31.

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Mike

Mir war kalt. Ich tastete im Halbschlaf nach meiner Bettdecke und dann nach Anni, blieb aber erfolglos- in beiden Fällen. Mühsam blinzelnd stellte ich fest, dass es draußen dabei war hell zu werden. Nur so fand ich auch meine Decke, die auf dem Boden lag. Anscheinend hatte ich sie irgendwann weggestrampelt oder rausgeworfen. Ungewöhnlich, denn ich war eigentlich ein extrem ruhiger Schläfer. Ich konnte immer und überall schlafen und meisten fiel ich dann in einen sehr tiefen, nahezu komatös wirkenden Schlaf in dem ich mich kaum bewegte. Seit meiner Erschöpfungsphase, war das wohl noch extremer geworden. Anni hatte erst neulich gemeint, sie hätte mehrmals besorgt kontrolliert, ob ich überhaupt noch atmen würde. Anni? Wo war sie denn? Ich angelte mir die Decke zurück ins Bett, mummelte mich ein und wartete auf sie. Vielleicht war sie nur kurz im Bad verschwunden? Allerdings war nicht das kleinste Geräusch zu hören. Vielleicht hatte sie schon irgendwas im Hotel zu erledigen? Vermutlich würde sie gleich mit Frühstück zurückkommen. Ich gähnte, mein Kopf war noch träge und mir fielen nach wenigen Minuten die Augen wieder zu.

Als ich erneut aufwachte, blendete mich die Sonne. Der Tag war nun deutlich weiter fortgeschritten, aber von Anni immer noch keine Spur. Ich streckte mich, krabbelte aus dem Bett und öffnete das Fenster. Das Wetter war ein wahrgewordener Traum in Weiß. Die schneebedeckte Landschaft glitzerte so hell, dass meine Augen im ersten Moment überfordert waren und sich erst daran gewöhnen mussten. Dann nahm ich ein paar tiefe Atemzüge und die milde, kalte Winterluft machte mich endlich richtig wach. War Anni irgendwo da draußen? Möglicherweise hatte ich ihre Rückkehr einfach verpennt und sie hatte nicht länger warten wollen. Ich suchte meine Sachen zusammen. Meine und auch Annis Klamotten lagen noch überall verstreut. Auch das wunderte mich, sie konnte so eine Unordnung immer nur begrenzt ertragen. Es war auch schon vorgekommen, dass sie mitten in der Nacht begonnen hatte aufzuräumen. Generell wirkte es nicht so, als ob sie sich heute Morgen schon hier aufgehalten hätte. Kein Kaffee, kein Frühstücksgeschirr. Nichts. Alles war noch genauso wie gestern Abend. Nur meine Jacke lag nicht mehr irgendwo auf dem Boden, sondern hing ordentlich über dem Stuhl. Irritiert stellte ich fest, dass mein Handy mitten auf dem Tisch lag, direkt neben Annis zugeklappten Laptop. Ein ungutes Gefühl stieg in mir hoch. Ich war mir sicher, es gestern nicht dort hingelegt zu haben. Anni würde aber doch nicht einfach...Sie hatte bestimmt nur die Jacke aufgeräumt und dabei musste es aus der Tasche gefallen sein. Ich nahm es in die Hand, entsperrte es und starrte minutenlang, fassungslos auf das Display. Mike? -stand da, mehr nicht. Mehr brauchte es auch nicht. Mir wurde kotzübel und in meinen Ohren rauschte es. Es war genau das passiert, wovor ich mich die ganze Zeit am meisten gefürchtet hatte und ich wunderte mich nicht Mal groß darüber. Ich hatte deutlich gespürt, dass ich angezählt war. Die ganze Zeit war mir bewusst gewesen, dass es irgendwann passieren würde, ja sogar musste, wenn ich es nicht schaffte mit ihr zu reden. Ich war für solche Spielchen nicht gemacht und so schlimm es sich auch jetzt anfühlte, war ein Teil von mir erleichtert. Keine Lügen, keine Heimlichkeiten, kein Versteckspiel mehr. Ich würde ihr alles sagen, was mir schon so lange auf der Seele brannte. Ich wählte ihre Nummer, während ich mich hastig anzog, aber meinen Pullover nirgends finden konnte. Ich suchte überall, aber er blieb ebenso verschollen wie Anni. Hatte sie ihn angezogen? Sie tat das manchmal, sich Sachen von mir überzuziehen. In meinem Hirn ratterte es pausenlos. Wenn sie tatsächlich gerade meinen Pulli trug, war das dann nicht vielleicht ein positives Zeichen? Das machte man doch nicht, wenn man sehr wütend auf jemand war, oder? Sie ging nicht ran. Ich wählte ihre Nummer nochmal, obwohl ich schon ahnte, dass es sinnlos war. „Anni, jetzt komm schon. Geh bitte ran.", flehte ich leise. Dann schickte ihr eine Whats App...Anni, wo bist du denn? Lass uns reden. Ich erklär dir alles, bitte...Doch meine Nachricht wurde nicht zugestellt. Als ich die Haustür öffnete verschlug es mir für einen Moment wieder die Sprache. Alles sah so anders, anders schön aus. Vor wenigen Tagen hatten wir hier noch auf den grünen Wiesen das Spätsommerwetter genossen und die Sonne hatte Sommersprossen auf Annis Nase gemalt. Übernacht hatte der Schnee die Landschaft völlig verändert und in weiten Teilen unter einer dicken, weißen Schneedecke verschwinden lassen. Es war ein ganz spezielles Gefühl, hier im gleißenden Sonnenlicht zu stehen und den Geruch des Winters einzuatmen. Sommer und Winter sind bei uns manchmal nur einen Wimpernschlag voneinander entfernt –hörte ich Annis Stimme in meinem Kopf. Ich fühlte diesen Satz gerade sehr. Manchmal war es doch auch im Leben so. Nur ein Wimpernschlag und alles veränderte sich. Das zwischen Anni und mir oder die Sache mit dem Krank sein. Ein paar Wehwehchen, einige harmlose Untersuchungen, natürlich nur zur Sicherheit um Dinge auszuschließen und dann plötzlich diese Diagnose. Überleben oder sterben? Ein schmaler Grat, vielleicht schmäler als der den Annis Bruder gewählt hatte. Nur ein Wimpernschlag. Abstürzen oder oben bleiben. Der Schnee knirschte unter meinen Schuhen. Ich war oben geblieben trotz Angst, Schmerzen und Verlusten. Anni hatte mich oben gehalten. Nur deshalb war ich da. Ich hatte wahnsinnig verloren, aber noch viel mehr gewonnen. Ein völlig neues Lebensgefühl, eine andere Wahrnehmung, Wertschätzung, neue Prioritäten, ein besseres Gefühl für mich und meine wahren Bedürfnisse und auch meine Definition von Glück, hatte sich verändert. Und natürlich Anni. Ich kam immer wieder zu ihr, wenn ich diese Gedanken durchspielte. Ihre Briefe, ihre Nachrichten und Worte, ihr Verständnis, die Wochen hier mit ihr, das war was ich gewonnen hatte und gerade zu verlieren drohte. Sie besaß diese Deepness, nach der ich in anderen Menschen oft vergeblich suchte, aber gleichzeitig auch diese Leichtigkeit, nach der ich mich fast noch mehr sehnte, weil ich sie selber so vermisste. Sie, das mit uns, bedeutete mir mehr, als sie sich vorstellen konnte. Ich würde ihr das so oft sagen, bis sie mir glaubte. Sie war vielleicht manchmal impulsiv, aber auch feinfühlig und warmherzig. Und auch wenn sie meine Lügerei sicher hart treffen, traurig und wütend machen würde, vielleicht konnte sie mich trotzdem verstehen und mir verzeihen. Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke bis ganz nach oben zu und schlenderte nachdenklich weiter durch den Schnee. Alles war so idyllisch, friedlich und unwirklich schön, dass ich einfach daran glauben musste, dass sich alles fügen würde.

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