Wo wir frei sind

By InaAnnelie

5.7K 668 370

Anni und Mike haben sich noch nie getroffen und doch sind ihrer beider Leben auf eine ganz spezielle Weise mi... More

1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
25.
26.
27.
28.
29.
30.
31.
33.
34.
35.
36.

32.

143 18 12
By InaAnnelie

Anni

Es wurde düster in der Hütte. Ein Blick aus den Fenstern zeigte mir, dass sich der Himmel zugezogen hatte und es wieder schneite. Ich zog die Beine enger an meinen Körper und schlang meine Arme herum. Ich fror, aber mir war die ganze Zeit schon so kalt, dass es keine große Rolle mehr spielte. Im Grunde nahm ich die Kälte von außen kaum wahr, weil ich innerlich noch viel mehr fror. Ich wusste, dass es höchste Zeit gewesen wäre nach Hause zu gehen, denn sehr bald würde es dafür zu dunkel werden. Der Weg war im Grunde nicht tragisch, aber ohne Tageslicht und vor allem mit dem ganzen Neuschnee, doch zu gefährlich. Wenn ich hier oben bleiben wollte, dann musste ich für Wärme sorgen, Feuer machen und auch endlich zu Hause Bescheid geben. Doch Holz und Handyempfang gab es nur vor der Hütte und ich konnte mich einfach nicht dazu aufraffen aufzustehen. Heute Morgen und den Vormittag über, hatte ich nicht eine Sekunde Stillstand ertragen. Ich war stundenlang ziellos durch die Gegend gerannt und irgendwann hier gelandet. Doch jetzt fühlte ich mich wie ein wechselwarmes Tier, das sich nicht einen Zentimeter mehr bewegen konnte, weil seine Umgebung so schrecklich kalt war.  Früher hatte ich unsere Hütte immer Mal wieder als Rückzugsort benutzt, aber das war verdammt lange her. Niemand würde sich noch daran erinnern. Ich zitterte, kuschelte mich tiefer in meine Jacke und den weichen, flauschigen Pullover. Er wärmte mich, aber ich wünschte mir trotzdem, ich hätte ihn nicht angezogen. Die ganze Zeit seinen Geruch in der Nase zu haben, war Folter. Ich schniefte. Ich wollte nicht mehr länger an ihn denken müssen. Ich war mir nicht mal mehr sicher, ob ich auch nur ansatzweise wusste, wer oder was er wirklich war. Michi oder Mike? Beide? Oder keiner, nichts davon?

Woher sollte ich jetzt noch wissen was davon Wahrheit und was Lüge war? Ich konnte die Zusammenhänge nur schwer erfassen und auch kaum ertragen. Er hatte mich manipuliert, sein Wissen über mich ausgenutzt und mich so dazu gebracht mich in ihn zu verlieben. Und ich, ich hatte es ihm sehr leicht gemacht. So unfassbar naiv und gutgläubig, das passte gar nicht zu mir. Das Schlimmste daran war, dass ich diese Gefühle jetzt nicht mehr einfach abstellen konnte. Ich ertappte mich sogar dabei, wie ich versuchte einen Funken Verständnis aufzubringen und nach Entschuldigen für ihn zu suchen. Nur weil ich die traurige Realität nicht wahrhaben wollte.

Anni, steh jetzt auf, mach Feuer, Licht und schreib eine Nachricht an deine Mutter. Doch mein Körper und mein Kopf waren so erschöpft und energielos. Ich blieb einfach genauso sitzen. Ein Geräusch riss mich irgendwann aus meiner Lethargie. Ich hörte etwas, das wie Schritte klang, ein Poltern, sicher nur irgendein Tier, aber dann klopfte es. „Anni? Bist du da drin?" Für einen Moment hoffte mein dummes, erbärmliches Herz, er könnte es sein. Er würde mich in den Arm nehmen, mir alles erklären. Nur ein dummes Missverständnis und alles würde sich aufklären. Aber es gab nichts weiter aufzuklären und das war auch nicht seine Stimme. Die Klinke bewegte sich langsam nach unten. „Anni Gottseidank! Was machst du denn hier oben? Bist du irre? Alle machen sich mittlerweile Sorgen." Ich kauerte mich noch enger auf der schmalen Holzbank zusammen, zuckte mit den Schultern und wich Simons besorgten und gleichzeitig vorwurfsvollen Blicken aus. Ich hätte nicht überraschter sein können, dass gerade er nach mir suchte und das schlechte Gewissen nagte sofort an mir. Am liebsten hätte ich mich unsichtbar gemacht. „Es ist ja eiskalt hier drinnen." Er schloss die Tür hinter sich und rieb seine Hände aneinander. Dann macht er die Gaslampen an, nahm seinen Rucksack ab und ließ sich neben mich auf die Bank fallen. „Was ist los mit dir?"

„Was soll sein? Ich hab einfach etwas Ruhe gebraucht. Aber offensichtlich ist das nicht mal hier möglich.", antwortete ich in einem unangebrachten, schnippischen Ton. Er schnaubte empört durch die Nase „Anni echt, jetzt ist aber gut. Ich hab alles stehen und liegen lassen und bin wie ein Irrer hier hochgerannt, durch den ganzen Schnee, weil es gleich dunkel wird."

„Ich kann mich nicht erinnern, dich darum gebeten zu haben, oder? Woher weißt du, überhaupt...?" „Dass du verschwunden bist? Oder dass du dich hier verkochen hast? Jakob hat mich angerufen, weil deine Mutter und die ganze Familie sich Sorgen macht. Vroni ist übrigens auch schon unruhig. Dass du hier sein könntest, war nur eine spontane Idee, aber die einzige Option, die mir noch irgendwie plausibel erschien."

„Wissen sie, dass du hier bist?" Er schüttelte den Kopf. „Aber gleich. Ich ruf sie an. Wir werden heute Nacht hier bleiben müssen. Jetzt noch zurückzugehen, wäre nicht besonders klug."

„Du willst hier bleiben?" „Fällt dir was Besseres ein? Es wird in einer halben Stunde stockfinster sein und ich hab keine Lust mir wegen dir auch noch die Knochen zu brechen. Ich geh jetzt erstmal telefonieren.", brummte er etwas mürrisch. Er kramte herum und legte mir eine Decke über die Schultern, bevor er die Hütte wieder verließ.

Es kam mir wie eine kleine Ewigkeit vor bis er wieder zurückkam. Er sagte kein Wort, hatte aber einen Korb mit Holz dabei. Er stellte ihn ab, zog die Spikes von seinen Schuhen und legte Mütze und Handschuhe ab. Dann kniete er sich vor den Ofen und begann Feuer zu machen.

„Wen hast du angerufen?"
„Deine Mutter und Natalie."

„Und?"

„Deine Mutter war sehr erleichtert, dass du ok bist."

„Und Natalie?"

„Wird mir wahrscheinlich morgen erst den Kopf abreißen." Er drehte sich zu mir und zeigte zum ersten Mal etwas, was als Lächeln durchgehen konnte.

„Tut mir leid, wenn du wegen mir Ärger bekommst."

„Schon gut. Sie wird's schon verkraften und du hast ja Recht. Niemand hat mich drum gebeten." Er widmete sich erneut dem Holz und dem Ofen. Ich beobachtete ihn und starrte seinen Hinterkopf eine Weile an. „Ich hab es nicht so gemeint. Ich bin nur etwas neben der Spur." Er brummte irgendwas, beachtete mich aber nicht weiter. Als das Feuer brannte, hockte er sich davor auf den Boden und wärmte sich die Hände. „Willst du nicht herkommen? Du musst doch total durchgefroren sein." Ich zögerte, stand dann aber doch endlich auf und nahm zwei rot-karierte Sitzkissen mit. Ich drückte Simon eins in die Hand und setzte mich dann mit dem anderen, neben ihn auf den Fußboden. Ich zog meine Jacke aus, damit ich die Wärme besser spüren konnte, wickelte mich aber sofort wieder in die Decke ein um diesen beschissenen Pullover nicht sehen zu müssen. Meine Füße, die Hände und auch mein ganzer restlicher Körper fühlten sich steif und taub an. Die Hitze des Feuers kroch langsam in meine Wangen. Auch Simon legte seine Jacke ab und lockerte seine Schürsenkel. Ich schielte zu ihm rüber. Ob er sauer auf mich war, weil ich ihn in diese Lage gebracht hatte? Wenn man ihn nicht gut kannte, würde man denken, er sei die Ruhe selbst, aber ich konnte seine Körpersprache immer noch gut lesen und auch sein Gesicht. Seine Haltung war verkrampft und er presste nach jedem Satz die Lippen für ein paar Sekunden aufeinander. Sein Ausdruck war zwar kontrolliert, aber seine Augen verrieten ihn. Er war angespannt und definitiv wütend. Als er bemerkte, dass ich ihn musterte, stand er auf. „Ich mach uns mal Tee. Du siehst echt nicht gut aus. Warum hast du dir nicht wenigstens ein Feuer gemacht? Ich check es nicht." Ich zuckte nur teilnahmslos mit den Schultern. Er füllte Wasser in den alten, verbeulten Topf, holte allerhand Zeug aus seinem Rucksack und durchsuchte die Schränke. Irgendwann brummte er zufrieden. „Auf deine Oma ist halt Verlass. Hier trink das erstmal." Er stellte zwei Schnapsgläser hin und füllte sie mit Oma Lises Enzian. „Ich musst dich ja irgendwie schnell warmkriegen und zwar dringend." Normalerweise hätte ich der Versuchung irgendwas Anzügliches, Frivoles auf so einen Satz zu antworten, nicht widerstehen können, aber nicht jetzt und nicht bei ihm. Die Situation war schon absurd und unwirklich genug. Ich wollte eigentlich protestieren, nahm das Glas dann aber doch ohne Diskussion entgegen. „Prost." Die kleinen Gläschen klirrten, als sie sich berührten. Ich schüttete das Zeug in mich hinein, obwohl ich es verabscheute. Simon wusste das. Aber vielleicht erinnerte er sich auch gar nicht mehr daran. Er lachte laut, als ich das Gesicht angewidert verzog und den Kopf schüttelte. „Ja ich weiß, aber manchmal heiligt der Zweck eben die Mittel." Der Schnaps brannte in meiner Kehle, sammelte sich dann aber zu einer kleinen Pfütze voll Wärme in meiner Brust. Das tat überraschend gut und war wie ein kleiner Funken Glück, der gleich wieder verglühen würde. Ich schielte auf die Flasche in Simons Hand und hielt ihm mein Glas nochmal entgegen. „Noch einen?" Er zog verwundert die Augenbrauen hoch. „Sicher? Wann hast du denn zuletzt was gegessen?" „Jetzt schenk schon ein, Simon der Vernünftige.", stöhnte ich entnervt und verdrehte die Augen. Mit diesem Spitznamen, den ihm seine Mutter eingebrockt hatte, hatten wir ihn in der Kindheit so manches Mal bis aufs Blut gereizt. Wenn Simons Mutter über ihre drei Söhne redete, vergaß sie nie zu erwähnen, dass Simon ja der Vernünftige der drei sei. Seine jüngeren Brüder zogen ihn oft damit auf und auch ich fand schnell heraus, dass man damit den gechillten, ausgeglichenen Simon, zuverlässig aus der Reserve locken konnte. Er hatte es gehasst, so genannt zu werden. Ganz verfehlte es seine Wirkung wohl noch immer nicht, denn in seinen Augen funkelte es und seine Mundwinkel zuckten verdächtig. „Simon der EINZIG Vernünftige hier, schenkt dir nur nochmal ein, wenn du gleich was isst. Such dir was aus " Er schmiss mir eine Tüte Chips und je eine Packung Butterkekse und Salznüsse hin. Kann dir auch noch eine fürstliche Fünf-Minuten-Terrine anbieten.

Zehn Minuten, zwei Schnaps und einen Hühner-Nudeltopf später, saßen wir einträchtig nebeneinander und ich fühlte mich um Welten besser. Ich hatte warme, selbstgestrickte Socken von Tante Elfi gefunden, die wir uns angezogen hatten und ich spürte sogar meine Zehen wieder. Ich nagte an einem Butterkeks herum und nippte an meinem Pfefferminztee. „Wirst du mir erzählen warum du dich hier versteckst?", fragte er. Ich überlegte, stocherte mit dem Schürhaken im Feuer herum. „ Vielleicht, ich weiß nicht. Mein Hirn läuft bei dem Thema sofort Amok. Deshalb versuche ich möglichst wenig darüber nachzudenken."

„Und das funktioniert?"

„Nein natürlich nicht oder zumindest nur bedingt. Ich frage mich, wie oft man es schaffen kann, etwas loszulassen, was man eigentlich mit jeder Faser behalten will, ohne sich selbst dabei zu verlieren?"

Simon hob den Kopf und sah mich merkwürdig an. „Du fragst den Falschen. Ich bin nicht gut im Loslassen. War ich nie."

„Ich weiß.", antwortete ich kleinlaut. „Aber manchmal zwingt einen das Leben dazu, ob man nun will oder nicht."

Der vertraute Minztee-Geschmack tat gut. Er beruhigte mich und auch Simons Anwesenheit tat das, stellte ich überrascht fest. „Warum warst du dir so sicher, dass ich hier bin? Ich wusste selber nicht mal, dass ich herkommen wollte, bis ich vor der Tür stand." „War ich nicht. Als Jakob mich angerufen hat, kam mir wie eine plötzliche Eingebung die Hütte in den Sinn. Ich hab lange nicht mehr daran gedacht, aber wenn du früher Ärger hattest oder wir uns gestritten haben, hast du dich auch manchmal hier verkrochen. Ganz am Anfang haben wir ständig Zeit hier oben verbracht und niemanden etwas gesagt."

„Oh ja, das hatte aber auch ganz praktische und offensichtliche Gründe. " Ich schmunzelte, auch weil diese Erinnerungen Simon offenbar etwas in Verlegenheit brachten. Er hatte den Blick abgewandt und nestelte an seinem Hosenbein herum. „Tschuldige, ich wollte nicht..." „Du wolltest vor allem äußerst geschickt vomThema ablenken, Anni. Also, warum sitzen wir hier?"

Ich schnupperte an meinem Tee. „Ich liebe den Geruch von Pfefferminztee. Er erinnert mich immer an meine Kindheit. Aber richtigen, echten Minztee hab ich das erste Mal in Marrakesch getrunken. Das war eine Offenbarung, eine Geschmacksexplosion..." Er warf mir einen strafenden Blick zu und schüttelte stumm den Kopf.

„Ok, funktioniert nicht, hans verstanden. Wenn du es unbedingt hören musst. Ich hab mich verliebt und ..." Ich schluckte. Mein Hals schnürte sich augenblicklich zu. „..und so wie es aussieht, hat mich meine Menschenkenntnis dabei, auf die ich mir sonst so viel einbilde, ziemlich erbärmlich im Stich gelassen." Meine Stimme klang aufgesetzt gleichgültig. So als würde ich gar nicht über mich sprechen. Ich kniff meine Augen zusammen. Ich würde doch nicht ausgerechnet jetzt anfangen zu heulen.

„Du musst nicht so tun, als wär es dir nicht wichtig, Anni. Wir säßen nicht hier, wenn es so wäre."

„Es fühlt sich aber nicht richtig an, dich damit vollzuquatschen. Schlimm genug, dass du hier mit mir gefangen bist."

„Ach weißt du, es gibt Schlimmeres."

„Ja? Ich könnte schwören, dass du  stinksauer auf mich bist. Dein rechtes Augenlid zuckt immer wieder."

„Vielleicht ist es doch schlimm. Ich hab fast vergessen was für eine Plage du sein kannst." Er verdrehte die Augen. „Ich bin nicht wütend auf dich. Vielleicht sollte ich es sein, aber ich bin es nicht. Nicht wirklich. Wenn ich ehrlich sein soll, dann...?"

„Oh ja ich bitte sehr darum. Von Lügengeschichten und Halbwahrheiten hab ich fürs erste genug. Also immer raus mit der Sprache."

„Ich war im ersten Moment wütend, aber nur weil ich wirklich Angst hatte, dir könnte etwas passiert sein. Und dann ist mir unterwegs eingefallen, dass das letzte was ich zu dir gesagt habe, irgendwas Idiotisches über Lieferengpässe gewesen ist." Ich kicherte und legte den Kopf zurück. „Findest du das lustig?" „Tut mir leid, ein bisschen schon." Ich versuchte meine Mundwinkel zu kontrollieren. „Der Enzian ist schuld. Im Ernst du hast mir was über Lieferengpässe erzählt? Das hab ich wohl verdrängt." Es rührte mich, dass er über solche Sachen nachdachte. Das es überhaupt eine Bedeutung für ihn hatte. „Aber es war ein gutes Gespräch oder? Also abgesehen von den Lieferengpässen?" „Ja, schätze schon." „Vielleicht sollte man viel öfter daran denken, dass es immer das letzte Mal sein könnte, dass man mit einem Menschen spricht. Hab ich dir jemals erzählzt, was der letzte Satz war den ich zu Sebi gesagt habe? Ich holte Luft. Es war manchmal immer noch schwer über Sebi und den Unfall zu sprechen, aber gleichzeitig war es auch ein großes Bedürfnis, es zu tun, gerade bei Simon. „Ich glaube nicht." Simons Stimme nahm einen weicheren Klang an. „Ich war sehr geknickt und motzig zu ihm an dem Morgen, weil ich ja unbedingt mitwollte und er versuchte vergeblich mich aufzuheitern. Jetzt hau schon ab und grüß wenigstens die Alpendohlen von mir, da oben. – Das hab ich zu ihm gesagt. Er hat gelacht und den Kopf geschüttelt. Du und deine Dohlen. Weißt du was, ich fütter sie sogar für dich, obwohl man das ja eigentlich nicht tun sollte. Er hat mich in die Seite gezwickt und ist gegangen. Für immer."

Simon fing meinen Blick ein, nach einer Weile sagte er: „Ich kann mich nicht daran erinnern. Ich hab's versucht, aber ich weiß einfach nicht mehr über was wir geredet haben. Wahrscheinlich über irgendwas Dummes, Belangloses."  Ich legte meine Hand für einen Moment auf seine Schulter. „Es spielt auch keine Rolle Simon, ob nun Bergdohlen, Fußball oder Lieferengpässe, was wirklich zählt sind all die Sätze und Momente davor. Weißt du noch als wir dem Gast, der sich über unser Getobe am Pool beschwert hat, einen Nagel unter den Reifen gelegt haben und er voll reingefahren ist? Oder als Sebi wegen seinem gebrochenen Arm im Krankenhaus lag und wir immer Chips, Süßigkeiten und Red Bull hineingeschmuggelt haben, weil er das Krankenhausessen so gehasst hat." Simon nickte. „Klar. Erinnerst du dich noch daran, wie wir mitten in der Nacht ins Freibad eingebrochen sind oder wie wir uns nachts manchmal heimlich rausgeschlichen haben, einfach nur weil es verboten und aufregend war. Du hast dann grundsätzlich gruselige Geschichten von weißen Frauen oder Axtmördern ausgepackt. Und Sebi und ich konnten auf keinen Fall zugeben, dass wir die Hosen voll hatten, wir waren ja schließlich die Jungs." Ich lachte leise. „Ich war oft viel weniger Mädchen, als ihr beide zusammen, glaub ich." „Definitiv. Du warst schon immer sehr furchtlos." „Wahrscheinlich nur, weil ich mich immer so sicher und unterstützt gefühlt habe. Ich hab gewusst, dass ich mich auf euch verlassen kann, dass ihr immer da seid, wenn's drauf ankommt. Auf mich alleine gestellt zu sein, musste ich später erst mühsam lernen. Das war echt hart, aber dafür hatten wir die beste Kindheit." Wir schwelgten noch eine Weile in Erinnerungen. „Das hat mir sehr gefehlt, Anni.", sagte er irgendwann. „Ich kann nur mit dir so über Sebi reden und dann ist es fast so, als würde er mit dabeisitzen und uns anlächeln." Ich legte den Kopf auf meine angezogenen Knie und schaute ins Feuer. „ Ja. Geht mir auch so und...ich bin froh, dass du da bist, Simon. Mit dir zu reden ist schön und es tut echt gut. Dabei hatte ich die ganze Zeit immer Angst davor. So viel übrigens zum Thema furchtlos. Er grinste breit. „Don't deny your fire, girl. Ich war auf Dauer einfach viel zu langweilig für dich, Annuschka." „So ein Blödsinn. Du bist Vieles, aber sicher nicht langweilig." „Doch nüchtern gesehen bin ich der ultimative Langweiler, aber das finde ich nicht mehr schlimm. Der aufregende und abenteuerlustige Teil in meinem Leben, mein Antrieb, das warst damals fast nur immer du und als du dann weg warst, war da ein riesiges Loch. Ich musste erst wieder lernen, wer ich bin und was ich will. Ich bin halt eher so wie deine Tasse Pfefferminztee da. Also die langweilige Beutelversion und das ist auch vollkommen ok. Ich muss nicht versuchen etwas anderes oder mehr zu sein." „Hattest du früher das Gefühl du musst?" „Nicht bewusst glaub ich. Aber ich wusste immer, dass du mehr brauchst, als das was mir so vorschwebte. Es war klar, dass du die Welt sehen und viel mehr erleben willst. Ich wollte Teil davon sein, mithalten, aber eher für dich, als für mich. Versteh mich jetzt nicht falsch. Mit dir zu verreisen, war unglaublich. Unser Roadtrip, war wahrscheinlich die schönste Zeit meines Lebens, aber ich hab es nie so sehr gefühlt oder gebraucht wie du. Einfach, weil ich hier immer schon glücklich und zufrieden war. Manchmal fühle ich sogar Mitleid mit all den Menschen, die nicht hier leben dürfen und die nicht hier aufwachsen durften. Trotzdem hab ich es wahnsinnig genossen, jede Sekunde davon und ich würde es nicht missen wollen. Ich habe es geliebt dich so zu sehen. Du warst so glücklich und viel ruhiger, entspannter und zufriedener, als sonst. Und du brauchtest dafür nur ganz wenig. Durch dich hab ich erst verstanden, war Reisen ist und sein kann. Nicht eine Woche irgendwo am Strand liegen und Cocktails schlürfen, sondern sich wirklich drauf einlassen und neue Dinge erleben und spüren. Von da an wusste ich aber auch, dass es damit für dich nicht getan war. Dass dir nicht diese eine, für mich große, einmalige Reise, genügen würde."

„Du hast dich echt verändert. Du hättest solche Dinge früher nie ausgesprochen, wahrscheinlich noch nicht mal gedacht."

„Wär ja schlimm, wenn man nicht dazulernen würde."

„Simon? Hast du schon mal jemand angelogen, den du liebst. Also ich meine nicht so kleine alltägliche Unwahrheiten, sondern so richtig?"

„ Hmm. Das kommt darauf an wie man Lügen definiert. Wenn man entscheidende Teile der Wahrheit weglässt, ist das dann auch lügen oder nicht? Ich hab Natalie nie die ganze Geschichte erzählt, warum wir uns oder besser gesagt, du dich getrennt hast. Vielleicht fliegt mir das irgendwann um die Ohren. In dem Punkt war ich nicht ehrlich."

„Ja, aber du hast es nicht gesagt, um mich zu schützen."

„Es gibt immer Gründe dafür, niemand lügt zum Spaß oder grundlos."

Ich runzelte die Stirn. „Sag es ihr. Wenn du es ihr sagen willst und es wichtig für dich, für euch ist, dann sag es ihr. Liebe verdient Ehrlichkeit und Klarheit." 

Continue Reading

You'll Also Like

6.1K 1.1K 20
Manche würden Gwaine Moreau als arrogant bezeichnen, eitel, vielleicht sogar als einen völlig abgehobenen Arsch. Doch in einem war sich jeder einig:...
27.2K 1K 34
Alles was sie wollte ist, die Vergangenheit zu vergessen. Die Vergangenheit, ihre Familie und all das Leid, welches ihr wiederfahren ist. Sie wollte...
15.9K 902 18
» Band 2 « 𝐕𝐚𝐥𝐞𝐧𝐭𝐢𝐧𝐚 𝐑𝐢𝐧𝐚𝐥𝐝𝐢 , eine junge Studentin, kriegt unerwartete Gefühle für ihren Entführer. Wird sie ihre verborgenen Emoti...
52.1K 1.5K 50
Emilia Schumacher, Mick Schumachers Schwester, findet ihren Weg beruflich im Rennsport Fuß zu fassen. In der kommenden Saison wird sie Marketingmanag...