TrΓ€nenblind

By pasulmitsucuk

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Odesa ist nicht nur eine herzhafte BΓ€ckerin mit vielen leckeren Rezepten. Sie ist auch eine hoffnungslose Rom... More

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By pasulmitsucuk

Odesa
Düsseldorf
Dezember 2022

Diesmal wache ich von einem stillen Albtraum auf. Ich musste nicht schreien und doch spüre ich den Schweiß am ganzen Körper. Mein Hals ist sehr trocken und kratzt unwohl. Es war nicht anders zu erwarten. Immerhin befinde ich mich auf einem fremden Bett und das nachdem ich mich so gut auf dem von Agon eingelebt hat. Es ist fast schon eine Schande. Ich dachte ich wäre die Albträume losgeworden. Einerseits bin ich das auch. Von dem Vorfall in meiner Wohnung träume ich nicht mehr. Nein, diesmal träume ich von einem Autounfall. Ein Autounfall, welcher hätte ganz schlimm ausgehen können. Es ist ein wahrhaftiges Wunder, dass wir nicht ein Kratzer abbekommen haben. Naja. Von Agon's Auto kann man das nicht sagen. Seine schöne G-Klasse ist komplett zerstört. Doch das hatte ihn wenig interessiert. Eine leichte Gänsehaut bildet sich auf meinen Armen. Wir wurden tatsächlich verfolgt. Es kam so plötzlich ... so unerwartet. Für mich jedenfalls. Und trotzdem frage ich mich, wie konnte ich es nicht kommen sehen?

Ich meine, ist es nicht immer so? Gerade da, wo du denkst es geht alles Berg auf, genau da stellt dir das Schicksal ein Stein in den Weg. Doch kann man das ein Stein nennen? Denn es fühlt sich so an, als wären wir knapp dem Tod entkommen. Agon, Dea und ich landeten an diesem Tag in der Notaufnahme. Er bestand darauf, dass Dea und ich abgecheckt werden. Er selber wollte sich nicht untersuchen lassen. Ich wollte ihm widersprechen, doch es kam kein einziges Wort über meine Lippen. Ich war zu schwach. Der Unfall hat mir meine letzte Kraft geraubt. Es hatte nicht lange gedauert, bis Adem dazu kam. Für ein Fremden würde Adem furchtlos wirken. Doch ich sah die Angst in seinen Augen. Die Last, die auf seinen Schultern saß. Die Erleichterung. Nach langer Diskussion zwischen den zwei Halbbrüdern gab Agon sich auch geschlagen. Nach der Untersuchung stand fest, dass Agon mit der schwersten und doch so ... einfachsten Verletzung rauskam. Denn sein ganzer linker Arm ist geprellt. Nach einem Tag hatte er aber sein Verband schon wieder abgenommen. Verletzlichkeit fällt diesem Mann wohl schwer.

Seit einer Woche wohnen wir in Adem's geräumigen Wohnung. Ein lebloser Ort ohne farblicher Dekorationen oder Sentimentalität. Agon empfand das Haus für zu ... unsicher. Ich habe durch die Wände ein Gespräch der beiden Brüder mitbekommen. "Wenn sie uns von der Schule nachhause folgen wollten, dann sind sie uns schon von dem Hinweg aus auf dem Fersen gewesen." Es bedeutet nichts anderes, als dass Agon nicht dieses Haus betreten wird, bevor er sich nicht sicher ist, dass sich da keiner versteckten Kameras oder Mikrofone aufhalten. Er möchte erneute Alarmanlagen und Sicherheitssysteme im Haus einbauen. Sie haben über die Umplanung des Dachbodens gesprochen. Es klang sehr geheim, sehr polizeilich. Zwar finde ich diese Maßnahmen wichtig und doch fühle ich mich hier äußerst Fehl am Platz. Ich bin kein Teil dieser Familie und trotzdem werde ich beschützt wie eins. Adem schläft immerhin wegen mir auf der Couch. Während Dea und Agon sich in Adem's Schlafzimmer eingenistet haben.

Ich drehe mich leicht zur Seite und schaue auf mein Handy. 2:06 Uhr. Natürlich! Ausgerechnet jetzt bin ich hellwach in einer Wohnung in der es mucksmäuschenstill ist. In Agon's Haus hört man wenigstens das Pfeifen des Windes. Dies schlummert mich immer wieder in den Schlaf rein. Doch der Wind erinnert sich nicht mehr an sein Lied und meine Träume treten gegen den Schlaf im Kampf an. Ich stelle meine Füße leise auf den Boden und stehe anschließend auf. Ich möchte Adem nicht wecken, daher laufe ich in Zehenspitzen aus dem Zimmer raus. Ich möchte eigentlich nur etwas trinken. Ein Glas Wasser oder noch besser ein beruhigenden Tee und ich bin auch kurz davor. Ich sehe schon das dämmernde Licht in der kleinen Küche, würde mich nur nicht der Schatten zu sich zurückziehen. Denn meine Augen bleiben stehen. Sie haften sich an die Silhouette einer bestimmten Person. Eines altbekannten Mannes. Ich sehe Agon, wie er auf einem Stuhl gebeugt und mit der Faust gegen der Stirn sitzt. Seine Augen liegen auf seiner schlafenden Tochter und das Mondlicht schenkt mir die Sicht auf seine hellen grünen Augen.

Leise tapse ich mich heran. Ich versuche nicht gesehen zu werden. Denn ich möchte diesen Moment nur einatmen. In den tiefsten Gebirgen meines Verstandes einspeichern. Es ist die verborgenste Art von Liebe, die sich wie ein Lied abspielt. Es ist die Angst. Die Angst, dass sobald du deine Augen schließt, diese Person verlierst. Es ist diese Art von Liebe, die ich niemals spüren darf. Die ich nicht fühlen kann. Die mir nicht zusteht. Was es bedeutet sein eigenes Kind zu lieben. Ich bleibe ganz leise und ganz sanft und doch hebt sich sein Kopf schlagartig, sobald mein Zeh den Türrahmen streift. Seine Augen sind blutunterlaufen. Augenringe zieren seine so schöne Haut und Mitgefühl macht sich in mir breit. Seine weiten Augen, die sich schnell wieder beruhigen, blinzeln leicht. Und doch erinnert Agon mich an ein verschrecktes Reh. »Entschuldigung.«, flüstere ich leise. Er schüttelt nur den Kopf und wischt sich leise über die Augen. »Warum bist du wach?«, flüstert er ebenfalls. Dieses Flüstern besitzt etwas sehr friedvolles.

Ich zucke mit den Achseln und wische mir eine gefallene Strähne hinters Ohr. »Albtraum.«, verrate ich ihm dann doch. Er nickt nur und sieht wieder zu Dea. Das Gespräch scheint wohl für ihn wieder beendet zu sein. So ist es seitdem Unfall sehr oft. Er redet nicht. Ab und zu verlassen kurze Worte seine Lippen. Oft flüstert er etwas in das Ohr seiner Tochter. Dann lächelt Dea immer. Es scheint als hätten Vater und Tochter eine Geheimsprache entwickelt. Sie ist seine Heilung. Ein Geschenk für sein Herz und Balsam für seine Seele. Ich räuspere mich leise. Agon schielt zu mir und ich nicke ihm zu. »Komm, ich mache dir ein Tee.« Es ist keine Frage. Und doch fühlt es sich wie eine Bitte an. Er antwortet mir nicht und streichelt seiner Tochter übers Haar. Meine Schulter sinken vor Enttäuschung, doch ich lasse es mir nicht ansehen. Für ein kurzen Moment beobachte ich diese friedliche Stille und tapse anschließend aus dem Zimmer, folgend bis in die Küche.

Die Tür ist geschlossen und der Wasserkocher angeschaltet. Ich frage mich, warum in der Nacht alles immer so laut ist. Während ich nämlich mein Tee vorbereitet habe, hat es sich so angehört, als würde in der Küche eine Atombombe fallen. Das Geräusch von dem Messer, während ich die Zitrone schnitt war lauter als die Musik in einem Nachtclub. Ich lehne mich gegen die Theke und höre plötzlich wie jemand leise die Tür öffnet. Ich bin völlig erstaunt, dass Agon derjenige ist, der sich zu mir gesellt hat. Er schließt die Tür hinter sich und ich greife augenblicklich nach einer Tasse. »Was hältst du von Pfefferminz mit Zitrone? Adem hat nicht so eine große Auswahl.« Adem hat gar keine Auswahl. Doch das behalte ich für mich. Adem liebt Minze. Während Agon Zimt liebt. Irgendwie passt es auch zu den Beiden. Es zeigt wie unterschiedlich sie voneinander sind. Er nickt langsam und lehnt sich nur leise an die Tür an. Er wirkt so müde, so ... verletzlich. Am liebsten würde ich ihn wie ein Kind in die Arme nehmen. Denn das ist die Sache, die mir immer hilft.

Ich stecke den Teebeutel in die Tasse rein und schneide weitere Scheiben der Zitrone ab. »Wovon hast du geträumt?«, fragt Agon rau. Verblüfft ziehen sich meine Schultern hoch und ich bin froh, dass ich mit den Rücken zu ihm stehe. Es wundert mich, dass er mit mir sprechen möchte. »Ich habe wieder über den Überfall geträumt.«, lüge ich. Es ist einfacherer das zu sagen. Ich möchte ihm nicht das Gefühl geben, dass er sich um mich sorgen muss. »Warum schläfst du nicht?«, frage ich leise und schiele zu ihm. Plötzlich fällt mir auf wie entkleidet Agon ist. Er steht nur im weißen Unterhemd vor mir. Präsentiert mir all seine schönen Tattoos. Eine purpurrote Ebene legt sich auf meine Wangen. Agon ist sehr ... trainiert und muskulös. Da zieht sich mir das Wasser im Mund zusammen. Wie konnte mir das nicht vorher auffallen? Der Schatten. »Ich kann nicht schlafen.« Ich seufze langsam auf und sehe wieder auf meine Zitronen. »Du brauchst Schlaf.«, werfe ich ein. »Du auch.« Touché. Das Wasser kocht auf und ich schütte es leise in die Tassen rein. Ich decke beide Tassen mit einem Schälchen ab und drehe mich wieder in seine Richtung um.

Es ist relativ dunkel in der Küche. Es scheint nur das gelbe Licht der Dunstabzugshaube. Des weiteren erkennt man nur wie die ersten Schneeflocken vom Himmel fallen. »Du hast nie mit mir darüber geredet.« Verwirrt schiele ich zu Agon. Er scheint seine Augenbrauen zusammengezogen zuhaben. »Über den Überfall. Du hast nie darüber geredet. Du hast nicht ein einziges Mal etwas über die Ermittlungen gefragt. Warum nicht?« Ich blinzle. Dabei fahre ich mir leicht über meine Rippe. In meinem dünnen T-Shirt und der langen Schlafhose ist es mir plötzlich sehr warm geworden. »Ich möchte es einfach vergessen. Ich möchte alles einfach vergessen.«, beantworte ich ehrlich. Ich erkenne die sanften Züge, die sich um seine Gesichtsmuskeln schmeicheln. Er schaut zu Boden und dreht sein Handgelenk mehrere Male. »Das was ich gesagt habe ...« Ich schüttle nur müde den Kopf. Dabei trage ich ein schwaches Lächeln auf den Lippen. »Müssen wir diese Themen immer wieder aufarbeiten? Ich habe nicht mehr die Kraft dafür. Du hast doch schon alles gesagt.« Er blickt still zu mir hinauf. Auf seinen Lippen zeichnet sich das Bedürfnis etwas zu sagen, doch er lässt es nicht zu.

Nach mehreren Minuten stille ziehe ich den Teebeutel raus und reiche Agon langsam seinen Tee.

»Ich habe manchmal Angst davor, dass sie aufhört zu atmen.« Meine Augen weiten sich. Mein Blick schnellt zu ihm und meine Finger verbrennen sich leicht an der heißen Tasse. Agon ist über seine eigene Beichte erstaunt, doch dieses Erstaunen schluckt er auch schnell wieder runter. »Als Dea noch ein Baby war, da hatte sie Atemaussetzer im Schlaf. Ich erinnere mich noch daran. Es war wie heute am schneien. Sie war ohnehin schon krank. Am Anfang schlief sie noch ruhig. Ich habe nur eine Sekunde weggeschaut. Es war wirklich nur eine winzige Sekunde. Ein Blick zurück und sie lief blau an.« Er nimmt ein Schluck von seinem Tee und verzieht das Gesicht. »Nachdem Vorfall war sie im Schlaflabor und sie musste mehrere Monatelang über die Nacht an einem Gerät verbunden sein.« Ich bin sprachlos. Ich weiß nicht, was ich mit dieser Situation anfangen soll. »Dieses Gefühl was ich in dieser Nacht hatte ... Ich habe es nicht mehr gespürt bis wir in diesem Auto saßen.« Meine Augen brennen, doch ich versuche dies mit schnellem Blinzeln zu lindern. »Agon ...«, hauche ich erdrückt von Gefühlen. Er sieht mich mit ernsten Blick an. »Ich habe nicht gelogen, Odesa. Nicht wirklich.« Er lebt nur für seine Tochter.

»Ich respektiere das.«, antworte ich jedoch mit fester Stimme. Er blinzelt nur. »Aber ich werde es nicht mehr tolerieren, wie du mit mir umgehst.« Schweigsam betrachtet er mich. »Gut.« Er nickt zustimmend ... fast schon erleichtert. Als würde eine Spannung von seinen Schultern fallen. »Du hattest recht.« So bitter wie diese Worte auch wohl von meinem Mund klingen mag. »Ich kann dir nicht vergeben.« Eine unvergleichliche Dunkelheit spiegelt sich in seinen Augen. »Nicht alles, jedenfalls. Ich will wegrennen und ich will vergessen und ja, ich will fallen.« Damit hattest du auch recht. »Aber ich stehe dazu, Agon. Sag mir, wann standest du zu deinen Gefühlen?« Es hat ihm die Sprache verschlagen. Seine Augen sind vor völliger Überraschung aufgerissen. Seine Hand, die sich um den Griff der Tasse verfestigt. Diese Leere in seinem Blick. Es muss ein Ende finden und das wird es ... Vielleicht hat es schon sein Ende bekommen.

Wir trinken unsere Tassen in Schweigsamkeit leer. Bis wir die nächste Tasse auffüllen und die Nächste und die Nächste—

Mein Blick fällt auf seiner Schulter. Auf einen seiner Tattoos. Es ist eine Abbildung von einem Riss, welcher seine Haut wie zerrissenes Papier erscheinen lässt. Als wäre seine Haut zerbrochen und beschädigt. »Was bedeutet es?«, frage ich von plötzlicher Neugier gepackt. Er schaut auf seine Schulter runter und ich komme ihm ein kleinen Schritt näher. »Darf ich?« Ich möchte meine Hand darauflegen, doch er zuckt zurück. »Ich mag es nicht, wenn—« Ich schüttle halblächelnd den Kopf. »Alles gut, du musst dich nicht— Wenn du nicht willst, dann willst du nicht.« Er blinzelt langsam. Als würden ihm meine Worte an etwas erinnern. Ein neues Licht auf etwas schenken. »Das Tattoo habe ich ein paar Monate vor Dea's Geburt gemacht. Ich weiß nicht, was es zu bedeuten hat. Ich glaube keiner meiner Tattoos hat eine Bedeutung.« Er zuckt leise mit den Achseln und ich unterdrücke das Bedürfnis meine Augen zu verdrehen. Typisch Männer. »Darf ich mir eine eigene Bedeutung ausdenken?« Er betrachtet mein Gesicht und nickt langsam. Ich gluckse fast schon vor Freude auf. Doch ich achte darauf äußerst leise zu bleiben. Hmm, schwierig.

»Ich weiß nicht ... vielleicht steht es ja für die Oberflächlichkeit. Hier zum Beispiel.« Ich zeige auf die Stelle ohne ihn zu berühren und komme ihm dabei ein bisschen näher. »Es sieht so aus, als hätten sich durch die Risse ein Loch geöffnet. Zwar ist das Innere schwarz und doch ist es nicht leer.« Er beobachtet mich weiterhin nur still. »Damit meine ich, dass dein Aussehen nicht widerspiegelt was in dir vorgeht. Was sagst du? Richtig geraten?« Ein kleines Schmunzeln bildet sich auf seinen Lippen. »Wie gesagt, keine Bedeutung.« Diesmal verdrehe ich wirklich meine Augen. Ich betrachte seinen Arm. Von dem Riss hinab bildet sich eine Reihe weiterer Tattoos. Da drunter zeichnet sich der Schatten eines eingesperrten Mannes, weiter verziert mit kleinen unlesbaren Schriften und Zahlen. Die für mich persönlich keinen Sinn ergeben. Daneben zeichnet sich das Tattoo einer oberen Gesichtshälfte mit weißen Augen, welcher keine Pupillen besitzen und schlangenartigen Haaren. Auch dieses Tattoo ist verziert mit kleinen Schriften und Zeichnen. Doch mein Auge bleibt auf etwas anderes stehen. Auf ein bestimmtes Tattoo an seinem Handgelenk. Einer einfachen kleinen Träne. Und obwohl Agon mir vorhin der Berührung entzogen ist, ist er derjenige, der mir seine Hand anbietet. Ich blinzle zu ihm hoch und lächle leicht. Meine weichen Fingerkuppen ummanteln sein Handgelenk und streichen sanft über das kleine Tattoo. Eine Gänsehaut bildet sich auf dieser Stelle und ich ziehe tief die Luft ein. »Die Träne steht für das, was man verloren hat.«

Ich lasse sein Handgelenk wieder fallen und atme leise aus. Es fühlt sich so an, als würde seine Haut mich verbrennen. Ich gehe ein kleinen Schritt zurück. Es hat nichts zu bedeuten. Meine Fingerkuppen streicheln mein eigenes Handgelenk ein letztes Mal. »Ich hätte auch gerne ein Tattoo.«, gebe ich gedämpft zu. Er blickt mich undefinierbar an. »Früher nicht.« Ich zucke nur belanglos mit den Schultern. »Zeiten ändern sich und Menschen auch.« Etwas blitzt in seinen grünen Augen auf. Etwas unerklärliches. »Wo?«, fragt er zuckenden Fingerkuppen. Ich seufze leise. Soll ich? Oder soll ich nicht? Meine Hände verharren an dem Saum meines T-Shirts. Ich denke nicht lange darüber nach und ziehe mein Shirt hoch. Agon keucht leise auf. Seine Augen verdunkeln sich. Mehrere Nuancen tiefer, wirken fast schon wie der Schatten. Ich atme laut ein und eine Gänsehaut bildet sich auf meinem Bauch, sobald eine Brise sie streift. Agon's Augen sind auf meiner Rippe verfestigt. Sie zeichnen jeden einzelnen Zentimeter der Narbe mit grüner Farbe nach. Er nähert sich mir, versucht ein besseren Blick darauf zu werfen. Ich blicke unsicher zu ihm hoch. »Ich finde es sehr hässlich und wünsche mir einfach es verdecken zu können.« Agon antwortet mir nicht. Er reagiert nicht einmal auf meine Worte. Er ballt seine Hand zu einer Faust und ich erkenne den inneren Tumult, der in seinem Körper stattfindet. Ich überlege nicht. Ich greife nach seiner Faust und öffne sie, nur um sein Zeigefinger auf meine Narbe zu legen. Wir beide keuchen leise auf. Doch nun spielen seine Finger ein eigenes Lied auf meiner vernarbten Haut.

Es passiert so plötzlich, doch nicht versteckt. Denn er greift mit seiner anderen Hand nach Meiner und legt sie auf seine Schulter, dabei zuckt er leicht zusammen. Meine Augen weiten sich, doch ich kommentiere es nicht. Ich habe das Gefühl, dass sobald ich etwas sage, ich alles wieder zerstöre. Nun berühren wir uns gegenseitig. Wir tasten beide an der Verletzlichkeit des Anderen. Meine Hand zeichnet sein großes Tattoo nach, was mir vorhin noch nicht erlaubt wurde und er fährt mit seiner rauen Hand sanft über das Eingeritzte. Über das »V«, was auf meiner Haut geritzt wurde. »Hat Adem es gesehen?« Ich nicke langsam. Ich erkenne, wie Agon alles zusammen kalkuliert. Wie sein Gehirn in Aufmarsch arbeitet. »Er weiß nicht, was es zu bedeuten hat.« Doch wir beide wissen, dass dieser Buchstabe eine Verewigung darstellt. Mein Bauch zieht sich zusammen bei dem Gefühl seiner kalten Fingerkuppen. Wir sind uns viel näher, als wir es geplant hatten. Ich spüre sein Atem gegen meine Wange. »Es hat keine Bedeutung.«, sagt er mit fester Stimme. Unsere Augen finden sich in der Stille.

Ich male kleine Kreise auf seinem Tattoo. Ich weiß nicht warum. Ich denke es beruhigt mich. Genauso wie mich seine Worte beruhigen. Denn er hat recht. Das was auf meiner Haut steht hat keine Bedeutung. Sondern, jeder Atemzug den ich nehme. »Du kannst mir nichts vorzeichnen oder?«, frage ich leise. Er schüttelt den Kopf. Nichtsdestotrotz malt er mit seinen Fingerspitzen etwas auf der Narbe. Ein Stern. »Das V ist nicht so groß. Ein Stern passt perfekt.« Ein leichtes Lächeln setzt sich auf meine Lippen. Er scheint in seinem eigenen Element zu sein. Denn er bemerkt nicht, wie konzentriert er die kleinen Zacken zeichnet. »Eine Sternschnuppe ist besser, dann kann ich mir etwas wünschen.«, flüstere ich leise. Er schüttelt nur abgelenkt den Kopf. »Das würde nicht zu dir passen.« Er verschlägt mir den Atem. Wie können solche bedachten Wörter von einem Mann fallen, welcher dauernd mit Feuer aus dem Mund spuckt? »Aber wenn ich nicht die Sternschnuppe nehme, dann kann ich mir nichts wünschen?« Er blickt zu mir hoch. Seine Augen funkeln in dem dämmernden Licht der Küche. »Wünschen kannst du immer was, aber anstatt dass alle deine Wünsche wahr werden, setzt du alles auf einen Wunsch. Ist das nicht dumm?« Nun bildet sich ein Grinsen auf meine Lippen.

»Ich dachte Tattoos haben keine Bedeutung.« Seine Hand verlässt meine Haut und er lehnt sich leicht schmunzelnd zurück. Mein Blick fällt automatisch auf seine weiteren Tattoos. Auf seinem anderen Arm komplett ausgebreitet befinden sich nur Unmengen von Blitze. Da ziehe ich meine Augenbrauen zusammen. »Kein Tattoo für Dea?« Er schaut auf seinem Arm hinab. »Meine Tattoos—« Ich rolle mit den Augen. »Haben keine Bedeutung, jaja!« Agon's Mundwinkel zuckt hoch. »Du bist ihr Vater! Kannst du dir nicht ihren Namen oder so tätowieren?« Nun zieht er ihn komplett hoch. »Natürlich ist das deine erste Idee.« Meine Wangen erröten sich augenblicklich. Mist! Daran habe ich gar nicht nachgedacht. »Du weißt, was ich meine ...«, murmle ich geniert. Agon's Augen funkeln leicht und eine Brise von Frieden schwebt in der Luft. Peinlich berührt kratze ich mich am Nacken und Agon nimmt ein weiteren Schluck von seinem Tee. »Ich habe noch weitere Tattoos. An den Rippen.«

»Und überm Arsch?«, frage ich mokant. Amüsiert schüttelt er nur den Kopf. »Nein, die Stelle ist frei.« Gut zu wissen. Ich betrachte ihn für eine kurze Weile. So gelassen habe ich ihn lange nicht mehr gesehen. So frei— so erleichtert. »Ich kann mich kaum daran erinnern, wann wir das letzte Mal, ohne uns zu streiten miteinander geredet haben.«, platzt es aus mir heraus. Agon verkrampft sich leicht. Doch es ist nicht gelogen. Agon und ich kriegen uns immer in die Haare. Wir sind nie derselben Meinung. Wir sehen die Welt aus verschiedenen Augen. »Es ist viel passiert.«, erwidert er lediglich. Es ist eine Untertreibung. Ein Satz, welcher für manche eine Beruhigung darstellt, ist für mich der Inbegriff eines Witzes. Es ist eine Gemeinheit für mein Herz und eine Strafe für meine Seele. Und doch lache ich sarkastisch auf. »Es ist zu viel passiert.« Er nickt langsam. Beobachtet mich mit einem leicht nachdenklichen Blick. »Vielleicht musste es passieren.« Ich nicke zustimmend. Vielleicht ist der Schmerz der einzige Weg zur Heilung. Ich tippe mit meinem Nagel rhythmisch gegen die Tasse. »Fragst du dich manchmal, was gewesen wäre wenn—«, setze ich an.

»Jeden Tag.«

Meine Augen weiten sich. Ja, meine Pupillen breiten sich aus bis sie den Mond in der Galaxie erkennen und die Sterne Hand für Hand abzählen können. Mein Herz schlägt, tobt und pumpt laut. Jeder einzelne Schlag klingt wie der einer lauten Trommel, welches ein Orchester der Sehnsucht spielt. Ihm scheinen seine eigenen Worte nicht so zu schocken, wie sie mich. Nein. Er blickt mir seelenruhig in die Augen. Kein Scham, keine Unsicherheit. Nur pure Nostalgie. Es nimmt mir die Last von den Schultern. Es schenkt mir Hoffnung. Es erinnert mich daran, dass ich nicht die Einzige bin, die nicht loslassen kann. Es komfortiert das junge Mädchen in mir, an was ich tagtäglich festhalte. Da die Angst zu groß ist, sich selbst in einer Reihe von Kreaturen- artigen Menschen zu verlieren. Ich lasse nicht zu, dass sich eine Träne in mein Auge nistet. Das jede einzelne Partikel von Feuchtigkeit zueinander findet und eine Familie gründet. Nein, ich lasse mir ein Lächeln auf das Gesicht wachsen. Denn ich möchte neu anfangen.

»Damit solltest du— Damit sollten wir aufhören.« Verwundert blinzelt er. Ich atme leicht zittrig aus. »Wie schon gesagt, du hattest recht. Wir halten an etwas fest, was es schon lange nicht mehr gibt. Wir versuchen etwas, was verrottet ist, wieder zu beleben. Und was bringt uns das? Schmerz. Ich will nicht mehr so weitermachen.« Eine Antwort kriege ich nicht. Nur ein Hauch von ungewollter Akzeptanz, welche wie im Flug in seinen Augen erblicht. Ich setze mir ein freundliches Lächeln aufs Gesicht und strecke ihm meine Hand aus. Er zieht seine Augenbrauen zusammen. »Hallo, ich bin Odesa.« Voller Verwirrung schnaubt er. »Ich weiß, wir waren zusammen im Kindergarten. Was soll das?« Warum besitze ich bloß immer das Bedürfnis in seiner Nähe meine Augen zu verdrehen. »Ein Neuanfang. Lass uns Freunde sein!« Stille erfolgt. »Was?«

»Lass uns Freunde sein.« Er lacht sarkastisch
auf. »Das meinst du nicht ernst.« Es hört sich so an, als würden ihn diese Worte fast schon schmerzen. »Warum nicht?« Verwirrt stottere ich. Er blickt verbissen weg. Für ein Moment denke ich, dass nichts mehr kommt. Doch dann — »Wir können nie nur Freunde sein, Odesa.« Er lächelt traurig. Es ähnelt kaum einem Lächeln, sondern mehr einer Grimasse. Ich lasse meine Hand in der Luft fallen. Nie. Ich blinzle unkontrolliert mit den Augen. Mein Herz springt und gleichzeitig teilt es sich in klitzekleine Bruchstücke. Bruchstücke die den Tränen eines Engels gleichen. Meine Mundwinkel zucken ebenfalls. Er hat recht. Warum hat dieser Mann immer nur recht? Ich habe das nicht erwartet. Ich— ich kann nicht glauben— Er gibt es zu. Ungewollt kullert eine einzelne Träne über meine Wange. Eine Träne, welche mir nun endlich den Frieden schenkt. Ich schließe meine Augen und spüre eine raue Hand, welche mir die Träne ganz langsam wegwischt. Aufschnappend weitet sich mein Brustkorb aus. Doch ich öffne meine Augen nicht. Ich möchte diesen Moment inhalieren, wie der Duft der leichten Minze in meinem Tee.

Es fühlt sich so geborgen an unter seiner Handfläche. Als würde mein Herz sich mit seinem Herz anfreunden. Als würden sie wie kleine Kinder miteinander spielen. Wie ein altes Ehepaar darauf warten, dass der andere zu Bett kommt. Es ist so ... vollkommen. Langsam öffne ich meine Augen. »Dann sei ein Teil meiner Familie.« Seine Augen weiten sich. Seine Hand unter meiner Haut brennt, zittert. Er lässt sie fallen. »Odesa—« Ich ignoriere ihn. Ich möchte nichts von seiner dämlichen Angst, die er als Vernunft verkauft, hören. »Und lass mich ein Teil deiner Familie sein.« Er rollt mit den Augen. »Sei nicht so kitschig.« Ein Prusten verlässt meine Lippen, doch bei seinem intensiven Blick verstumme ich schnell. »Du bist es schon.«, versichert er mir nach verklemmender Stille. Denn auch unter meinem Lächeln verbirgt sich eine Unsicherheit. Eine große Angst, alles was ich besitze mit der bloßen Hand zu zerstören. Mein Herz geht auf. »Ich soll ein Teil deiner Familie sein, wirklich?«, fragt er mich mit nun leicht rauer Stimme. Meine Lippen spalten sich. Stumm und lautlos. Er nickt langsam. »Okay.« Er nickt unbeholfen, leckt sich dabei über die Unterlippe, als würde er den Nachgeschmack seiner Worte testen. »Okay.« Leise und doch so intensiv, versprechen mir es seine Augen. Er verspricht es mir, dass er ein Teil meiner Familie ist. Und dann passiert etwas, womit ich mir sicher war, dass ich es nie wieder erleben würde. Er schenkt mir etwas, was mir vor Jahren genommen hat.

Er schenkt mir ein Lächeln.

Fun fact: jeder von Agon's Tattoos hat eine Bedeutung.

Es würde mich freuen, wenn ihr mir hier auf Wattpad folgt. Somit kriegt ihr alle Ankündigungen mit und verpasst nie ein Kapitel.

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