Trรคnenblind

By pasulmitsucuk

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Odesa ist nicht nur eine herzhafte Bรคckerin mit vielen leckeren Rezepten. Sie ist auch eine hoffnungslose Rom... More

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By pasulmitsucuk

Agon
Düsseldorf
Oktober 2022

Eine Viertelstunde.

Es hat eine Viertelstunde gedauert, bis der erste Anruf die Polizeizentrale erreicht hat. Es wurde eine Ruhestörung gemeldet. Wenige Minuten später kam ein weiterer Anruf. Man würde Schreie beim Nachbarn hören. Qualvolle Schreie, sehnsüchtige Rufe nach Hilfe. Und nicht einmal fünf Minuten später, werde ich auch schon benachrichtigt. Adem riss mich aus meinem Schlaf. "Agon, es geht um Odesa." Innerhalb sieben Minuten kam ich am Tatort an und nach vier Minuten kam auch schon der Krankenwagen. Ich fahre mir seufzend übers Gesicht. Adem war bis eben noch am Tatort, müsste aber nun auf den Weg zum Krankenhaus sein. Ich sehe für ein kurzen Moment auf mein Handy. Keine neuen Nachrichten.

Adem sollte mich schon vor einer Viertelstunde anrufen. Mein Blick hadert auf das getrocknete Blut an meinen Fingern. Ihr Blut. Ich balle meine Hände zu Fäusten und spanne mich augenblicklich an. Als ich die Tür eingetreten habe, war dieser Hurensohn schon weg. Ich beiße fest meine Zähne zusammen. Ich kriege dieses Bild nicht aus meinem Kopf. Ich schließe tiefeinatmend die Augen. Sie lag verletzlich und halbnackt auf den Boden. Sie war verfickt nochmal bewusstlos und blutverschmiert. Meine Arme fühlen sich schwerelos an und erinnern sich an das Gefühl von ihrem zierlichen Körper an meiner Brust. Es erinnert mich an ihr Blut was auf meinen Händen klebt und ihre Schmerzen, die sie in mir gebrandmarkt hat. Verflucht hat mich dieser Anblick. Mein ganzer Körper zittert vor Wut. Ab den Moment, wo seine dreckigen Finger ihre reine Seele beschmutzten, habe ich mein eigenes Versprechen gebrochen. Er hat sein Todesurteil unterschrieben, als er sie das erste Mal betrachtet hat.

Und Gott soll mein Zeuge sein, wenn ich der Grund für sein letzten Atemzug bin.

Ich warte schon seit über einer halben Stunde in diesem verfickten Gang. Kein einziger Arzt und keine einzige Krankenschwester möchte mir weitere Informationen geben. Jedes Mal hieße es "Ihr zugewiesener Arzt wird Sie noch informieren." Ich schüttle unmerklich meinen Kopf. Kann dieses verfickte Krankenhaus überhaupt was? Ich werfe altes Papier in den Mülleimer neben mir und spreize meine Finger um etwas Druck abzulassen. Wie konnte er mir entkommen? Er findet den Tod für jede Sekunde, in der er in ihrer Nähe geatmet hat. Ich beiße mir auf die Lippen und schmecke mein eigenes Blut. Ich reibe fest meine Augen zusammen. Wie konnte sie mir entgehen? Sie ist zu mir gekommen und hat mir ihre Angst gebeichtet.

Sie hat mich gewarnt und ich habe es nicht bemerkt. Ihre Angst und ihr Verhalten. Dieser Blick in ihren Augen. Es erinnerte mich an etwas von früher. Nour hatte denselben Blick. Meine Mutter und Yara auch. Mir hätte von Anfang an klar sein müssen, dass da etwas faul ist. Warum hat sie sich nicht mir geöffnet? Ich schnalze missbilligend mit der Zunge. Warum sollte sie. Ich habe ihr kein Grund dafür gegeben Sicherheit bei mir zu suchen. Ich wollte ihr kein Grund geben. Und jetzt stehe ich mitten im Krankenhaus mit ihren Blut an meinen Händen. Das ist nicht das, was ich mir selbst versprochen habe. Ein Versprechen, wo ich dachte ich würde es niemals brechen. Der heutige Tag zeigt aber, dass jedes Versprechen irgendwann bricht. Es ist nur eine Frage der Zeit. Ich hätte früher da sein sollen. Ich hätte— Ich muss hier raus.

Ich schließe seufzend meine Augen. Er hat es geschafft in wenigen Minuten zu fliehen. Er hat sie, wie eine nutzlose Leiche liegen gelassen. Ich war derjenige, der sie in Zivilkleidung rausgetragen hat und mit ihr zum Krankenhaus gefahren ist. Mark hat es nicht rechtzeitig zum Tatort geschafft, Adem jedoch schon. Ich werde höchstwahrscheinlich suspendiert. Ich war nicht im Dienst und habe die Anweisung bewusst ignoriert. Das wird Adem nicht gefallen. Nachdenklich ziehe ich meine Augenbrauen zusammen. Durch Baran weiß ich, dass Adem den Fall noch nicht zurückbekommen hat. Warum dieser Fall in erster Linie von ihm entnommen wurde ist mir bis heute ein Rätsel. Irgendwas stimmt bei dieser ganzen Sache nicht. Es ist zu persönlich und zu plötzlich. Es gibt etwas, was sie uns verschwiegen hat. Ihre plötzliche Angst vor dem Tod und ihre penetrante Bitte nach Vergebung war ein Hilferuf. Ein Hilferuf, den ich gewissenhaft ignoriert habe.

"Vergebe mir, denn mein Herz sehnt sich danach dir zu vergeben." Mein ganzer Körper verkrampft sich. Schluckend ziehe ich leicht an mein Haar. "Es ist alles gut, Agon. Du träumst nur." Ich zucke völlig zusammen. Bilder tauchen in meinem Kopf auf. Bilder, die ich vergessen will, die mich schwarz sehen lässt. Kochendes Blut fließt durch meinen Körper und eine rasende Welle von Wut und Scham durchzieht meinen Verstand. Ich muss dringend hier raus. Ich balle meine Hände zu Fäusten und kreise angespannt meine Schultern. "Psssh, Agon. Alles ist gut." Mit einem Tritt prallt der Mülleimer, der vorhin noch neben mir stand, gegen die nächstgelegene Wand. Laut hallt es im leisen Gang. Müll fällt klirrend auf den Boden und zieht mich aus der Schwärze meiner Sünden raus. Ein Klingeln weckt mich aus der Trance. Ein Anruf. Burim.

»Geht es ihr gut? Ist etwas passiert?«, frage ich panisch. Burim hatte Dea vom Tatort abgeholt und sollte sie eigentlich zu sich und seinen Eltern nehmen. Ich höre wie Burim sich gerade anschnallt. »Dea gibt keine Ruhe. Sie weint die ganze Zeit, weil sie zu dir möchte.« Ich schnalze mit der Zunge. »Aber ihr ist nichts passiert?«, hake ich streng nach. „Natürlich nicht." Ich atme erleichtert aus und schließe die Augen. Ich massiere meine Schläfe. »Bring Dea ins Krankenhaus.«, erwidere ich leise und fahre mir übers Gesicht. »Immer noch nichts neues?« Zähneknirschend verneine ich. Eine Schwester läuft an mir vorbei und wirft mir einen komischen Blick zu. »Die Ärzte wollen mir nichts sagen.«, zische ich wütend und Burim seufzt. »Ihr wird es bestimmt wieder gut gehen.« Ich sage nichts dazu. »Sie war sogar Stunden davor bei der Bäckerei und deine Tochter war auch da.« Ich ziehe meine Augenbrauen zusammen.

»Wie Dea auch?«, frage ich kaltschnäuzig nach. Sie ist schon wieder ausgerissen? Ich muss nochmal mit ihr reden. Habe ich ihr nicht oft genug gesagt, wie gefährlich das ist? Ich war als Kind nicht besser. Meine Zähne rattern und meine Fingerkuppen zucken. »Dea hat sich mit einem Jungen aus ihrer Klasse ausgeschlichen und dann hat Odesa Adem gerufen.« Schon wieder? Und Adem wusste es, aber hat nichts gesagt. Ich spanne mich unwillkürlich an. Jedes Mal macht Adem Sachen hinter meinem Rücken. »Wenn du das nächste Mal Dea siehst, dann rufst du mich sofort an. Hast du mich verstanden?« Burim seufzt laut auf. »Natürlich.« Ich nicke in mich hinein und zapple ungeduldig mit meinem Fuß. Mein Blick fällt auf Adem, welcher gerade auf mich zu läuft. »Hajt, wir sehen uns.« Ich lege auf und stehe angespannt auf.

Ich greife in meine hintere Hosentasche und betrachte den gefassten Mann vor mir. »Geht es ihr gut?« Mein Blick verdunkelt sich und meine Hände spannen sich an. »Seh ich so aus, als würde ich verfickt nochmal wissen, wie es ihr geht?«Adem wirft mir ein strengen Blick zu. »Pass auf, wie du mit mir redest.« Ich verdrehe meine Augen und sehe zur Tür. Hinter dieser Tür verbirgt sie sich. Doch keiner lässt mich rein. »Was haben die Ärzte gesagt?« Ich schnalze mit der Zunge und lehne mich an die Wand. »Nichts.« Adem nickt verständlich. Etwas liegt in seinen Augen, etwas neues. Ich kann es aber nicht einschätzen. Ich kann ihn nicht einschätzen. »Irgendetwas über ihn?« Adem schüttelt den Kopf. Ein dunkler Schatten legt sich auf sein Gesicht. Vorsichtig blinzelt er mich an.

»Es gab Bilder in ihre Wohnung. Massenhafte.« Angespannt komme ich ihm ein Schritt näher. »Was für Bilder?«, frage ich laut. Adem seufzt leise. »Agon, beruhig dich.« Ich komme ihm ein bedrohlichen Schritt näher. »Was für Bilder, Adem?« Er schüttelt fest den Kopf. »Ich habe dir gesagt, du sollst dich beruhigen.« Rabiat greife ich nach seinem Kragen und ziehe ihn aggressiv zu mir. »Was für verfickte Bilder?« Seelenruhig und dennoch warnend blickt Adem mich an. Er wehrt sich nicht und blinzelt nur. »Lass mich los, bevor sie dich noch rausschmeißen.« Ich schnalze mit der Zunge. »Was für Bilder?«, zische ich. »Bilder, die von ihr gemacht wurden. Wo sie schläft, wo sie duscht und wo sie kocht, liegt und sich umzieht. Ist es das, was du hören willst, Agon?« Meine Augen sehen rot. Zitternd vor Wut schubse ich ihn hart zurück und keuche geräuschvoll aus.

»Es ist nicht deine Schuld, Agon.« Ich sehe ihn nicht an. Ich laufe in einem Schritt hin und her. »Ich hätte es wissen müssen, Agon. Als es passiert ist, da ... muss Daniel da gewesen sein.« Ich stocke. »Daniel?«, hake ich ruhig nach. Zu ruhig. Meine Nasenflügel heben sich und meine Augen nehmen an exzentrischer Größe an. Adem nickt langsam. Ich werde ihn töten. Ich habe diesen Hurensohn gewarnt und er hat nicht gehört. »Warum hast du nichts gesagt? Huh? Du schweigst. Immer schweigst du— Mit deiner selbstgefälligen Art und deinem zu hohen Ego. Was erlaubst du dir Adem? Mir Sachen zu verheimlichen? Selbst wenn es um meine Tochter geht. Wer bist du? Huh?« Adem geht ein Schritt zurück und ich komme ihm ein näher. Ich möchte ihm weh tun. Ihn leiden lassen. Er hat es verdient. Er soll verfickt nochmal leiden.

»Ich weiß du hast Schuldgefühle, Agon. Es ist nicht deine Schuld.« Ich komme ihm gefährlich nah. »Natürlich ist es nicht meine Schuld— Sondern deine! Es ist verfickt nochmal deine Schuld, Adem. Sie kam zu dir, als es angefangen hat und du hast sie als verrückt bezeichnet—« Adem baut sich bedrohlich auf. »Du hast selber keine Anzeichen gefunden. Benimm dich nicht wie ein kleines Kind und versuch mir nicht die Schuld in die Schuhe zu schieben. Wir lagen beide falsch.« Er fährt sich durchs Haar und geht ein paar Schritte zurück. Stille fährt über uns. »Ich bin nicht dein Feind. Ich bin dein Bruder.« Adem blickt mich hart an. »Setz dich.«, faucht er genervt.

Für eine ganze Weile schweigen wir.

Mehrere Minuten in Stille vergehen. Ich sitze stillschweigend auf dem Stuhl und blicke starr auf den Boden. »Es ist nicht deine Schuld, Agon. Du hast sie gerettet.« Adem sieht mich mit einem nachdenklichen Blick an. Ich schüttle fest den Kopf. »Er ist entkommen, Adem.« Er seufzt auf. »Wir werden ihn finden, aber du musst dich beruhigen. Sie kann deine Aggressivität nicht gebrauchen und das weißt du.« Ich schweige. Er hat recht, warum hat er verfickt nochmal immer recht? »Wir denken er sei Richtung Norden geflohen. Ganz genau sind wir uns nicht sicher. Es gibt aber keine Fingerabdrücke oder andere Beweise. Wir können ihn fürs erste nicht identifizieren. Naja, bis Odesa aufwacht.« Nickend schließe ich tiefatmend meine Augen.

»Wie ist er entkommen?« Adem schweigt. Er weiß es nicht. Keiner weiß es. Die Arbeit war zu präzise. Sie war viel zu durchdacht. Wie kann es dann aber sein, dass Odesa noch lebt? »Vielleicht war es nicht sein Ziel.«, sagt Adem plötzlich und spricht dabei meine Gedanken aus. »Gibt es ein Zusammenhang?«,  frage ich mit verschränkten Armen. Er schüttelt den Kopf. »Mir kommt nur der Brand im Kopf. Vielleicht wollte jemand Rache für das Leid.« Ich schüttle den Kopf. »Das ist es nicht.«, erwidere ich herb. Ebru hat ihr verziehen und dieser anderen Frau war alles egal. »Jemand hat es auf Odesa abgesehen.« Ich fahre mir über die Stirn. »Ich weiß.« Es hängt zwischen uns in der Luft. Die unausgesprochene Sache. Es ist meine Schuld. »Ich hätte früher dasein müssen.«, murmle ich leise. Adem zieht streng seine Augenbrauen zusammen. »Warum sagst du sowas?« Ich antworte ihm nicht.

»Findest du nicht, dass es sich ähnelt?« Ich ziehe meine Augenbrauen zusammen. Fragend sehe ich Adem an. »Was meinst du?« Er winkt ab. Langsam setzt er sich neben mir hin. »Es hat mich daran erinnert— Sie hat mich daran erinnert.« Mir stockt der Atem. Er meint doch nicht? »Die Art wie Odesa sich verhalten hat, genauso hat sie sich kurz davor auch verhalten.« Meine Augen weiten sich. Ihm ist es also auch aufgefallen. »Denkst du ...?« Die Worte bleiben mir im Hals stecken. Er zuckt mit den Schultern. »Es ist komisch. Ganz anders, als bei ihm damals.« Er meint unseren gemeinsamen Vater. Adem hat seitdem zehnten Lebensjahr Babi nicht mehr bei seinem Titel benannt. Ich habe es nie hinterfragt, sondern einfach hingenommen. Warum auch? Unser Vater war ein Hurensohn. Adem blickt zur Seite. »Ist das Burim?« Mein Blick fällt zu meiner Tochter, die in großen Schritten auf mich zu rennt. »Babi!«, ruft sie in ihrer kindlichen Stimme und sofort ziehe ich sie in meine Arme. Vollkommenheit überkommt mich. Meine ganze Wut verblasst und hinterlässt nur noch ein Rauch von Ruhe. Ich ziehe meine Tochter enger an mich. »Alles okay, loqk? Hat Burim dich geärgert?« Sie schüttelt den Kopf.

»Deine Tochter ist eine Diva.« Ich ziehe fest meine Augenbrauen zusammen. »Pass auf, wie du über meine Tochter redest.«, erwidere ich streng. »Sie hat mich gekratzt!«, erwidert er vorwurfsvoll. Ich blinzle und blicke anschließend Dea tadelnd an. Dabei ignoriere die kleine Menge an Stolz, welche sich in meiner Brust breit macht. »Habe ich dir beigebracht, dass man Menschen kratzt?«, frage ich mit zusammengezogen Augenbrauen. Sie blickt unwohl auf den Boden und spielt mit ihrer Haarsträhne. »Du hast deine Tochter zu sehr verwöhnt.« Meine Augen verdunkeln sich. »Halte bitte deine Ohren zu.«, befehle ich Dea sanft. Sofort folgt sie meiner Anweisung. »Noch ein Wort und ich breche dir deine beiden Beine.« Burim brummt genervt auf und nickt. Er mag keine Kinder, nicht mein Problem. Adem's Mundwinkel zucken amüsiert hoch. Burim lächelt ebenfalls leicht und sieht dann besorgt zur Tür. »Habt ihr etwas gehört?« Adem schüttelt den Kopf und lehnt sich gegen die Wand. Burim nickt verständlich. »Sie wird gesund.«, sagt Adem plötzlich. Unsere Blicke treffen sich. Ein Versprechen. Ich streichle den Kopf meiner Tochter und blicke anschließend zu Boden. »Sie ist eine Kämpferin.« Meine Augen weiten sich. Adem blickt zielsicher zur Tür. "Sie ist eine Kämpferin, was Agon?" Eine Erinnerung blitzt in meinen Gedanken auf, welche ich schnell wieder tief in mir vergrabe.

»Warum hast du geweint?«, frage ich Dea leise. Sie zuckt mit den Achseln und sieht weg. Ihr ist es unangenehm. Sie windet sich leicht und will ganz plötzlich von mir runter. »Dea, rede.«  Sie nörgelt leicht und legt ihre Stirn auf meine Schulter, »Ich hab dich vermisst.«, nuschelt sie gegen meine Schulter und küsst sie. Ein komisches Gefühl macht sich in mir breit. Ich reibe fest an meiner Brust, damit es verschwindet. Für ein kurzen Moment vergesse ich, wo wir gerade sind. »Ich dich auch.« Ein großes Lächeln macht sich auf ihren Lippen breit. »Entschuldigen Sie? Sind Sie Herr Sulej?« Ich nicke und reiche Dea augenblicklich zu Adem. Vor mir steht eine etwas ältere Ärztin mit einem Klemmbrett in der Hand. Sie lächelt uns aufmunternd an. »Ja, bin ich.« Sie nickt verständlich und blickt auf ihr Klemmbrett. Adem atmet seufzend aus.

»Ich bin Frau Doktor Wagner und die zuständige Ärztin für Frau Hasani.« Keiner sagt etwas und die Ärztin seufzt leise auf. »Frau Hasani hat eine leichte Gehirnerschütterung, sowie eine Lazeration am Hinterkopf. Also eine Platzwunde, die wir zunähen mussten. Ebenso hatte Frau Hasani eine Vulnus lacero-contusum an ihrer Rippe. Wir haben ihr etwas Metamizol gegeben und Frau Hasani ist vor wenigen Minuten aufgewacht.« Adem nickt verständlich und Burim atmet erleichtert aus. »Dürfen wir sie sehen?« Sie fasst sich am Kinn. »Gehören Sie zu ihrer Familie?«, fragt die Ärztin uns und Burim schüttelt den Kopf. Die Ärztin legt ihren Kopf schief und presst ihre Lippen zusammen. »Dann kann ich leider—«

»Sie ist meine Verlobte.«

Alle starren mich mit geweiteten Augen an. Die Ärztin blinzelt langsam und nickt. »Sind Sie vielleicht Agon?«, fragt sie schmatzend. Mit zusammengezogen Augenbrauen nicke ich. »Sie hat mehrmals nach Ihnen gefragt.« Ich presse meine Lippen zusammen und schweige. Sie schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln. »Sie dürfen sie sehen.« Ich nicke dankend und blicke anschließend zu Boden. »Wie lange soll sie hier bleiben?«, fragt Adem plötzlich. Die Ärztin rückt ihre Brille. »Wir wollen Frau Hasani für mindestens eine Nacht zur Beobachtung behalten.« Adem nickt verständlich und bedankt sich. »Na dann! Eine Gute Nacht.«, verabschiedet die Ärztin sich von uns. »Gute Nacht.«, murmelt Burim und setzt sich anschließend hin. Adem hält Dea am Arm, welche verwirrt zwischen uns schaut. Sie blinzelt müde und schweigt. Adem nickt mir aufmunternd zu. »Geh rein.« Ich antworte ihm nicht und bleibe wie erstarrt stehen. Ich kann nicht. Ich kann Odesa nicht sehen. Adem weiß es. »Geh rein, Agon.«, sagt Burim mit ernsten Gesichtsausdruck. Ich atme tief durch. »Sonst bereust dus.«, setzt Burim nach. Ich sehe ihn mit einem nachdenklichen Blick an. Ich bereue zu viel und trotzdem zahlt sie für jede einzelne Sünde. Für meine, für seine, für ihre. Sie nimmt alles auf sich selbst und wird bestraft für die Taten anderer Menschen. Odesa ist nichts anderes als ein Sündenbock. Mein Sündenbock.

Ich hadere vor der Tür und mahle meinen Kiefer. Eine Erinnerung trifft mich. Das letzte Mal, als ich im Krankenhaus war, sah ich die Geburt und den Tod. Wer weiß, wie sie mich begrüßen wird. Adem wirft mir ein nachdenklichen Blick zu und ich schnalze mit der Zunge. »Agon—« Ich drücke langsam die Türklinke runter. Die Tür öffnet sich und das erste was mein Blick findet sind ihre Augen. Ich kann mich nicht bewegen. Hellbraune Augen blinzeln mich langsam am. Sie sieht müde aus. Ein Verband ist um ihren Kopf gebunden und zeichnet seine Unterschrift. Meine Augen verdunkeln sich. »Agon?«, flüstert sie brüchig. Mein Hals ist vollkommen trocken. Ich schließe die Tür hinter mir zu und bleibe an der Tür stehen. »Odesa.«, hauche ich und räuspere mich anschließend. Ihre Augen weiten sich. Sie sieht so ... schwach und verletzlich aus. Ich spanne mich unwillkürlich an. Er wird bluten, für jeden Tropfen den sie verloren hat. Sie versucht sich aufzusetzen und stöhnt dabei schmerzvoll auf. Automatisch setze ich einen Schritt nach vorne. Besorgt nähere ich mich ihr. »Pass auf.«, sage ich mit rauer Stimme und sie nickt schwach. Versteinert und mit geballten Fäusten stehe ich verkrampft da. »Agon.«, haucht sie. Ich presse fest meine Lippen zusammen. »Geht es dir gut?«, frage ich mit kratziger Stimme. Ich muss es wissen— Ich muss— Ein schwaches Lächeln setzt sich auf ihre Lippen. »Mir geht es gut.«, murmelt sie.

Etwas erleichtert atme ich aus, doch meine Starre lässt nicht nach. Wie kann sie immer noch lächeln? Mein Kiefer zuckt aggressiv. »Wa— Wasser.« Ich greife sofort nach einem Becher und dem Wasser neben mir und eile zu ihr. Ich schütte ungeschickt das Wasser in den Becher und setze es an ihre Lippen. Sie legt zitternd ihre Hand auf meine und ich schlucke laut. Die plötzliche Nähe wirft mich aus der Bahn. Sie vernebelt mein Denkvermögen und bringt mich auf dumme Ideen. Ihre weiche Haut streichelt meine Raue. Ihr Daumen streicht über das getrocknete Blut, als würde sie es wegwischen wollen. Ich lecke mir über die Unterlippe und ignoriere die Gänsehaut, die sich anbahnt. Während sie große Schlücke zu sich nimmt, betrachte ich sie schweigend. Ihre bleiche Haut fehlt an Farbe und ihre weichen Haare kitzeln ihr Gesicht. Plötzlich besitze ich ein uraltes Bedürfnis, welches ich nicht nachkomme. Sie schüttelt langsam ihren Kopf und ich entferne den Becher, dabei entgleiten sich unsere Hände. Mit funkelnden Augen sieht Odesa mich an. »Dankeschön.« Ich schüttle hart den Kopf. »Bedank dich nicht.«, sage ich hart. Ihr Gefunkel dämmt nicht. Ihre Augen wandern von meinem Kinn zu meinen Augen. »Haben sie ihn?«, fragt sie mit großen Augen. Ich stocke.

Ihr Lächeln weicht aus ihrem Gesicht. »Agon, sie haben ihn? Oder?« Panisch blinzelt sie und versucht sich erneut aufzusetzen, hält sich aber automatisch an die Rippe. Ihre Herzschläge steigen auf dem Monitor drastisch an. Zähneknirschend drücke ich sie wieder aufs Bett. »Agon! Bitte sag es mir! Sie haben ihn geschnappt ... oder?« Eine Träne kullert aus ihrem rechten Auge und ich schnalze mit der Zunge. In ihren geweiteten Augen erkenne ich puren Terror. An ihren zitternden Händen spüre ich pure Angst und an ihrer zuckenden Unterlippe, spüre ich das große Bedürfnis nach Rache. Ich sage nichts und presse meine Lippen zusammen. In hektischen Schritten keucht sie. Sie kriegt kaum Luft und atmet unkontrollierbar aus. Odesa ist völlig am Ende. Verloren. Man hat ihr Sicherheit und Stärke geraubt und das Einzige was ich tun kann, ist ihr bei ihrem Zusammenbruch zuzuschauen. Mehrere Tränen rollen über ihre Wangen. Eine Ansicht, die mich zum Bluten bringt. »Bitte!«, wimmert Odesa gebrochen. Sie fuchtelt wild mit ihren Händen herum. »Sag mir, dass sie ihn haben. Agon, ich flehe dich an!« Ich blicke stillschweigend in ihre Augen.

»Nein ...«

»Das kann nicht— nein! Nein! Nein! Bitte—« Ein großer Schluchzer entfährt ihr und ich verziehe meinen Mund. »Odesa.«, ermahne ich sie. Sie schüttelt wild ihren Kopf und blickt hektisch durch den Raum. »Nein— Bitte ... Agon—« Sie legt sich ihre Hände um den Hals und fängt an zu keuchen. »Ich— Ich kriege keine Lu—« Blitzschnell greife ich nach ihrem Gesicht und ziehe sie zu mir. Meine Hände liegen auf ihren Wangen und greifen in ihre Haare hinein. Unsere Gesichter sind wenige Zentimeter von einander entfernt. Hart schlägt mein Atem gegen ihrer. »Du hörst mir jetzt zu. Hast du mich verstanden?« Ihr lautes Keuchen hallt im Raum und verwandelt sich in ein Schluchzen. Sie wendet ihre Augen von mir ab und ich ziehe sie erneut hart zu mir. Näher als zuvor. »Sieh mich an, Odesa.« Mit großen Augen blinzelt sie mich an. Plötzlich ist es still. »Du bist in Sicherheit.«, presse ich zähneknirschend raus. »Er wird dir nichts mehr antun. Ich lasse das nicht zu. Ich beschütze dich, Odesa. Immer. Vergiss das nicht.« Wimmernd legt sie ihre Hand auf meine. »Ich lasse nicht zu, dass er dich jemals wieder berührt. Ich verspreche es dir, Odesa. Im Namen meiner Tochter.« Ihr Augen weiten sich und überrascht spalten sich ihre Lippen. Meine Fingerkuppen zucken und meine Brust hebt sich erheblich. »Ich werde ihn finden. Mach dir da keine Sorgen.« Langsam nickt sie und drückt ihre Stirn gegen meine. Unsere Nasenspitzen streifen sich und ich drücke meine Stirn härter an ihre. Stirn an Stirn. Auge an Auge. »Ani?«, frage ich schweratmend. Mit halbgeschlossenen Augen sieht sie zu mir auf. »Ani.« Ihre andere Hand umgreift meine und hakt sich darin ein.

Stillschweigend sehen wir uns an. Ihre Unterlippe zuckt stark und viele Tränen kullern aus ihre Augen. Mein Blick verhärtet sich. Mit meinen Daumen wische ich ihr die Tränen weg. »Was habe ich dazu gesagt?« Sie schnieft laut und seufzt leise. »Mfal.« Ich schließe angestrengt meine Augen. Mein Herz schlägt schnell und mein Puls rast vernehmend. Ich muss mich zusammenreißen. »Agon?« Tränende Augen blicken mir entgegen, sobald ich gefasst meine Augen öffne. Meine Hände liegen immer noch auf ihren Wangen und ihre Hände liegen immer noch auf meinen. Ihre Nähe ist beruhigend und familiär. Sie tut mir nicht gut. Odesa weint stärker und verzieht schmerzvoll ihr Gesicht. »Ich dachte ... ich sterbe.« Ich schließe meine Augen. Ich kann das nicht ertragen. »Ich weiß.«, hauche ich. Ihre Tränen berühren meine Hände. »Ich war bereit dazu ... vergewaltigt zu werden. Ich habe aufgegeben, Agon.« Die Welt um mich herum bleibt stehen. Mein Herz steht still und mein Puls hört auf zu rasen. »Ode—« Die Worte bleiben mir im Hals stecken. Ich blicke ihr mit aufgerissenen Augen entgegen. Ich bin still und stockend. »Es— Es ist nichts passiert.«, schluchzt sie. Mein Mund wird trocken. »Ich habe dich angerufen.« Das Blut gefriert in meinem Körper. Ich erstarre. »Ich wollte mich bedanken, Agon. Es tut mir leid.« Die Luft entfährt meinen Lungen. Ich kann mich nicht bewegen. Ich kann nicht atmen. Nichts sagen. »Ich dachte du— Warum hast du aufgelegt, Agon?«

Eine Erkenntnis trifft mich.

Und ich verstehe. Endlich verstehe ich.

Es ist das Blut an meinen Händen, welches die Farbe meiner Sünden annimmt und aus ihren  tränenden Augen fließt.

Danke für über 150.Tsd Reads danke danke❤️❤️

Meinung/ Ansicht/ Fragen zum Kapitel?

Es würde mich freuen, wenn ihr mir hier auf Wattpad folgt. Somit kriegt ihr alle Ankündigungen mit und verpasst nie ein Kapitel.

- 🤍🏹📓

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