Wo wir frei sind

By InaAnnelie

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Anni und Mike haben sich noch nie getroffen und doch sind ihrer beider Leben auf eine ganz spezielle Weise mi... More

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By InaAnnelie

Anni

Die Scheibenwischer machten quietschende Geräusche, die meine innere Unruhe noch verstärkten. Die Welt da draußen verschwamm im Regengrau und zeigte sich ziemlich genau so, wie sie sich aktuell auch anfühlte. Bedrückend und schwer. Dabei hatte ich sonst nie was gegen Regen und ein strahlendblauer Himmel bei meiner Ankunft wäre mir in diesen Zeiten wahrscheinlich sogar unpassend erschienen. Zumindest hatte ich dieses Mal den richtigen Moment nicht verpasst und würde gerade noch rechtzeitig zu Hause ankommen. Nochmal so einen finsteren, trostlosen und einsamen Lockdown in London würde ich auch sicher nicht ertragen. London und ich, das war von Anfang an unter keinem guten Stern gestanden. Wer hätte auch ahnen können, dass zeitgleich mit meiner Anreise dort, eine weltweite Pandemie ausbrechen würde. Falsche Zeit, falscher Ort oder einfach nur eine Reihe falscher Entscheidungen? Wahrscheinlich von allem ein bisschen. Es hatte sich von Anfang an nicht gut angefühlt, trotz allem dort zu bleiben. Aber ich hatte ein paar Tage zu lange gezögert und dann wurde es immer schwieriger von A nach B und erst recht in ein anderes Land zu kommen. Also hatte ich dort ausgeharrt und gewartet. Was fühlte sich in diesen Tagen schon noch richtig an? Es war als hätte man versehentlich auf Repeat gedrückt und alles ging wieder von vorne los. Das Virus kam mit voller Wucht zurück und begann schon wieder die Welt lahmzulegen. Ein trügerischer, oberflächlich sorgloser Sommer lag hinter uns und nun mussten wir die Rechnung mit einem deprimierendem Herbst und Winter bezahlen? Social Distancing, Isolation und Abstand. Vor einem Jahr noch hätte ich wahrscheinlich laut geschrien, nur her damit. Ich hab keinen Bock mehr auf Menschen. Doch mittlerweile wusste ich wie hart das wirklich war und wie bitter die Realität und die ganzen Auswirkungen uns alles trafen. Ich hatte mich wahrscheinlich in meinem ganzen Leben noch nie so darauf gefreut meine Familie endlich wiederzusehen. Ich blinzelte, genoss den Anblick meiner Heimatberge, die vor mir auftauchten, immer größer und größer wurden und meine Stimmung änderte sich. Manchmal wenn ich länger fort war, registrierte ich erst wieder, wie beeindruckend die Landschaft hier war. Dann blickte ich auf die kargen schroffen Bergspitzen um mich herum und verstand, wie klein und unbedeutend ich und meine Sorgen im Angesicht dieser Riesen doch waren. Auch heute blieb dieses Gefühl nicht aus. So als würden die Berge mir zuflüstern. Ach Anni, das geht schon alles wieder vorbei. Schau uns an, was wir schon alles erlebt und gesehen haben und wir sind immer noch da. Diese Logik verfing bei mir erstaunlich gut. Natürlich würde es keine einfache Zeit werden. Meine Eltern mussten das Hotel schon wieder dicht machen. Keine Einnahmen, nur Kosten, Angestellte die heimgeschickt, irgendwelche Hilfen die beantragt werden mussten und nur spärlich und viel zu spät kamen, aber immerhin konnte ich ihnen dieses Mal zur Seite stehen. Seufzend bewunderte ich den Watzmann, der mit den grauen Nebelschwaden, die um ihn herumwaberten, sogar noch mystischer und imposanter wirkte, als sonst. In meinen Fingerspitzen begann es zu kribbeln. Daheim, endlich! , dachte ich als ich den Blinker setzte und die Abzweigung zum Leitnerhof nahm. Die Straße war steil, aber relativ gut ausgebaut. Die Gäste sollten ja schließlich bei jedem Wetter hier hochkommen. Aber was für Gäste denn? - schoss es mir durch den Kopf, als ich den großen, aber gähnend leeren Parkplatz vor mir sah. Ich querte die leeren Parkflächen, fuhr am Hotel vorbei und wollte den Mietwagen neben unserem Wohnhaus abstellen. Nur war gerade mein Parkplatz besetzt. Ein schwarzer SUV mit auswärtigem Kennzeichen. Keine Gäste und trotzdem ein Falschparker? Egal. Platz war ja mehr als genug. Ich setzte den Wagen zurück und stellte ihn woanders ab. Ich öffnete die Autotür und atmete die gute Heimatluft ein. Was für ein Gefühl. Am liebsten hätte ich mich sofort unter die Dusche gestellt um mir den imaginären Großstadtmief von der Haut zu schrubben. „Ja Anni? Ja wos machst du denn jetz scho da? Ich wollt dich doch erst in ner Stund vom Flughafen abholen?"

Ich drehte mich um und strahlte meinen Papa an. „Tada, Überraschung! Hab spontan einen Flug früher und dann einen Mietwagen genommen.", flötete ich und fiel ihm dann in die Arme. Es war nicht ganz die Wahrheit. Ich wollte von Anfang an nicht, dass mein Papa wegen mir bis nach München gurken musste. Normalerweise flogen wir über Salzburg, das lag viel näher, doch die Grenzkontrollen und das ganze Chaos war im Moment viel zu kompliziert und unsicher. Außerdem gab es nach wie vor kaum Flüge. „Mei, de Mama wird sich vielleicht freun." Papas Stimme klang ungewohnt zittrig. Er war niemand der üblicherweise seine Gefühle offen zeigte, aber die gegenwärtige Situation musste auch an ihm sehr nagen. Ich hatte das schon bei unseren gelegentlichen Videotelefonaten immer wieder gespürt. „Du hast ganz schön abgenommen, Papa? Muss ich mir Sorgen machen?" „Na, geh weider! I bin topfit. I war nur vui in de Berg unterwegs. Man muss ja irgendwas doa, damit ma ned ganz narrisch werd mit dem ganzen Schmarrn." Ich war nicht restlos überzeugt, ließ es aber so stehen. Papa wuchtete meinen Koffer aus dem Kofferraum, stellte ihn vor die Haustür und dann spazierten wir gemeinsam Richtung Hotel. „Und jetzt sind alle Gäste scho wieder weg?", fragte ich. „Fast. Zwei sind noch da. Die bleim a no." „Aber ist das nicht ab morgen wieder verboten?" „Nur wenn es sich um touristische Aufenthalte handelt." „Warum sollte man denn sonst zu uns kommen? Geschäftsreisende hier?" Papa zuckte mit den Schultern. „Der eine ist irgendein Hygienetechniker, der in der Molkerei zu tun hat und die meisten Hotels machen ja komplett dicht, also haben wir ihn aufgenommen. Der andere arbeitet von hier aus schon seit zwei Wochen. Hotel-Office sozusagen." „Nun ja, besser als nichts.", murmelte ich. „Mach dir keine Sorgen, Anni. Die letzten Monat, waren wir permanent ausgebucht."

Ich lächelte gequält, weil ich genau wusste, dass der Betrieb mit den ganzen Auflagen und Einschränkungen bei weitem nicht so viel zugelassen hatte, wie üblich.

Wir gingen durch den großen Eingang zur Rezeption. „Leni, schau mal wer da ist.", rief Papa laut und sofort streckte meine Mama ihre Nase aus dem Büro. „Anni!" Sie stürmte auf mich zu und riss mich förmlich in ihre Arme. Ich stöhnte gespielt gequält, aber ich war mindestens genauso froh und glücklich sie zu sehen, wie umgekehrt. In solchen Momenten, fühlte man sich auch mit Mitte dreißig noch wie ein kleines Kind. „Herrschaftszeiten. Warum sagst du denn nix. Da Papa hätt di doch abgeholt. Du alter Dickschädel.", polterte sie liebevoll und zwickte mich in die Wange. „Du bist ja a so mager. Aber bei dem Essen da bei de Engländer , wahrscheinlich a koa groaß Wunder." „Ge, Mama. So a Schmarrn. Ich schau aus wie immer." Ich verdrehte die Augen. „Aber ehrlichgesagt Hunger hab ich wirklich."

„Komm glei mit in die Küch. Muss eh Essen herrichten für unsere Gäste." Ich folgte ihr und wir richteten zwei große Brotzeitteller an und ein noch größere Platte für uns. „Ich bring des schnell noch nauf und dann können wir uns in die Kaminbar setzen zum Essen. Der Jakob müsste auch bald kommen. Wir haben dich ja erst später erwartet."

„Warte ich helf dir schnell". Ich nahm ihr einen Teller ab und ging hinter ihr die Treppe hoch. „Welches Zimmer denn?"

„Warte noch kurz. Der ist für den Michi in der 217. Der mag ja meinen Obazd'n so gern." Ich bring bloß dem Herrn Gruber vorher noch seins. Anscheinend machte es ihr sogar Spaß gewisse Aufgaben wieder selber zu übernehmen. Sie klopfte an die Tür der 111 und überreichte den Teller. „Kriegt jetzt jeder Gast ein eigenes Stockwerk?" fragte ich als wir nochmal eine Etage höher stampften. Sie zuckte mit den Schultern. „ Mei des hat sich so ergeben. Der Michi hat eins der Sterndlgucker-Apartments gebucht gehabt und als er angefragt hat ob er länger bleiben kann, haben wirs halt so gelassen."

„Aha. Na ja nobel geht die Welt zugrunde.", meinte ich etwas zynisch und herablassend. Diese immer noch auf rustikal designten, aber eben auch äußerst luxuriösen Suiten mit den harmlos klingenden Namen waren sauteuer und mir irgendwie zuwider. Mein Bruder Jakob hatte sich dieses Konzept ausgedacht und er lud immer wieder irgendwelche unsymphatischen, nervigen und teils echt unverschämten Influencer ein, um Werbung dafür zu machen. Vor meiner Abreise im Frühjahr, hatten wir uns genau deshalb auch böse gestritten. Er hatte mir an den Kopf geknallt, dass ich unprofessionell war, meine moralischen, antiquierten Ansichten mal der Zeit anpassen müsste und überhaupt sowieso schon wieder abhauen würde. Dich interessiert das Hotel immer nur ein paar Wochen lang und dann haust du eh wieder ab. Solange das so bleibt, misch dich nicht in meine Angelegenheiten ein. Ich seufzte innerlich. Er hatte ja im Prinzip durchaus Recht gehabt und jetzt war das Hotel sowieso leer. So gut wie leer. So schnell würde sich kein Influencer mehr hier blicken lassen. Sterndlgucker, das waren Apartments ohne Schlafräuber, ohne Fernseher und Tablet, dafür mit Kamin, einem zusätzlicher Schlafplatz und einem Teleskop auf dem großen Balkon. Also irgendwie auch verständlich, dass man das schön fand. Ich hätte mir das vielleicht auch ausgesucht. Wobei ich beim Reisen überhaupt keinen Wert auf Luxus legte, wenn meine Familie wüsste in welchen Absteigen ich schon übernachtet hatte. Sie hätten die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, aber mir war beim Reisen in erster Linie wichtig, viel zu erleben und herumzukommen. Aber auch damit, war für längere Zeit Schluss.

„Ja mei. Wir haben ihm einen Spezialpreis gemacht. Steht ja sonst eh alles leer. Der Michi ist ein ganz feiner Kerl. Der hat auch scho a paarmal mitm Papa und mir zu Abend gegessen. Er gfreid se jedesmal, wenn ich ihn einlad. I glaub der macht grad irgendwie a schwere Zeit durch. Entweder hockt er ganz allein in seinem Zimmer, oder er rennt draußen stundenlang umanand, selbst beim greisligsten Wetter."

„Ja Mama, was soll er denn auch sonst tun? Er ist doch anscheinend zum Arbeiten hier und eine harte Zeit haben wir doch alle gerade. Du musst dich echt nicht immer um alle sorgen und kümmern."

„Ge, sei ned so Anni. Man wird doch noch freundlich sei dürfen.", erwiderte sie lächelnd und klopfte an die Tür der 217.

Mike

Dicke Tropfen klatschten mir auf den Kopf. Ich legte ihn in den Nacken, schaute in den Himmel und hielt mein düsteres Gesicht in den Wind. Ich konnte dem Regen erstaunlich viel abgewinnen. Er klärte meine Gedanken und machte beruhigende Geräusche. Vielleicht war ich bei so einem Wetter manchmal sogar zufriedener und ausgeglichener. Das war eins der Dinge die sich an mir verändert hatten. Aber warum? Früher hatte ich schlechtes Wetter gehasst und hätte jeden für verrückt erklärt, der was anderes behauptete. Ob es bei ihr so war? Vielleicht war es ja eine weitere Gemeinsamkeit, die wir in uns trugen. Ich bekam schwitzige Hände ,wenn ich daran dachte, dass sie noch heute ankommen sollte. Wie es wohl sein würde ihr gegenüberzustehen? Ich wusste wie sie aussah, weil ich ihr Insta-Profil mittlerweile fast auswendig kannte. Allerdings gab es nur zwei Bilder auf denen sie gut zu erkennen war. Eins an irgendeinem tropischen Wasserfall. Sie drehte den Kopf über die Schulter in die Kamera, lächelte und hatte sich ein buntes Tuch in die Haare gebunden. Das zweite war eigentlich ein kurzes Video in dem sie neben irgendeinem Gipfelkreuz hockte und ein paar Alpendohlen aus der flachen Hand fütterte. Der Wind blies ihr die Haare ins Gesicht und rauschte so laut, dass man den Ton runterdrehen musste. Ansonsten gab es hauptsächlich Landschaftsfotos, Sonnenuntergänge am Meer, Regenbögen, Iglus, Wüsten, Sümpfe, Palmen und immer wieder Berge. Sie reiste viel. Das wusste ich auch aus ihren Emails, Nachrichten und Briefen. Würde ich sie heute tatsächlich zum ersten Mal sehen? Ein Teil von mir, sträubte sich dagegen, dass sie Teil meiner Realität wurde. Aber war sie das schon nicht schon längst? Aber was wenn sie mir übel nahm, dass ich einfach hier aufgekreuzt war, mich hier heimlich eingeschlichen und sogar ihre Familie kennengelernt hatte. Als Zufall konnte ich ihr das schlecht verkaufen. Wahrscheinlich wär es besser, schnell wieder abzuhauen bevor wir uns über den Weg liefen. Doch es war mir andererseits so enorm wichtig ihr persönlich gegenüberzustehen, ihr in die Augen sehen und ihr sagen zu können wie dankbar ich ihr war. Der Regen wurde mit der Zeit immer schlimmer und ich machte mich auf den Rückweg. In meinem Zimmer stellte ich mich unter die heiße Dusche und legte mich dann auf mein Bett. Ich grübelte immer weiter und musste darüber wohl irgendwann eingenickt sein. Ein vorsichtiges, aber unmissverständliches Klopfen weckte mich. Ich hüpfte aus dem Bett, schlüpfte schnell in ein zerknautschtes T-Shirt, das ich vom Boden aufsammelte und in meine ebenfalls nicht mehr ganz taufrische Jeans. Bei der Gelegenheit fiel mir ein, dass ich dringend nach irgendeiner Waschmöglichkeit für meine Sachen fragen musste. „Komme!", rief ich, machte meinen Hosenknopf zu und fuhr mir durch die Haare.

Als ich die Tür öffnete, stand Marlene da und hielt einen Teller mit Leckereien in der Hand, der sicher für drei Personen gereicht hätte. „Servus, Michi. Hoffe wir stören nicht. Wollt dir nur schnell das Abendessen vorbeibringen. Ach ja und das ist übrigens unsere Anni. Sie drehte sich etwas zur Seite und gab den Blick auf die Frau frei, die mit etwas Abstand hinter ihr im Flur stand. Ich starrte sie an wie einen Geist. Sie lächelte freundlich, aber unverbindlich und nickte mir zu. Dann murmelte sie eine Entschuldigung, kramte eine Maske aus der Tasche und setzte sie schnell auf. Ich räusperte mich. „Oh Hallo. Da ist die Freude bestimmt groß. Dann wünsche ich euch noch einen schönen Abend und vielen Dank für die Brotzeit. Ich hätt sie auch abholen können."

„Na des passt schon. Die Anni hat mir ja eh geholfen. Lass es dir schmecken und mach dir einen gemütlichen Abend. Wenn du noch was brauchst, ruf einfach durch. Wir sind noch eine Weile unten in der Bar.", flötete Marlene. Man spürte förmlich wie glücklich sie die Anwesenheit ihrer Tochter machte. Ich bedankte mich, blieb verwirrt in der Tür stehen, auch als die beiden schon längst wieder im Treppenhaus verschwunden waren. Es gab sie tatsächlich. Sie war ein Mensch aus Fleisch und Blut und kein Phantasiewesen oder nur eine virtuelle Zuflucht, wenn ich mal wieder nicht wusste wohin mit mir und meinen Gedanken. Sie war etwas kleiner und schmaler als in meiner Vorstellung und obwohl sie weder irgendwas Besonderes getan, noch gesagt hatte, versprühte sie eine ganz eigene Art von Energie. Das war sie also Annelie Leitner, mein genetischer Zwilling, die Frau die mir vor fast drei Jahren das Leben gerettet hatte.






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