annies Magen schien sich auf einer Höhe mit ihrem Herzen zu befinden, dass aufgeregt in ihrer kleinen Brust schlug, als das Adrenalin durch ihre Adern schoss. Ein Reflex brachte sie dazu, ihre Augen zu schließen, sich auf den Aufprall gefasst zu machen -

Und dann war es vorbei.

Annie und Roman standen im Garten des Fachwerkhauses, auf der entgegengesetzten Seite des Fensters, aus dem sie soeben gesprungen waren.

Langsam öffnete Annie ein Auge und blinzelte unsicher zu Roman hoch, der sie breit anlächelte. Seine Haare waren zerzaust und aus der üblichen nach hinten gegelten Frisur gelöst, sodass sie ihm in die Augen hingen, und Annie fiel zum ersten Mal auf, das seine Haare für einen Jungen ganz schön lang waren.

Als sie sich noch einmal versichert hatte, dass sie auf festem Boden standen, löste sie sich aus seinem Griff und stolperte ein paar Schritte vorwärts, verwirrt von dem, was gerade geschehen war.

„Wie hast du das gemacht?“, fragte Annie vollkommen baff, doch Roman zwinkerte nur und griff nach ihrer Hand. „Komm, ich muss es dir zeigen, bevor es zu spät ist.“

Er zog das kleine Mädchen hinter sich her, das nur stolpernd mit seinen langen Schritten mithalten konnte, doch er merkte es nicht. Selbst wenn, hätte es ihn wahrscheinlich nicht gekümmert, was er ihr zeigen wollte war viel wichtiger als ihre Bequemlichkeit.

Er führte sie quer durch den großzügigen, annähernd quadratischen Garten des Fachwerkhauses – einst was er ein Feld gewesen, nun war das Ackerland einer mit den verschiedensten blühenden Büschen umrahmten Rasenfläche gewichen, die ziemlich wild wuchs. Ein leicht verschlungener Pflasterweg durchzog sie, und diesen nahm das ungleiche Paar auf ihrem Weg nach – wohin auch immer Roman sie hinführen wollte. Am hintersten Ende des Gartens, rechts, nah an die Büsche herangerückt, war ein großer Teich angelegt, und der Pflasterweg mündete dort in einem kleinen Holzsteg, der ins Wasser hineinführte. Roman lächelte verträumt, als sie an ihm vorübergingen, als würde er in alter Erinnerung schwelgen. Sie verließen das Kopfsteinpflaster und umrundeten den Teich, und Roman steuerte auf die Abgrenzung der Büsche zu, deren Silhouetten am dieser Stelle besonders hoch in den Himmel ragten. Annie konnte kaum etwas erkennen, doch Roman besaß, besonders seit er tot war, eine exzellente Nachtsicht. Das Licht des Vollmondes und der Sterne über ihnen reichte ihm vollkommen aus.

Konzentriert, doch irgendwie mit einer unruhigen Ausstrahlung umgeben, suchte er die Büsche mit seinen Augen ab, Annie immer noch an der Hand haltend. Leise vor sich hinmurmelnd begann er, den unteren Bereich eines der Büsche mit den Händen abzutasten, bis seine Hand an einer Stelle plötzlich versank. Seine Miene hellte sich auf. Er kniete sich vor dem Busch hin und bedeutete Annie, das Gleiche zu tun.

„Okay, jetzt halt dich an mir fest, egal wie, und lass auf gar keinen Fall los!“, wies er sie an. Seine Stimme klang zu laut in der Stille der Nacht, doch sie nickte nur und klammerte sich unsicher an seinem Hosenbein fest. „Bereit?“, fragte er, nun einer Schimmer der Aufregung im Auge. „Bereit“, antwortete sie, und er duckte seinen Kopf und kroch in die lose Stelle des Buschwerks hinein.

Erst schlugen ihm die Zweige ins Gesicht, doch schon nach einer dünnen Schicht Geäst endete der Bewuchs an dieser Stelle und gab eine Art unbewachsenen Pfad innerhalb der Büsche frei. Nun beinahe blind kroch er diesen Pfad entlang, vorsichtig mit den Händen vor sich her tastend, und Annie krabbelte ihm ängstlich und blind hinterher, ihre rechte Hand zu fest um den Saum seiner Hose geschlosse, dass ihre Fingerknöchel weiß wurden. Es dauerte nicht lange, bis er zum Halten kam, und Annie sein Hosenbein losließ, nur um sich mit ganzem Körper zitternd an ihn zu schmiegen. Sie hatte Angst, wurde ihm plötzlich klar, und er wurde mit einer kurzen Welle Schuldgefühl überschwemmt. Dann schob er den Gedanken beiseite, für das hier lohnt es sich, sagte er sich.

Sie waren auf einer Art kleiner Lichtung angekommen, über ihnen lag eine Lücke im Blätterdach des Busches, durch die helles Mondlicht in die Lichtung hineinflutete. Die Wolken vor dem Mond hatten sich verzogen, und so gab es nun auch genug Licht für Annie, um ihre Umgebung erkennen zu kennen. Vorsichtig sah sie sich um, dann löste sie in Staunen ihren Griff um Romans Torso.

Der Busch ragte schätzungsweise 2 Meter in den Himmel und bildete eine beinahe kreisrunde Öffnung im Blätterdach, und Blüten rankten sich an ihm entlang, blass im Mondlicht.

Mit vor Staunen und Bewunderung geweiteten Augen beobachtete sie, wie eine Knospe immer mehr anschwoll, bis sie aufplatzte und blasse, ovale Blütenblätter aus ihr herausquollen, die sich zu einem Trichter entfalteten, aus dem goldener Blütenstaub rieselte, all das innerhalb von Sekunden. Schon begannen die Blüten, sich nach außen zu stülpen und ihre Blätter hängen zu lassen, bis eins nach dem anderem sich von dem Stängel löste und zu Boden schwebte, der bereits mit vielen der fahl-weißen Blüten bedeckt war. Eine Welle der Traurigkeit überkam Annie, als ihr plötzlich klarwurde, wie vergänglich alles war. Die Blumen, diese Nacht, sogar sie selbst.

Doch das Mädchen wurde schnell aus diesen Gedanken gerissen, als sich eine weitere der Blüten öffnete.

„Sie blühen jeden Tag, nur um Mitternacht und nur für ein paar Minuten“, sagte Roman irgendwann. „Ich habe sie gefunden, als ich einmal nachts abgehauen bin. Oder es versucht habe“, er lachte rau, „Ich bin morgens zurückgekommen weil ich nicht wollte, dass meine Mutter sich Sorgen macht.“ Er blickte nach oben, in seinen Augen lag ein trauriger Ausdruck. „Es werden immer weniger Blüten.“

Ein Teil von Annie sagte ihr, dass es wichtig war, was er ihr erzählte, dass sie zuhören und es sich merken sollte. Aber der andere, der größere, war das Kind in ihr und das befahl ihr, die Blüten zu betrachten. Und tatsächlich sollte sie sich erst Jahre später wieder an diese Worte erinnern. Und bis sie die Verbindung herstellte, sollte es beinahe zu spät sein.

 

Midnight SongWo Geschichten leben. Entdecke jetzt