Midnight Song

By paintingmyskies

46.9K 4.1K 358

„Hast du noch Angst?“ „Nein“, sagte Annie bestimmt und Roman öffnete überrascht die Augen. „Warum nicht?“ „... More

P I L O T → Tag 1 - 4. Geburtstag
Tag 5 - Anfang
Tag 365 - 5. Geburtstag
Tag 431 - Schutz
Tag 731 - 6. Geburtstag
Tag 853 - Geheimnis
Tag 1096 - 7. Geburtstag
Tag 1158 - Kleine Sünde
Tag 1461 - 8. Geburtstag (Teil 1)
Tag 1461 - 8. Geburtstag (Teil 2)
Tag 2922 - 12. Geburtstag
Tag 2952 - Verrat
Tag 2955 - Ausbruch
Tag 2956 - Fremd
Tag 2957 - Brüche und Bande
Tag 3287 - 13. Geburtstag
Tag 3876 - Väter
Tag 3876 - Junge
Tag 3653 - 14. Geburtstag
Tag 3701 - Egoismus und Verantwortung
Tag 4018 - 15. Geburtstag
Tag 4019 - Vorbilder
Tag 4384 - 16. Geburtstag
Tag 4598 - Sich treiben lassen
Tag 4749 - 17. Geburtstag
Tag 5084 - Kälte
Tag 5091 - Gedankenspiele
Tag 50115 - 18. Geburtstag - Erwachsen (Teil 1)
'Soundtrack'
Epilog - Tag 65 nach der Kindheit
Nachwort

18. Geburtstag - Erwachsen (Teil 2)

1K 116 4
By paintingmyskies

unedited.

Es

heißt, wenn dein Leben vorbeigeht, zieht dir alles noch einmal am

inneren Auge vorbei, und dann weißt du, ob dein Leben wirklich

lebenswert war. Als Roman gestorben ist, hat er nichts davon gemerkt;

kurz aufflackernde Panik, der Gedanke, dass er das Richtige tat,

Schmerz – und Leere. Und als er aufgewacht war, hatte er keinen

Körper mehr und die Leere war ein stetig wachsender Teil seiner

selbst geworden, vergleichbar mit der gähnenden Leere des Hauses,

verlassen von allem, das er liebte. Und dann, nach endlosen,

eintönigen Jahren, in denen er allein war mit seinen quälenden

Fragen, da tauchte plötzlich ein Mädchen auf. Klein, mit

wuscheligen blonden Haaren und einem Teddybären unter dem Arm, ohne

den sie nicht schlafen konnte. Sie schien die Leere ein wenig

auszufüllen, mit Neugier, Intelligenz und Naivität, eine

Kombination, die einfach nicht spurenlos an ihm vorbeiziehen konnte.

Mit ihr kam auch wieder Hoffnung auf, die Erinnerung an geraunte

Worte, kurz bevor er sein Leben und seine Seele für seine Familie

aufgab, eine kratzige Stimme, die sagte, es gebe kaum einen Ausweg,

habe er sich einmal entschieden. Kaum.

Und

dann wurde ihm klar, dass sie nicht nur für ihn da war. Er musste

für sie dasein, denn ganz langsam, kaum merklich, war er ihr großer

Bruder geworden, der, der sie leitete, wie ein Vater, ein Vorbild. Es

war eine unglaubliche Last auf seinen Schultern, denn er wusste, er

würde sie nicht tragen können, nicht lange, und der Gedanke daran,

ihr wehzutun, tat ihm wiederum weh. Es war falsch, dachte er, doch

'falsch' war ein gesellschaftliches Konstrukt, und welche

Gesellschaft blieb ihm noch? Er hatte alles, verloren, sogar sich

selbst. Was wurde denn aus einem Menschen, wenn er alles verlor, was

er liebte? War er dann überhaupt noch ein Mensch, oder eher ein

Schatten, getrieben von Existenzangst und Hass? Vielleicht war es

Selbstzerstörung, Annie so nahe zu kommen, ein wunderschönes Stück

Selbstzerstörung.

Roman

lies all seine alten Gedanken Revue passieren, doch sie berührten

ihn nicht mehr. Sie hinterließen nur ein hohles Klingeln in seinem

Kopf, als ob sie eigentlich etwas auslösen sollten.

Er

saß gemeinsam mit ebenjenem Mädchen dort, wo für ihn alles

begonnen hatte. Als er jünger war, war er immer hierher gekommen,

wenn er wütend oder enttäuscht war oder einfach nur allein sein

wollte, so wie nach der Diagnose seiner Mutter. Seine Schwestern

waren im Haus, seelenruhig, sie wussten noch nichts, sein Vater war

weggesperrt in einer Klinik, seine Mutter lag weinend im Bett und er

saß hier, inmitten der Mitternachtsblüten, allein. Bis er

aufgetaucht war. Er mit seinen verheißungsvollen Worten,

mit den heiseren Versprechungen. Deine Seele, hatte er gesagt,

deine Seele für ihre. Er hat sie sich nach und nach geholt.

Roman erinnerte sich daran, dass er einmal gedacht hatte, es sei ein

Teufelskreis, in dem gute Menschen sich selbst zu einem traurigen

Schicksal verdammen.

Roman

blieb unberührt, doch Annie weinte, wie sie dort vor ihm auf den

verwelkten Blütenblättern kniete. Vor ihren Beinen, zwischen den

beiden, lag ein schlichter, grauer Stein. Er war quadratisch und

abgenutzt, doch keiner der beiden schenkte ihm viel Beachtung. Der

Busch, der die Mitternachtsblüten trug, war ein trauriger Anblick.

Er trug kaum noch Blüten; und die, die noch vorhanden waren, ließen

kraftlos ihre Köpfe hängen. Es war, als ob sie auch trauerten, als

ob sie auch Abschied nehmen würden, dachte Annie. Ihre Augenlider

waren rot und geschwollen, was ihre Augenfarbe deutlicher

hervorstechen ließ. Schniefend wischte sie sich die Tränen aus dem

Gesicht, wütend auf sich selbst. Hier war sie, verbrachte ihre

letzten Augenblicke mit Roman, und sie verschwendete sie mit Weinen.

Das Gewicht des Vorschlaghammers in ihrem Schoß schien den Kloß in

ihrem Hals nur zu verstärken.

Sie

blickte kurz auf ihre silberne Armbanduhr, im Mondlicht waren die

Ziffern darauf klar zu erkennen. 15 Minuten nach Mitternacht. Die

Zeit wurde knapp. Sie musste sich jetzt zusammenreißen, sonst würde

sie sich nicht mehr verabschieden können.

„Irgendwie

dachte ich früher, du würdest immer für mich da sein", ihre

Stimme zitterte. Gott, bitte nimm das jetzt nicht als Vorwurf.

„Ich meine damit... du hast mir geholfen, die zu werden, die

ich heute bin. Du hast mir gezeigt, dass..." Annie räusperte sich

kurz. Ihr Gesicht war fleckig vor Tränen. „Man sollte seinen Wert

nicht durch andere definieren lassen, und das hast du mir gezeigt."

Roman blinzelte. Er fühlte sich hohl, als würde etwas fehlen.

Vielleicht war es der Nachhall eines Gefühls, dass er beinahe

vergessen hatte. Ein Vogelschrei zerriss die stehende Nachtluft.

„Was

ich damit sagen will, ist eigentlich... Danke. Du warst immer wie ein

Halt für mich, weißt du, auch wenn du dich selbst verloren hast,

warst du immer für mich da. Solange du konntest und du hast es immer

versucht, du hast dein bestes gegeben und ich will, dass du weißt,

dass ich das weiß." Mit zusammengepressten Lippen schluckte sie.

Schneller, schneller. Die Zeit rannte ihnen davon. Es musste heute

sein, was ist, wenn sie es sonst vergessen würde? Wenn es nur ein

Datum wie jedes andere werden würde? Der Gedanke machte ihr Angst,

und die Angst drängte ihre Zunge, weiterzureden. „Du hast mir

einmal gesagt, dass niemand wirklich stirbt, wenn es noch Leute gibt,

die sich an ihn erinnern. Für mich bist du unsterblich, du bist mein

Lumpenmann, der mich zum Lachen bringt und der mich immer beschützen

wird, weißt du noch?" Abermals schniefte Annie. Romans Lippen

öffneten sich leicht. Das Glühen, das ihn umgab, schien intensiver

zu werden. Seine Augen waren kaltes, blaues Feuer. Als sie ihn so

betrachtete, versuchte, sich seine Züge ganz genau einzuprägen, als

könne sie so das Vergessen, das alles zerfraß, aufhalten, traf sie

ein Gedanke wie ein Schlag. Die bisher so mühevoll zurückgehaltenen

Tränen rollten wieder ihre Wangen hinunter und tropften auf ihre

nackten Beine und den Stoff ihrer kurzen Hose, auf ihr lockeres,

graues Top und den staubigen Vorschlaghammer auf ihrem Schoß. Würde

die kleine Annie Roman jetzt treffen, hätte sie wahnsinnige Angst

vor ihm. Dabei war ihr ihr erstes Gespräch noch so nah. Und seine

Versprechen, ihr so schnelles Vertrauen. Wie sicher sie sich bei ihm

gefühlt hatte.

Hast du

noch Angst?" - „Nein." - „Warum nicht?" „Du bist doch

da", kam die Antwort prompt „Du passt doch auf mich auf. Du

beschützt mich doch, oder?" Ein ewiges Versprechen. „Ich

werde dich immer beschützen."

„Aber

ich darf dich nicht mehr festhalten, nur weil ich Angst habe, alleine

zu stehen", fuhr sie mich zittriger, hüpfender Stimme fort. Sie

gehorchte ihr schon längst nicht mehr. „Du kannst mich nicht ewig

beschützen, nicht als diese Hülle und schon gar nicht als Dämon."

Sie schluckte. „Ich muss erwachsen werden."

Ihre

Worte klangen so groß, doch Annie fühlte sich in diesen Minuten

ganz klein. Ein übermächtiger Drang, sich einfach zusammenzurollen

und die Welt auszublenden, bis alles wieder gut war, drohte sie zu

überwältigen. Ihre Tränen und die unausgesprochenen Wort brannten

in ihrer Kehle und machten sie ironischerweise sprachlos. Doch sie

wusste, es war ihre Pflicht, ihre Verantwortung Roman gegenüber, es

zu tun. Sie musste zumindest versuchen, ihm etwas von all dem, was er

für sie getan hat, zurückzugeben. Er hatte vollkommen freiwillig so

viel Verantwortung auf seine Schultern geladen, jetzt war sie an der

Reihe, für Roman stark zu sein.

Zögerlich

legte Annie ihre Finger um den Knauf des Hammers, schloss ihre Hand

darum. Drückte zu. Fest. Für einen Wimpernschlag herrschte eine

energiegeladene, angespannte Stille. Dann erhob Roman seine Stimme.

„Ich habe dich sehr geliebt, Annie", sagte er. Seine Stimme klang

leicht heiser, wie von einem statischen Rauschen gestört, doch

ehrlich und vielleicht, vielleicht ein kleines bisschen weniger leer

als zuvor. Er fühlte kaum noch, doch er erinnerte sich.

Annie

dachte, dass es vielleicht das gleiche Phänomen wie bei todkranken

Menschen war. Kurz, bevor sie dann wirklich starben, scheint es

wieder bergauf zu gehen, für einen letzten guten Tag. Es erinnerte

sie an ein letztes Aufbäumen vielleicht sogar der Seele, die danach

strebte, ein letztes Mal wirklich zu leben. Romans Seele bäumte sich

auf, um ein letztes Mal zu fühlen, und wenn es nur der Schatten

eines Gefühls war. „Ich war so unglaublich stolz auf dich, immer.

Dich aufwachsen zu sehen, ich habe davon als Geschenk gedacht. Als

Geschenk von mir an mich selbst, doch immerhin ein Geschenk – und

meine Sünde." Das gab Annie den Rest.

Schluchzende

warf sie sich nach vorn und schlang die Arme um Romans flimmernden

Körper, vergrub ihr Gesicht in seinem Hemd und ballte ihre Hände

daran zu Fäusten. „Ich will nicht, ich will nicht, ich will

nicht", murmelte sie, „Ich will nicht, dass du gehst." Ihre

Stimme brach, wurde zu einem Flüstern. „Bitte nicht. Ich liebe

dich. So sehr." Langsam, unschlüssig legte Roman steif seine Arme

um Annies bebenden Körper. Instinktiv – so musste es sein –

strich er ihr durch die Haare. Er wusste nicht mehr, was er sagen

sollte – die tröstenden Worte waren ihm ausgegangen. Einen Moment

verharrten sie so, dann ließ Roman seine Arme sinken. "Komm",

forderte er sie mechanisch auf, „Wir haben nicht mehr viel Zeit."

Es war dieser Moment, in dem er entschied, dass er es alles beenden

wollte – er wollte nicht mehr so existieren. Er wollte nicht dieser

wachsenden Leere in ihm nachgeben. „Komm", wiederholte er, gab

sich Mühe, sanft zu klingen. "Ich

will, dass du es tust. Es soll jemand sein, dem ich etwas bedeutet

habe."

Annie

nickte an seiner Schulter und löste zögerlich ihre Umarmung.

Diesmal machte sie sich nicht mehr die Mühe, die Tränen

wegzuwischen. Sie versuchte, sie mit Stolz zu tragen. Ein letztes Mal

blinzelte sie ihn an – sie wollte auch nicht vergessen, auch wenn

das unmöglich war. Wenn er erst einmal verschwunden war, würde

nichts mehr an ihn erinnern – kein Foto, keine Aufnahme, nicht

einmal ein Grab. Es würde sein, als ob es ihn für sie nie gegeben

hätte.

Sanft

drückte sie ihre Lippen auf seine Wange, verharrte dort einen

Augenblick. Seine Haut fühlte sich kühl und unwirklich an. Er war

schon beinahe fort, und dieses beinahe tat unendlich weh. Sie atmete

tief durch und zog sich zurück, griff wieder nach dem

Vorschlaghammer, hob ihn mit festem, bestimmten Griff hoch. Wenn man

Pflaster schnell abreißt, entsteht am wenigsten Schmerz. Doch Roman

war kein Pflaster. Annie blickte den schmutzigen Grundstein vor ihren

Knien an. Ihn aus dem Kamin zu bekommen, hatte sie viel Mühe und

blutige Finger gekostet, doch es war egal. Sie hob den Hammer,

richtete ihre Augen auf Roman, versuchte ihn zu fixieren. Ohne dass

Annie es bemerkte, verließ ein gewispertes „Danke" ihre Lippen,

und Roman lächelte leicht. Es fühlte sich fremd an, dachte er.

Und

plötzlich sauste der Hammer zu Boden.

In

dem Moment, in dem er den Grundstein seines Elternhauses traf, schien

Roman aufzuleuchten. Nicht in dem üblichen Blau, sondern in einem

sanften Weiß, dass Wärme zu verströmen schien. Und da war es, sein

Grinsen, das Grinsen von früher. So breit, dass er seine blauen

Augen zusammenkniff, die zu Leuchten schienen. Es war ehrlich, und

das machte es wunderschön. Das Grinsen zitterte an den Mundwinkeln,

als eine Träne seine scharfe Nase hinuntertropfte.

„Du

musst keine Angst haben, Annie", versprach er. „Ich vergess' dich

nicht."

Die

Turmuhr schlug. Einmal, zweimal. Eine zweite Träne rollte seine

Wange hinunter, doch das Lächeln verließ seine Lippen nicht

Und

dann verblasste seine Gestalt und er verschwand, für immer.

Annie

saß allein mit ihren Tränen, den Trümmern des Steines, der Romans

Seele gebunden hatte und dem Hammer, mit dem sie ihn zerstört hatte.

Sie wusste, auch sie würde gehen müssen, denn diese Wände würden

nie wieder ein Zuhause für sie sein können.





Es wird noch ein Epilog folgen

Continue Reading

You'll Also Like

2.5M 71.4K 74
Ich wäre in meiner Welt voller Lügen ertrunken, bis er gekommen ist. Er zeigte mir ein Leben, ein Leben was ich noch nie zuvor erlebt habe. Wäre er n...
7.7K 293 21
Malakai Knox lebt mit seiner Familie, bestehend aus seinem Bruder, seinem Vater, seiner Mutter und ihm, als zweiter Alpha der Familie, in einem Haus...
1.8M 16.1K 43
Wieviel kann ein menschlicher Körper ertragen? Was ist Liebe? Gefühle? Sex? Geht das Leben immer weiter? Kann man noch an einen Gott glauben, wenn...
5.6K 220 16
Ein Buch mit ein paar Fakten über Two Mate (Band 1), sowie Second Mate (Band 2)