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Mike

„Ja das ist der Hintersee." Sie klang fast ein wenig stolz und ich konnte es durchaus nachvollziehen. Ich war immer noch beeindruckt von dem Wegstück, das hinter uns lag. Diese wilde Märchenlandschaft mit den kaskadenartigen, kleinen Wasserfällen, dem türkisfarbenen Wasser, den riesigen Gesteinsbrocken, die sich zwischen den Bäumen auftürmten und dem Pfad, der sich an den Hindernissen vorbei und durch enge Felspassagen schlängelte. Ich hatte Bäume gesehen die auf moosüberwucherten Felsen wuchsen und die gab es auch hier, mitten auf dem smaragdgrünen See. Es sah etwas bizarr aus, wie sie da aus dem Wasser ragten, während an manchen Stellen noch ein Hauch von Nebelresten über dem See waberte. Und mittendrin die ganze Zeit Annie, die so perfekt mit der Umgebung harmonierte. Die Frage wie es einen Menschen wohl prägen musste, in so einer Gegend aufzuwachsen, drängte sich mir automatisch auf, wenn ich sie ansah. In diesem besonderen Licht zwischen Wald, See und gedämpfter Sonne schimmerten ihre Haare rötlich und ihre Augen fast so grün wie der See. „Ok, also wenn man Alpenromantik sucht ist man hier wohl goldrichtig.", murmelte ich, während ich den freigewordenen Blick zu den umliegenden, gewaltigen Gipfeln anhob. „Da bist du nicht der erste, dem das auffällt. Der See diente schon für unzählige Serien, Heimat- und Kinofilme als Hintergrundkulisse. Das da drüben ist übrigens der Influenzerfelsen. Also ich nenne ihn immer so, denn manchmal stehen sie da in einer langen Schlange, nur für ein Foto. Perfekt gestylt im weißen Sommerkleidchen wird da dann rüber geklettert." Sie verzog den Mund etwas missbilligend, klang aber eher belustig. „Wenn du gerne einmal um den See herum gehen möchtest, können wir das gerne tun, ansonsten müssen wir uns links halten und ein kleines Stück an der Straße entlang." Fragend sah sie mich an und strich sich eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr. „Nein. Das passt schon. Wir bleiben auf deiner Route. Das kann ich ja ein andermal machen. Ich kenn den Weg ja jetzt." Sie nickte zustimmend und ich trottete eine Weile schweigend hinter ihr her, weil der Weg zu schmal wurde um nebeneinander zu laufen. Meine Augen waren schwer damit beschäftigt die Fülle der Umgebung zu erfassen, aber irgendwann hefteten sie sich an Annis Rückansicht. Ihre Haltung war sehr aufrecht und ihre Art zu Gehen war geprägt von einer beneidenswerten natürlichen Selbstverständlichkeit. Ihre Bewegungen wirkten kontrolliert und zielstrebig, aber gleichzeitig auch fast spielerisch zart .Ich versuchte erfolglos ihre Haarfarbe zu definieren. Kein Braun, aber auch kein Rot oder Blond, sondern irgendwas dazwischen, je nachdem wie das Licht darauf fiel. Ähnlich verhielt es sich auch mit dem Farbenspiel ihrer Augen, die manchmal grau und dann wieder tiefgrün wirkten. Sie wollte nicht so recht in irgendein, mir vertrautes Raster passen, weder optisch, noch von ihrer ganzen Art her. Anni live war für mich schwer zu fassen. Ein Foto war eben etwas völlig anderes, als jetzt dieses sehr lebendige Wesen vor mir zu haben. Ein Foto konnte diese vielen kleinen Nuancen und Facetten eben nicht einfangen. Und egal wieviel ich über sie zu wissen glaubte, konnten auch hunderttausende geschriebener Zeilen nicht die Ausstrahlung eines Menschen übermitteln oder widerspiegeln. Ich hatte nicht gewusst wie sie ihre Nase kräuselte, wie ihr Lachen klang und sich ihre Gegenwart anfühlte. Mein Gehirn versuchte immer wieder, die Phantom-Anni, die sich in meinem Kopfeingenistet hatte, mit der realen Person zu verknüpfen. Sie war mir in manchen Augenblicken so wahnsinnig fremd, dass ich fast vergaß, dass sie dieser Mensch war, dem ich mich eigentlich extrem nah fühlte. In anderen Momenten dagegen, war sie mir so vertraut, dass ich höllisch aufpassen musste mich nicht zu verplappern oder mich ihr gegenüber zu vertraulich zu verhalten. So verlor ich mich in meinen Gedanken und hatte kein Gefühl wieviel Zeit vergangen war, bis wir eine Straße überqueren mussten. „So und hier beginnt nun das Klausbachtal. Wenn es dich interessiert, kann ich dir was darüber erzählen, ansonsten halt ich einfach meine Klappe, es ist ja herrlich ruhig gerade."

„Erzähl gerne ein bisschen, damit ich auch was lerne.", meinte ich und versuchte möglichst interessiert zu klingen. Ich hörte Annie verdammt gerne zu. Ich hätte ihr tagelang zuhören können, alleine schon weil es eine solche Erleichterung war, ihre Stimme endlich zu kennen. Sie klang wie warmer, flüssiger Honig, wie ein butterweiches Surren, aber auch tiefer und kantiger, als erwartet.

Wo wir frei sindWhere stories live. Discover now