Tag 3876 - Junge

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Der neue Supermarkt, der in Stadtmitte gebaut wurde, hatte ein flaches Betondach und leuchtende Reklameschilder, die in alle denkbaren Richtungen zeigten und die Nacht ein wenig heller machten. Außerdem zeichneten sich dank dieser Reklametafeln die Silhouetten zweier Leute ab, die auf jenem Dach standen und auf die schlafende Stadt hinunter blickten, einer mit maliziösem Lächeln im Gesicht, eine mit ausdrucksloser Miene.

„Wie viele waren es diese Nacht?", fragte sie, ohne ihn anzuschauen. Der Nachtwind blies ihr sanft die Locken aus dem Gesicht und sie lächelte in dem Wissen, dass er ihn verursachte. „Zwei", antwortete er, ein trockenes Kichern folgte. „Sie waren schwach, sie werden nicht lange durchhalten." Seine Schultern krümmten sich seltsam, als würde eine unsichtbare Last auf ihnen liegen. Sie nickte kurz und schlüpfte rasch aus den schwarzen High Heels, die sie trug. „Wie viele Jahre?", hakte sie nach, und der Mann kicherte erneut heiser. „Du bist gierig, Missy", merkte er an und wandte sich ihr zu, eine Hand um ihre Taille legend. „Immer doch." Sie schmunzelte und reckte ihm ihr Gesicht entgegen. Er schloss die Lücke zwischen den beiden und küsste sie lange und wild, bis sie sich nach einigen Sekunden zurückzog. „Wie viel jetzt?", wiederholte sie unbeeindruckt, strich sich das enge, rote Kleid glatt und kramte in ihrer Handtasche nach einem Lippenstift. „50 für dich, 50 für mich", antwortete er. Sie blickte ihn an, beobachtete, was passierte. Es hatte sie schon immer fasziniert, zumindest, seit sie tot war. Seine gekrümmten Schultern streckten sich, seine schütteren, grauen Haare wurden wieder schwarz und kräftig, die Altersflecken auf seinen Händen verschwanden.

Dann holte sie einen Spiegel aus ihrer Tasche hervor und betrachtete zufrieden, wie ihre Falten sich glätteten. Mit einer geübten Bewegung zog sie ihren Lippenstift nach und ließ beides wieder verschwinden. Ihre sonst so dunkel wirkenden Augen glimmten rot auf, als sie zu ihm aufblickte. „Dieser Junge", bemerkte sie, „Er hält schon ziemlich lange durch." Seine Miene verdüsterte sich. „Ich weiß nicht, was mit ihm ist, aber ich werde ungeduldig. Ich habe mein Ende eingehalten, es wird Zeit, dass ich dafür belohnt werde", knurrte er schon fast. „Weißt du was?", meinte sie. „Ich setzte darauf, dass er noch ein paar Jahre hat." „Ich setze auf ein Jahr", erwiderte er, abgelenkt von dem möglichen Gewinn, der dabei herausspringen würde. Sie schüttelten sich verschmitzt grinsend die Hände. „Um 10 Jahre", schlug sie vor. „Um 10 Jahre", echote er.

Midnight SongWhere stories live. Discover now