EIN BRIEF ZU WEIHNACHTEN

By gologel

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❝Weihnachtsmann, ich hab dir einen langen Brief geschrieben, dass dich alle Kinder lieben und ich hoff...❞ ╰┈... More

𝐍𝐔𝐋𝐋 - die Charaktere
𝐄𝐈𝐍𝐒 - ein Brief zu Weihnachten
𝐙𝐖𝐄𝐈 - ein ganz gewöhnlicher WG-Tag
𝐃𝐑𝐄𝐈 - nächtliche Begegnungen
𝐅Ü𝐍𝐅 - ein Dinner mit dem Weihnachtsmann
𝐒𝐄𝐂𝐇𝐒 - der Elf im Mondlichtsee
𝐒𝐈𝐄𝐁𝐄𝐍 - Mandelcremelippen
𝐀𝐂𝐇𝐓 - böse Jungen bekommen keine Geschenke
𝐍𝐄𝐔𝐍 - der geheime Wunsch

𝐕𝐈𝐄𝐑 - tänzelnde Spielchen

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By gologel

𝐓𝐀𝐄𝐇𝐘𝐔𝐍𝐆 𝐔𝐍𝐃 𝐘𝐎𝐎𝐍𝐆𝐈𝐒 Plan, das streitlustige Duo so gut es ging zu meiden, ging für ihre Führung durch die Weihnachtswerkstätte nicht auf. Es kam eigentlich schon beinahe schlimmer, denn obwohl jeder von ihnen seinen eigenen Wichtel zugeordnet bekommen hatte, würde nur Namjoon sie führen. 

Sie hofften einfach darauf, dass Hobi Recht hatte. Andererseits war es bestimmt witzig zu sehen, wie Jeongguk auf die Fresse bekam. Auf dieselbe liebevolle Art, wie seine Freunde ihm das süffisant grinsend erzählt hatten, hatte Jeongguk ihnen angeboten, dass sie gleich auf die Fresse bekämen.

Namjoon, der das Ende dieses Austausches noch mitbekam, zog - mal wieder - seine Augenbraue hoch. Vielleicht lag es einfach in der Natur aller Menschen, auf grobe, herabwürdigende Verhaltens- und Ausdrucksweisen zurückzugreifen und Jeongguk war nur ein Opfer seiner Selbst.

Schnell schüttelte der Oberwichtel den Gedanken wieder ab. Erst gestern hatte ihm der Weihnachtsmann nochmal eingebläut, dass er sich nicht dem verschließen sollte, was er nicht fassen konnte und Vergebung nicht mal verwerfen, wenn sie abgelehnt worden war.

Das hier war wie eine Probe für ihn. Konnte er die Magie von Weihnachten nur in materiellen Wünsche unterstützen oder konnte er diese auch verbreiten, wenn sie nur aus reinem, guten Handeln bestand? Namjoon hatte vor sie zu bestehen, sich zu bessern. Selbst wenn er sich dafür stundenlang ankläffen lassen musste von einem Jungen, der glaubte, die Weisheit mit Schöpfkellen getrunken zu haben.

Gestern Abend hatte er Jeongguk eine gute Nacht gewünscht und dieser hatte sie tatsächlich erwidert. Irgendeine gemeinsame Basis würde er mit diesem Jungen schon finden. Er hatte schon einmal Weihnachten gerettet, da würde er ja wohl mit dieser Nervensäge zurechtkommen.

Bevor Namjoon sich noch weiter zusprechen konnte, entdeckte Taehyung ihn und die Jungen drehten sich ihm zu. Tatkräftig schlug dieser in die Hände - es war auch wie eine Aufmunterung für ihn - und warf den Studenten ein freudiges Lächeln zu.

"Schon aufgeregt?", fragte er heiter.

"Sind wir zehn, ode-" Jeongguks Kommentar ging in Yoongis schnellem Stoß unter, der ihm seinen Ellenbogen in die Seite rammte.

"Ja, irgendwie schon. Ist so... surreal, was wir hier gleich sehen werden", antwortete Taehyung stattdessen.

Jeongguk warf Yoongi einen scharfen Blick von der Seite zu, doch der entgegnete diesen nur mit einem warnenden Blick. Überspann den Bogen nicht, sagte dieser. Namjoon beobachtete das alles unberührt. Wenigstens Jeongguks Freunde waren auch auf seiner Seite. Jin, so hatte er den Eindruck, hatte ein bisschen zu viel Freude daran, dem Jungen zuzuhören.

"Bevor wir reingehen, noch eine wichtige Info: Viele der Wichtel haben noch nie Menschen in echt gesehen und das werden sie vermutlich auch nie-"

"Warum? Sind sie Gefangene? Würden sie nicht mehr zurückkommen, wenn sie einmal Freiheit kosten dürfen?", setzte Jeongguk bereits an.

"Nein, wir sind keine Gefangenen. Auch wenn wir euch sehr ähnlich sind, haben wir andere Bedürfnisse als ihr. Viele von uns sind sehr feinfühlig und reagieren sensibel auf die schlechten Energien in eurem Umfeld. Wir würden vermutlich an der Immoralität eurer Welt zugrunde gehen."

Darauf konnte Jeongguk nichts erwidern. Wie denn auch, genau das warf er seiner Welt im übertragenden Sinne ja auch vor.

"Also, wie ich bereits sagen wollte: die allermeisten Wichtel werden auch nie die Chance bekommen, echte Menschen zu sehen. Insofern kann es gut sein, dass sie euch überströmen werden, wenn sie mitbekommen, dass ihr keine einzulernenden Wichtel seid. Und da hier eigentlich jeder jeden kennt oder zumindest jemanden, der wiederum die entsprechende Person kennt, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie auf euch zukommen werden", erklärte Namjoon den Jungen ihren Status.

"Wir könnten also wie absolute Superstars umzingelt und betatscht werden?", hakte Yoongi nach.

"Wenn ihr das möchtet, ja. Wenn nicht, dann halte ich sie zurück. Sie respektieren und hören auf mich." Selbstbewusst schlug Namjoon die Arme vor die Brust.

Mmh, Jeongguk mochte selbstbewusste Männer. Vor allem aber mochte er gereizte, selbstbewusste Männer.

"Hier gibt's 'ne Stellenhierarchie?" 

Namjoon seufzte. "Wie wäre es, wenn ich euch alle aufkommenden Fragen drinnen während unserer Tour beantworte? Bevor wir noch ewig hier draußen herumstehen."

Dagegen hatte keiner der Studenten etwas einzuwenden. Jeongguk musste seine Frage ja nicht jetzt beantwortet haben; er würde sie nur schön im Hinterkopf behalten und wieder auspacken, wenn es an der Zeit war.

Namjoon klopfte dreimal gegen die riesige Eingangstür. Zufrieden sah er aus dem Augenwinkel, wie sich die drei Besucher neugierig streckten - und bei dem Anblick, den sich ihnen bat, die Kontrolle über ihre Mimik verloren.

Vor ihnen war wortwörtlich das Portal zu einem anderen Universum aufgegangen, das gleichzeitig eine Kombination aus allen möglichen kitschigen Weihnachtsfilmen war und andererseits so einzigartig, dass kein menschlicher Geist etwas derartiges entspinnen konnte.

Der Boden wirkte gläsern, wie die Oberfläche eines klaren Sees, und als sie die Halle betraten, stellten sie fest, dass sie sich selbst entgegenblickten. Ein wundervoller Weg jeden Tag sein Doppelkinn präsentiert zu bekommen, dachte sich Taehyung.

Eine breite Doppeltreppe führte an den äußeren Seiten hoch in den ersten Stock, in dem Yoongi nur ein paar rote und grüne Türen und ganz viel weihnachtliche Deko ausmachen konnte. Die zum Raum geneigten Seiten der Treppen wurden von Tannen verdeckt. Sie waren ganz klassisch mit goldenen, weißen oder roten Kugeln, aber auch in modernen Farben oder kuriosen Figürchen geschmückt, während ihre Lichterketten samtig strahlten.

"Irgendwie erinnert mich das ein kleines bisschen an die Weihnachtsdekoration von Kylie Jenner", meinte Taehyung und seine Freunde prusteten lachend. Namjoon warf ihnen einen fragenden Blick zu.

"Eine Frau, die es geschafft hat, sich ohne Talent als unglaublich interessant zu vermarkten und jetzt als Symbol der Oberflächlichkeit, des Konsumwahns und der unglaublichen Geldschefflerei dient", klärte Jeongguk ihn auf.

"Demnach kein Kompliment?"

Jeongguk zuckte nur mit den Schultern und wandte seinen Blick dem eigentlichen Highlight der Eingangshalle hin.

"Also ich finde Kylie Jenners Weihnachtsdeko immer sehr schön", sagte Taehyung und schenkte Namjoon ein Lächeln.

Der Wichtel erwiderte dessen Lächeln dankbar und sog dann mit Genugtuung und Stolz die verzauberte Sprachlosigkeit der Studenten ein. Das Bild oder eher die Bilder, die sich ihnen boten, hatten auch keine geringere Reaktion verdient. An der imposanten Tanne in der Mitte des Raumes, die sich bis zum hohen Dach der Eingangshalle erstreckte, hingen hunderte von Glaskugeln, die das Leben der Kinder widerspiegelte.

Immer wieder wechselte die Szenerie. Ein kleiner afro-amerikanischen Junge, der in einem kleinen Zimmer mit Kopfhörern zur Musik wippte, während im Hintergrund ein Poster von J.Cole an der Wand hing; ein blondes Mädchen, das sich gerade Zöpfe flocht und frustriert die Hände auf den Tisch knallte, als es wieder nicht zu klappen schien; ein Junge und ein Mädchen, beide mit verwischtem Mascara, die sich eine Zigarette teilten und an Jeongguk vorbei in den Himmel starrten.

"Sehen wir hier diejenigen, die etwas zu Weihnachten geschenkt bekommen?", stellte Yoongi seine atemlose Frage und legte den Kopf in den Nacken, um die Spitze des Baumes zu sehen. Hunderte, wenn nicht tausende oder abertausende Geschichten lagen vor ihm. Direkt zu greifen und doch so weit entfernt.

"Ja, das sind alle, die von uns dieses Weihnachten einen Wunsch erfüllt bekommen. Sie alle werden hier abgebildet, für wenige Sekunden, kurze Impressionen ihrer Leben", antwortete ihm Namjoon.

"Sodass ihr sie seht, aber nie kennenlernt", flüsterte Yoongi, mehr zu sich selbst als für andere Ohren bestimmt. Obwohl Jeongguk sehr nahe bei ihm stand, hatte dieser nichts mitbekommen. Auch er war viel zu gefesselt von den kurzen, lebensnahen Impressionen dieser... oftmals noch mehr Kinder als Jugendlicher und dennoch schwang immer eine Sentimentalität in ihnen mit, die ihn aufrüttelte.

Deshalb folgte er Namjoon auch sofort, als dieser die Tour endlich beginnen wollte. Sie traten durch den zweiten gigantischen Torbogen in das Innere der Fabrik und wären sie nicht bereits baff dank der lebendigen Glaskugeln gewesen, so hätte sie dieser Anblick umgehauen.

Die Halle erstreckte sich bis ins hinterste Eck und war durch keine Wand getrennt. Mehrere hundert Meter wurden nur durch vereinzelte Pfeiler gehalten und von ihrem Standpunkt aus bot sich ihnen ein Überblick über sämtliche Stationen der Geschenkefabrik, da das Erdgeschoss nochmal einige Meter nach unten versetzt war.

Fleißig wuselten Wichtel aller Hautfarben herum, werkelten, verzierten, nähten, klebten, redeten, lachten. Auf sie fiel das ungefilterte Licht der Sonne durch das gläserne Dach. Briefe flatterten in durchsichtigen Kanalröhren zu einem Verteiler und von dort aus zu ihren jeweiligen Stationen, wo sie begierig in Empfang genommen wurden. Und alles war in rot und dunkelgrün getunkt und in weiß und in Gold.

Es hätte aus einer geheuchelten Wir-scheißen-sicherlich-nicht-auf-Menschenrechte-Werbung von irgendwelchen Megakonzernen stammen können, die auch noch suggerierte, dass sie sich für Diversität, Inklusion und Nachhaltigkeit einsetzte, nur um sich zu profilieren und in Wirklichkeit genau diese Machtgefälle ausnutzten.

Aber das hier war keine Werbung. Das war die Realität und sie fühlte sich überhaupt nicht gestellt an. Jeongguk war ein bisschen so, als würde er den Blick in eine Utopie erhaschen - das würde er dem Oberwichtel jedoch sicherlich nicht auf die Nase binden.

"Wie ihr sehen könnt, fertigen wir hier alle Geschenke an. Die Briefe werden vorher von den Postwichteln, wie es Hobi und Jimin sind, angeschaut und wenn sie verwirklichbar sind, in die Luftröhren gesteckt", fing Namjoon an zu erklären, während sie die Treppenstufen hinabstiegen.

"Und was könnt ihr nicht verwirklichen?" Jeongguk folgte ihm dicht, während Yoongi und Taehyung etwas auf Abstand blieben.

"Dass sich Eltern wieder lieben, Oma wieder lebt, die Katze wieder auftaucht. Oder aber ein fliegendes Auto oder ein lebendiger Dinosaurier. Wir können Träume schenken, Potential wecken, aber nur für das wünschende Kind und nur im Rahmen eurer Naturgesetze. Nicht überall ist die Liebe von Weihnachten die Lösung - leider", erklärte Namjoon, der sich über die Schulter zu Jeongguk neigte.

"Und was ist mit Erwachsenen? Sind deren Seelen nicht rein  genug, dass sie sich etwas wünschen können?", stichelte der Student.

"Glaubst du, dass Erwachsene Briefe an den Weihnachtsmann schicken?", mischte sich Yoongi hämisch ein. "Du bist vermutlich der Älteste seit Langem, der dem Weihnachtsmann schreibt."

"Tatsächlich bekommen wir kaum mehr Briefe von Kindern, sobald sie 14 werden. Aber wir wurden schon von einzelnen Briefen erreicht, deren Verfasser deutlich älter als der Durchschnitt waren." Namjoon konnte sich ein spottendes Grinsen nicht unterdrücken.

"Also beschenkt der Weihnachtsmann gar nicht zwingend nur Kinder?" Auch Taehyungs Interesse war geweckt worden, nachdem er sich von dem faszinierenden Anblick dieses eigenen kleinen Minikosmos gelöst hatte.

"Nein, der Weihnachtsmann beschenkt jeden, dessen Brief durch den Weihnachtszauber zu uns geschickt wurde und den wir erfüllen können. Das ist unsere Aufgabe: Wir helfen der Magie von Weihnachten sich zu verbreiten. Uns erreichen die an materiellen Dinge gebundenen Wünsche, während wir rein emotionale an die Elfen weiterleiten, obwohl die meisten Wünsche dieser Art gleich bei ihnen landen. Die Magie bestimmt, wer beschenkt wird, und nein, ich weiß nicht, nach welchen Kategorien dies entschieden wird. Allerdings denke ich kaum, dass sich eine transzendente Macht nach menschlichen Konstrukten richtet."

Jeongguk hob darauf nur die Augenbraue. "Und warum leitet sie dann unerfüllbare Wünsche an euch weiter?"

Für einen Moment schwieg Namjoon. Das hatte er sich auch schon oft gefragt. "Ich denke, weil es nicht nur darum geht, dass ein Wunsch erfüllt wird, sondern dass ihn sich auch einer anhört."

"Und dann wegschmeißt." Die Utopie begann zu bröckeln.

"Wir bewahren sie alle auf", widersprach Namjoon, "falls sich etwas auf ihnen ändern sollte. Viele Wünsche verblassen irgendwann, weil sie an Bedeutung verlieren und nicht, weil das Kind aufgibt, aber bei manchen erscheinen neue Details, sodass sie doch erfüllbar sind."

"Aha", verlautete Jeongguk wenig überzeugt, doch wandte sich dann an seine Freunde. "Seht her, ich wurde von der Magie von Weihnachten höchstpersönlich als Gast auserwählt, weil ich würdig bin."

Yoongi verdrehte die Augen und Taehyung kicherte.

"Wohl eher besonders bemitleidenswert. Die Magie von Weihnachten will deinem Leben einen Sinn geben", erwiderte Yoongi.

"Dabei hätte es deinen Leben viel nötiger", konterte Jeongguk und für einen Moment starrten sich die zwei Freunde eiskalt in die Augen. Dann zuckte Yoongis Mundwinkel nach oben.

"Touché. Man merkt, du lernst vom Besten."

"Eigenlob stinkt", stellte Jeongguk fest und musste doch grinsen.

Namjoon musste sich selbst gestehen, dass ihn die Dynamik dieser Freundesgruppe gewissermaßen an ihn und Jin erinnerte. Nur, dass sie nicht so morbide Witze machten und er  meistens gar nicht erst versuchte auf Jin einzugehen, da dieser sonst ewig weitermachte.
Vielleicht hätte er bei Jeongguk auch so handeln sollen.

Angekommen auf dem Boden der Fabrikhalle, wirkte alles nochmal um ein vielfaches eindrucksvoller. Die Briefe, die nun über ihren Köpfen flatterten - in einem Affentempo wohl angemerkt -, verschwanden in den jeweiligen Maschinen - Taehyung bemerkte belustigt, dass sie der Geschenkemaschine aus Weihnachtsmann und Co. KG ähnelte -, diese spuckte dann gewisse Rohentwürfe aus, welche mitsamt ihrem Brief zu einem Wichtel gebracht wurden.

"Also, wie gesagt", fing Namjoon mit seiner Erklärung von Neuem an, "nachdem die unerfüllbaren Wünsche aussortiert oder weitergeleitet wurden, werden die anderen Briefe mit Eisstaub beschwert. Dieser hilft dabei, dass die Briefe zu den richtigen Stationen kommen. Jede Station ist zuständig für einen Bereich der Welt, meine beispielsweise für das vierte Ostende."

"Und dann kommt der Wunsch in 'ne Maschine, wird auf seinen materiellen Grundkern heruntergebrochen und dann noch mit ein bisschen Handarbeit frisiert?"

"Nein. Zumindest zum einen Teil." Namjoon mochte es nicht, Jeongguk minimalst Recht zu geben, denn sofort zierte ein siegessicheres Grinsen dessen Gesicht.

"Die Geschenkemaschinen bilden die Basis des Geschenkes und verleihen dem Wunsch seine Grundform. Die Wichtel arbeiten dann mit viel Liebe an den kleinen Details, die den Wunsch ausmachen und die Kinder oftmals gar nicht nennen können, aber die wir erspüren, weil wir die Wünsche ohne Worte verstehen. Damit breitet sich auch schon ein kleiner Teil Magie auf den Geschenken aus: unser unausgesprochenes Verständnis für unausgesprochene Worte."

"Also verschenkt ihr doch nur materiellen Besitz?", war Jeongguks einziger Kommentar auf diese lange Erklärung.

Namjoons Finger zuckten verdächtig. "Nur weil man etwas besitzen kann, heißt das nicht, dass es keinen tiefersitzenden Wert hat."

"Hmm." Jeongguk zuckte nur mit den Schultern. Aber auch Taehyung hatte das nicht so ganz verstanden. Er traute sich allerdings nicht zu fragen, doch Namjoon bemerkte seinen verwirrten Blick.

"Hier in dieser Werkstatt stellen wir materielle Geschenke her, ja. Diese haben aber immer einen tieferen Sinn und Zweck, als ein Kind für zwei Wochen zu unterhalten. Der Besitz eines Gegenstandes kann einen ganz anderen Lebensweg einleiten. Und wo kein materieller Wunsch vorhanden ist, kann der Zauber von Weihnachten dennoch wirken. Nur müssen wir ihn dann nicht verwirklichen."

In diesem Moment durchzuckte Jeongguk die Frage, warum sie, die drei Studenten, dann eigentlich hier waren. Sie waren ja keine Gegenstände, die produziert werden mussten (Oder etwa doch? War das eine irre Philosophiestunde?), aber warum sollten sie von irgendeiner transzendenten Schwingung in eine Parallelwelt geschickt werden? War ihr Leben - beziehungsweise vor allem seins, denn es war ja sein Brief gewesen - wirklich so scheiße, dass sie ein solches Weihnachtswunder brauchten?

Als er aus seinen Gedanken wieder aufblickte, sahen ihn drei Augenpaare an.

"Noch eine Frage?", sagte der Wichtel.

"Jetzt gerade nicht", antwortete Jeongguk. Taehyung und Yoongi warfen sich einen absichernden Blick zu. Sehr untypisches Verhalten für ihren besten Freund. Sogar Namjoon wunderte sich, doch gleichzeitig passte es ihm sehr gut in seinen Kram, wenn der Junge schwieg.

Die Truppe setzte sich wieder in Bewegung und Namjoon schwieg, während er die Reaktionen der Studenten auf die Stationen genau beobachtete. Sie alle waren höchst interessiert, doch äußerten das ganz unterschiedlich. Taehyung streckte und reckte sich, sein Blick wanderte die gesamte Zeit hektisch herum, als könnte er nur das kleinste Detail zu verpassen nicht verkraften können. Yoongis Blick verweilte auf einzelnen Wichteln und ihren Geschenken. Er wirkte sehr passiv, aber man sah ihm an, wie es hinter seinen Augen ordentlich ratterte. Und Jeongguk beäugte alles ganz misstrauisch, als würde er nur so nach Fehlern suchen. Was er ja auch tat, dennoch konnte er seine Begeisterung nicht ganz verstecken.

Namjoon wartete aber schon auf die nächste provokante Frage, während er sie gekonnt durch die Gänge leitete, sodass sie nie zu lange an einem Ort die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Denn auch wenn die meisten Wichtel sehr konzentriert an ihrer Arbeit waren, grüßten einige Namjoon, sobald sie seine Präsenz merkten. Dann fielen die neugierigen Augen auf seine drei Gefährten und Stirne runzelten sich.

Die Studenten bemerkten die Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil kam, gar nicht. Viel zu fokussiert waren sie dafür auf die einzelnen Geschenke, diese wirklich liebevolle Präzision mit der an den Wünschen gearbeitet wurde. Taehyung bildete sich einmal sogar ein, wie sich funkelnde Partikel auf einen Hockeyschläger fielen und dieser auf einmal wie eine Bestimmung wirkte. Als seine Augen die seiner Freunde suchten, bestätigten ihre bereits zugewandten Augenpaare seine Beobachtung.

"Wie sind eigentlich die Arbeitsbedingungen hier?", ertönte irgendwann Jeongguks Stimme, als sie an der zweiten Westmitte-Station vorbeigingen. Anscheinend hatte er sich genug verzaubern lassen.

Namjoon verwirrte diese Frage. Wie sollten schon die Arbeitsbedingungen sein? Gab es da mehrere Möglichkeiten?

"Nun ja", begann er mit zusammengezogenen Augenbrauen, "wir fangen meist nach dem Frühstück an, essen gemeinsam zu Mittag, arbeiten dann nochmal ein paar Stunden und eine Stunde vor Abendessenszeit gehen wir nach Hause. Wir essen gemeinsam, aber wenn jemand alleine essen will, kann er das auch und wenn jemand noch bis tief in die Nacht Wünsche verwirklichen will, dann kann er das auch machen. Oder er fängt ganz früh an, je nachdem, wie es der Person halt passt."

"Mhm." Jeongguk registrierte diese Antwort nur mit einem relativierenden Laut. "Und was ist, wenn jemand nicht spurt, nicht weiterkommt?"

"Dann wird ihm geholfen." Was denn auch sonst?

"Müsst ihr einstempeln? Also wird irgendwo notiert, wann ihr wie lange da seid?"

"Nein?" Was waren das denn für Fragen, wunderte sich Namjoon. "Wenn jemand nicht da ist, dann weiß normalerweise immer jemand Bescheid, warum er nicht da ist. Außerdem ist ja kein Wichtel verpflichtet zu kommen, wir tun das aus dem Bedürfnis heraus, Liebe zu verteilen."

Was waren das denn für Antworten, wunderte sich Jeongguk.

"Ihr seid nicht verpflichtet, das zu tun?", hakte Jeongguk argwöhnisch nach. "Kein Arbeitsvertrag? Kein Lohn, der euch gestrichen werden kann? Keine Stelle, die euch gestrichen werden kann und keine Wohnung, die daraufhin verloren wird?"

Namjoon schwieg einen Moment. Verstand er diesen Jungen einfach nicht oder war die Antwort auf so viele Fragen wirklich so simpel?
"Nein", erwiderte er dann.

"Auf was?", fragte Jeongguk verständnislos nach.

"Auf alles", antwortete Namjoon.

Yoongi zupfte Taehyung am Ärmel. Mit seinem Finger deutete der Kleinere von beiden nach rechts. Taehyung blickte in die Richtung und erspähte eine Wendeltreppe, die in den ersten Stock führte und eine riesige, offene Tür. Briefpoststelle rankte über ihr.

"Wollen wir unsere Wichtel besuchen?", flüsterte Yoongi ihm zu.

"Wollen wir die zwei hier alleine lassen?", flüsterte Taehyung zurück.

Yoongi winkte nur ab. "Die werden sich schon nicht prügeln. Ich glaube, Jeongguk wird Namjoon gleich gestehen müssen, dass ihre Welt nicht mit unserer vergleichbar ist und das Konzept des Kapitalismus hier gar nicht existiert."

Taehyung summte daraufhin nur. "Mmh, seit wann gesteht Gguk schon seine Fehler? Vor allem vor jemandem, den er doch provozieren will?"

Doch Yoongi zuckte nur mit den Schultern. "Nicht unser Problem. Am Ende kriegt Gguk eh seinen Willen und die beiden knutschen irgendwo rum."

Daraufhin lachte Taehyung lediglich leise. Jeongguk hatte ein unglaubliches Talent dafür, extrem nervig zu sein und damit jeden um den Finger zu entwickeln. So stahlen sich die beiden Jungen unbemerkt zur Poststelle fort.

Jeongguk und Namjoon waren derweil viel zu überfordert mit den Antworten beziehungsweise Fragen des anderen. Sie sprachen dieselbe Sprache, aber kein Wort passte zum anderen.

"Wie kann man all diese Fragen mit 'Nein' beantworten?"

"Indem es die Antwort ist. Ich habe keine Ahnung, was ein Arbeitsvertrag ist. Wir arbeiten hier einfach und jeder kennt und befolgt die Regeln oder auch mal nicht. Geld gibt es bei uns auch nicht, es gibt keine Verwendung dafür. Jeder bekommt Essen, Kleidung, Dekoration, was auch immer frei zur Verfügung. Warum sollte man sich ein Anrecht auf so etwas verdienen müssen? Wenn uns unsere Stelle nicht passt, dann wechseln wir halt. Und warum sollte jemand jemals sein Dach über'm Kopf verlieren, weil er nicht in die Werkstätte kommt?" Nichts machte für Namjoon einen Sinn. War das etwas, was den Kapitalismus ausmachte? So etwas wollte Jeongguk hier kritisieren?

Der Student war wie in Schockstarre verfallen. Er hatte es ja gar nicht darauf angelegt beim wahrhaftigen Weihnachtsmann Kapitalismuskritik auszuüben, aber nun stand er wirklich in seiner utopischen, idealistischen Vorstellung von Arbeit und Markt. Alles, was für die Welt, in der er lebte, zu positiv gedacht war, klappte hier einfach? So einfach, dass jede kleinste Abweichung so große Verwirrung bei Namjoon stiftete?

Und der Oberwichtel sah es ihm an. Er sah ihm an, dass er nichts mehr zu entgegnen hatte. Wohlgefallen wanderte von seinem Schädel aus über seine Wirbelsäule in jede Faser seines Körpers. Oh, er fand Schadenfreude stets verwerflich, aber jetzt tat sie einfach zu gut.

In diesem Moment trat ein anderer Wichtel an Jeongguk heran. Er kam ihm extrem nah, sodass Jeongguk einen Schritt zurückwich, um genug Abstand zwischen ihnen herzustellen.

"Du bist kein Wichtel, oder?" Es war mehr eine Feststellung anstatt einer Frage und irgendwie fand Jeongguk ihn echt gruselig, mit seinen vor Neugier und Aufregung weit aufgerissenen Augen.

"Ähm", stotterte er und sein Blick wanderte zu Namjoon, welcher sofort verstand.

"Gilbi, lass ihn bitte in Ruhe. Er möchte diese Aufmerksamkeit nicht", sagte der Oberwichtel ruhig, aber bestimmt.

Der Angesprochene nahm Abstand von Jeongguk, aber sein Arm war immer noch verdächtig in die Richtung des Junges ausgestreckt und verhehlte sein Interesse keineswegs. Damit zog er alle Augenpaare, die gerade nicht fest auf ihr Geschenk fixiert waren, auf sich. Die Aufmerksamkeit und Anspannung stieg und das gefiel weder Jeongguk noch Namjoon. Eigentlich mochte Ersterer es im Rampenlicht zu stehen, doch nun fühlte er sich wie eine Sehenswürdigkeit - wie ein Objekt.

Die ersten paar weiteren Wichtel erhoben sich schon, da sprach Namjoon ein Machtwort aus. "Wir wollen Liebe und den Zauber von Weihnachten in der Welt verbreiten. Sieht der Junge so aus, als würde er sich über euer Starren freuen?" Leises verneinendes Gemurmel. "Dann setzt euch bitte wieder hin und tut Gutes. Gilbi!"

Der Wichtel zuckte zusammen, warf Jeongguk einen letzten Blick zu und widmete sich dann, wie alle anderen Wichtel, wieder seinem Geschenk. Namjoon legte eine Hand an Jeongguks Rücken - oh, der Wichtel hatte große Hände, fiel dem Jungen da auf - und geleitete ihn etwas abseits. Von den anderen zwei Menschen keine Spur, aber darum würde sich Namjoon nachher kümmern.

"Alles ok?", fragte er den Jungen leicht besorgt.

"Hmm, war gerade nur etwas überfordert", antwortete Jeongguk ehrlich, der sich inzwischen von seiner Erkenntnis erholt hatte. "Du hast hier 'ne ziemliche Macht. Um auf meine Frage vom Anfang zurückzukommen: Herrscht hier 'ne Arbeitshierarchie?"

Namjoon musste sich ein Lachen unterdrücken, so plötzlich kam die Frage nach Jeongguks kleinem Egoeinbruch. "Nein, ich genieße nur den Respekt vieler, so wie sie meinen genießen. Das hier ist gar nicht so ein kapitalistischer Scheißdreck, nicht wahr?" Herausfordernd zog er die Augenbrauen hoch.

"Hmm", Jeongguk zuckte lediglich mit den Schultern, "darüber habe ich mir noch kein abschließendes Urteil gemacht."

Und wider seines Erwartens kroch ein unglaublich attraktives, wissendes Grinsen auf Namjoons Lippen. Er wusste, dass Jeongguk nur bullshit von sich gab, aber diesmal spielte er mit. Er stieg in Jeongguks Spiel ein - nur ob sie auf dasselbe Ziel hinausspielten oder sich lediglich beide ihres Tanzes bewusst waren?

Jeongguk wusste in dem Moment, als er Namjoons Grübchen erblickte, dass er jetzt einen Wunsch hatte - um diesen zu erfüllen, brauchte es ausgeklügelte Züge.


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