Moonshadow

By JasminBennet

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River kennt das Leben in Rudeln, die Menschlichkeit als Schwäche ansehen und ihre animalische Seite zelebrier... More

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Epilog | Nikan

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By JasminBennet

Noch immer liege ich wach in meinem Bett. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich den halben Tag verschlafen habe, aber ebenso wahrscheinlich liegt es an den jüngsten Ereignissen. Besonders der knappe Wortwechsel mit dem Jungen in dem Keller unten. Atlas. Der Junge, der mich angegriffen hat. Noch immer weiß ich nicht, wie ich mich deswegen fühlen soll. Keine Ahnung, wie ich das beschreiben soll, doch der Angriff fühlt sich unwirklich an. Nicht einmal Schmerzen habe ich an meinen zerschundenen Körperstellen, die mich an die Tat erinnern würden. Lediglich ein unangenehmes Ziehen oder der juckende Verband, erinnern mich daran, dass überhaupt etwas passiert ist.
Das schwache Mondlicht scheint durch mein offenes Fenster und wirft Schatten in das dunkle Zimmer. Ich drehe mich auf die Seite, um eine bequemere Position einzunehmen.
Nach dem ersten Gespräch mit Atlas ist Nikan still geworden. Er hat mit niemandem geredet und sich dann dazu bereit erklärt die nächsten Stunden die Grenzen zu bewachen. Aber er ist immer noch nicht zurückgekehrt. Das müsste nun sieben Stunden her sein. Die halbe Nacht ist bereits verstrichen, im Haus ist es Still und meine Gedanken wollen nicht aufhören mich jede einzelne Sekunde des vergangenen Tages erneut erleben zu lassen. Auf der Suche nach einem Detail, einer Begründung oder irgendetwas, dass es realistischer macht. Es ist nicht greifbar für mich. Wie konnte ich überhaupt so unvorsichtig sein? Ich habe mich von einem jungen Wolf angreifen lassen. Nicht einen Augenblick war ich wachsam gewesen, obwohl ich wusste, dass ich auf einem Gelände gelaufen bin, dass ich nicht kenne. Meine Instinkte hätten mir signalisieren müssen, vorsichtig zu sein. Wo waren meine Instinkte?

Als das Knarren der Treppenstufen ertönt, horche ich auf und versuche herauszufinden, wer den Gang entlang läuft. Nikan. Es ist ganz unverkennbar sein Herzschlag, sein Geruch und die Anziehung unserer Seelen. Doch bevor ich aufstehen kann, um zu ihm zu gehen, höre ich schon wie sich die Badezimmertür schließt und die Dusche angestellt wird.
Also warte ich.
Ich werfe meine Bettdecke zurück, steige aus dem Bett und berühre mit meinen nackten Füßen den Dielenboden. Vor dem Fenster bleibe ich stehen, der Traumfänger dreht sich leicht im Wind und ich blicke durch das schwache Mondlicht in den düsteren Wald. Ich lausche den Geräuschen der Nacht, doch konzentriere mich viel mehr auf die Geräusche aus dem Zimmer gegenüber. Ich möchte mit Nikan reden und nicht verpassen, wenn er in seinem Zimmer verschwindet, denn ich weiß nicht, ob ich dann noch den Mut besitze, meine Bitte in die Tat umzusetzen. Lächerlich, dass ich überhaupt darüber nachdenke. Ich bin seine Gefährtin und sollte nicht beschämt sein, bei den Gedanken mich nach seiner Nähe zu sehnen.
Als das rauschende Wasser nicht mehr zu hören ist, bewege ich mich auf leisen Solen zur Tür und öffne sie im gleichen Moment, wie auch Nikan die Badezimmertür öffnet. Bei seinem Anblick bleibt mir glatt meine Frage im Hals stecken. Nackt, nur mit einem dunkelgrauen Handtuch um die Hüfte gewickelt, steht er mir gegenüber und durch das gedimmte Licht aus dem Gang zwischen uns, kann ich noch einzelne Wassertropfen auf seiner bronzefarbenen Haut ausmachen.
“Du bist noch wach“, stellt er fest, fährt sich mit der Hand durch sein noch feuchtes schwarzes Haar und schließt anschließend die Tür hinter sich.
Er betrachtet nun auch mich eindringlicher und scheint auf eine Antwort zu warten, die ich ihm gebe, als ich meine Stimme wiederfinde: “Ich habe heute schon zu viel geschlafen. Außerdem habe ich gewartet bis du von der Patrouille zurück bist.“
“Auf mich?“
“Ja, ich wollte dich fragen, ob du Lust hast die Nacht bei mir zu verbringen.“ Meine Worte verlassen nur leise meinen Mund und ich wage es kaum Nikan in die Augen zu schauen, doch entgegen meiner Erwartungen, macht er sich nicht lustig, macht keine herausfordernde Bemerkung oder zeigt auch nur den Hauch von Freude. Nein, stattdessen ist sein Blick undurchdringlich und er antwortet: “Warte kurz. Ich ziehe mir schnell was über“, und dann verschwindet er in seinen Zimmer und bevor ich mir Gedanken über unseren kurzen Wortwechsel machen kann, steht er auch schon voll bekleidet vor mir. Das graue Handtuch hat er gegen eine schwarze Jogginghose und ein dunkelgrünes T-Shirt gewechselt.
Als wir mein Zimmer betreten, macht sich Nikan schon auf den Weg zu meinem Lesesessel, in dem ich seit meiner Ankunft hier kein einziges mal gesessen habe, doch ich halte ihn auf.
“Du kannst dich neben mich legen.“ Meine Stimme hat wieder mehr an Kraft gewonnen und auch Nikan zeigt nun den Hauch einer Reaktion. Zuerst kann ich die Überraschung erkennen, seine Augenbrauen habe sich leicht gehoben, doch dann ziert ein winziges Lächeln seine Mundwinkel und er steuert das Bett an.
Ich liege bereits unter der Decke als er sich links neben mich legt, dort wo meine Schulter nicht verletzt ist, und ich ihm anbiete, sich mit mir unter die Decke zu legen.
“Du bist so großzügig heute“, scherzt er, doch ich kann einen bitteren Ton heraushören. Meine Zurückweisungen haben wohl einen tieferen Eindruck hinterlassen, als ich angenommen hatte.
Aber ich lasse seine Worte unkommentiert und drehe mich auf die Seite, um Nikan in die Augen zu sehen. Unsere Körper berühren sich nicht, doch bereits jetzt herrscht unter der Decke eine solche Hitze, dass mir der Schweiß im Nacken steht.
“Es tut mir leid“, gestehe ich nach einigen Momenten der Stille, in denen meine blauen Augen seine braunen gemustert haben, unfähig mich diesen verzehrenden Blicken zu entreißen.
“Was tut dir leid?“, möchte Nikan sichtlich verwirrt wissen und richtet sich ein wenig auf. Ich hingegen lege mich wieder auf den Rücken, weil ich ihm nicht beschämt ins Gesicht blicken kann.
“Dass ich nicht aufmerksam genug war. Dass ich mich nicht gewehrt habe. Dass es überhaupt passiert ist.“ Und da ist es. Dieses Gefühl, dass ich die ganze Zeit nicht greifen konnte. Schuld. Nicht Schmerz, nicht Wut und auch nicht Angst. Schuld.
“Das glaubst du doch nicht wirklich? River? Das war absolut nicht deine Schuld!“
Ich kann seinen Blick auf mir spüren, doch ich schaffe es nicht ihn zu erwidern.
“River, sieh mich an“, bittet Nikan, legt mir eine Hand an die Wange und sein Kopf erscheint über mir, nachdem ich mich noch immer weigere ihn anzuschauen. “Das. War. Nicht. Deine. Schuld. Verstanden?“
“Es ist egal, wie oft du das wiederholst. Ich weiß, dass es meine Schuld ist. So wie ich aufgewachsen bin, habe ich gelernt den Wolf in mir stets mehr Platz einzuräumen. Ich habe gelernt meinen Instinkten zu vertrauen und teilweise Tage lang als Tier im Wald verbracht. Wir haben gelernt zu kämpfen und der Hierarchie zu folgen. Man hat uns beigebracht, dass der menschliche Teil in uns schwach ist und uns verwundbar macht. Ich habe Jahre lang nach diesen Regeln gelebt und nachdem ich mit Mara bei Silver gelandet bin, habe ich gesehen, dass es Schwachsinn war zu glauben, der Mensch in uns macht uns schwach. Ich habe gesehen, dass der menschliche Teil uns Freiheit schenkt. Die Freiheit zu tun, was wir wollen. Doch jetzt, jetzt war ich schwach. In den vergangenen zwei Jahren habe ich verlernt wie man kämpft, wie man wachsam ist und wie stark ich eigentlich bin. Ich habe nicht aufgepasst und wurde angegriffen. Dem Jungen kann ich keine Vorwürfe machen. Er wollte nichts böses. Aber ich? Ich habe mich nicht einmal gewehrt! Ich war schwach und habe euch allen Sorgen bereitet und was weiß ich nicht, was für Konsequenzen noch auf uns zukommen werden, weil ich so unachtsam war. Und du? Du hast gelitten. Du leidest immer noch. Ich kann es spüren. Den Schmerz den ich dir bereitet habe. Es tut mir so leid, Nikan.“
Es war töricht zu glauben, dass das alles spurlos an mir vorbei geht. Wie konnte ich nur so naiv sein? War doch klar, dass ich irgendwann zusammenbrechen würde.
Dass ich angefangen habe zu weinen ist mir gar nicht aufgefallen. Erst jetzt, wo mir Nikan die Tränen sanft von der Wange streift, realisiere ich, was ich ihm da gestanden habe. Die Schrecken meiner Vergangenheit. Nicht alles, aber erneut ein Stück mehr und es ist auch das erste Mal, dass ich realisiere, wie sehr mich meine Vergangenheit immer noch beschäftigt. Die Gewalt, der Missbrauch, die Kälte, der Verlust.
“Es war nicht deine Schuld“, flüstert mir Nikan mit rauer Stimme zu und als ich schon widersprechen möchte, ergänzt er: “Es war nicht deine Schuld und ich werde dir das so oft sagen, bis du es selbst glaubst.“ Seine braunen Augen verweilen einen Moment auf meinem Gesicht, bevor er sich zu mir herunter lehnt und beginnt Küsse auf meine Wangen zu verteilen, überall dort, wo sich eben noch Tränen befunden haben. Diese Geste sorgt dafür dass sich doch tatsächlich Licht in mir ausbreitet und die dunklen Gedanken und Erinnerungen von eben vertreibt.
Ein Kuss, ein Funken.
Zehn Küsse, ein ganzes Feuer.
Und er hat bisher nur meine Wangen geküsst. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was es in mir auslöst, wenn wir uns richtig küssen, wenn ich ihn berühre, wenn er mich markiert. . .
Diese Gedanken kommen plötzlich und so erschreckend es sich anfühlt, glaube ich meine Zukunft vor mir zu sehen. Nikan. Der Mann, der mein Gefährte ist. Mein Gefährte. Es fühlt sich ungewohnt an, diese Dinge wahrhaftig zu glauben. Bisher wusste ich es. Ich wusste, was es bedeutet von dem ersten Moment an, als ich ihn wütend aus Silvers Büro habe stürmen sehen, doch nun glaube ich es. Ich sehe es vor mir. Ich kann es mir vorstellen, wie es ist ein Leben an seiner Seite zu führen. Mit ihm zu führen.
Sanft lege ich meine Hand auf seine, die noch immer an meinem Kiefer ruht und sorge dafür, dass Nikan seine Küsse unterbricht. Er entfernt sich wieder ein wenig, doch nur so weit, dass er mir in die Augen schauen kann und da kann ich es erkennen. Die Gefühle, die Liebe, die er für mich empfindet. Es wird noch eine Weile dauern bis ich vollends seine Gefühle erwidern kann, doch schon jetzt besitzt das Band unserer Seelen eine solche Energie, die es mir unmöglich macht, mich je wieder von ihm trennen zu wollen.
Wie erstaunlich es doch ist, dass die Vergangenheit und Zukunft so nah beieinander liegen. Eben noch habe ich meinen alten Leben hinterher geweint, sowohl das im Redbone Rudel als auch das im Williams Rudel, doch genau hier liegt meine Zukunft.
Weil ich auf Nikans fragenden Blick nichts sagen kann, weil mir dafür noch die Worte fehlen, drücke ich ihn auf die Matraze, hebe seinen Arm, platziere ihn vorsichtig um mich und kuschel mich an seine Brust. Für einen Moment scheint Nikans Herzschlag ausgesetzt zu haben, doch als es rasend gegen seinen Brustkorb springt, weiß ich genau, dass er es verstanden hat.
Sein Griff um mich wird fester, dennoch darauf bedacht meine Verletzungen am Oberkörper nicht zu berühren und er drückt mir noch einen allerletzten Kuss auf die Stirn, bevor ich mit dem Ton des gleichmäßigen Schlagen seines Herzens einschlafe.

In dieser Nacht habe ich von Hoffnung geträumt. Ein Traum, der das Paradies nicht annähernd beschreiben könnte. Ein Traum, der mir das Herz vor Glückseligkeit schwer werden lässt. Ein Traum, der mir das Versprechen auf eine Zukunft gibt.

Sachte kreisende Bewegungen auf meinem Rücken holen mich aus meinem Schlaf. Ein paar Mal blinzel ich, doch die Sonne scheint grell durch mein immer noch offen stehendes Fenster, dass ich mir gar nicht die Mühe mache, meine Augen weiter zu beanspruchen. Der Geruch von Regen, Wald und Seife steigt mir in die Nase. Nikan. Ich weiß genau, wessen Brust die Nacht mein Kissen war. Eine der besten und gemütlichsten Nächte, die ich je hatte. Es würde mir nicht schwerfallen von nun an jede Nacht so zu verbringen. In Nikans Armen, den Kopf auf seine Brust gebettet und mit streichelnden Bewegungen auf dem Rücken geweckt werden. Auf das Gefühlschaos davor kann ich jedoch gut verzichten. Oh Götter, ich habe Nikan einiges zu erklären. Ich denke es wird Zeit mein Schweigen über die Vergangenheit zu brechen. Allein der Gedanke alles noch einmal erleben zu müssen verursacht mir Bauchschmerzen, doch ich werde das Gefühl nicht los, dass ich mich erst auf meine Zukunft einlassen kann, wenn ich die Vergangenheit verarbeitet habe.
“Guten Morgen“, sagt Nikan als er merkt, dass ich wach bin und drückt mir einen Kuss auf den Scheitel.
“Guten Morgen“, nuschel ich verschlafen und winde mich aus seinem festen Griff, um meine Glieder zu strecken. Habe ich mich die ganze Nacht nicht bewegt? Meine steifen Muskeln deuten jedenfalls darauf hin.
Als ich es endlich schaffe meine Augen offen zu halten, blickt mir ein glücklicher Nikan mit verwuschelten Haaren entgegen.
“Schnarche ich?“, möchte ich wissen, denn sein Gesichtsausdruck scheint mir fast schon zu glücklich.
“Nein, aber du erzählst im Schlaf.“ Ein fettes Grinsen breitet sich in seinem Gesicht aus und ich versuche erschrocken meine Erinnerungen an den Traum durchzugehen.
“Was habe ich gesagt?“ Hoffentlich nichts peinliches. Bitte lass es nicht unangenehm sein.
“Nicht viel, dass ich verstanden habe. Aber es könnte sein, das ein- zweimal mein Name gefallen ist.“ Sein Grinsen wächst ins Unermessliche und es dauert einen Augenblick bis ich realisiere, dass ich nichts peinliches oder unangenehmes von mir gegeben habe. Erleichtert stöhne ich auf und kuschel mich wieder an seine Brust. Ich mache mir keine Mühe zu verbergen, wie sehr ich es genieße.
“Du hast so tief geschlafen, dass dich glaube ich nichts hätte wecken können. Nicht einmal mein Schnarchen und glaube mir, ich schnarche wirklich“, gesteht er und ich muss doch tatsächlich kichern. “Manchmal zumindest“, ergänzt er noch, bevor seine Hand in meine Haare wandert und beginnt mit den schwarzen langen Strähnen zu spielen.

Fast wäre ich wieder eingeschlafen, doch laute Schritte hallen durch den Flur. Eine Tür wird aufgerissen, Nikans Tür, doch Nikan befindet sich nicht in seinem Zimmer, denn er liegt hier bei mir im Bett. Dann herrscht ein paar Sekunden stille. Vermutlich ist derjenige nicht sicher, ob er auch meine Zimmertür öffnen soll. Doch Nikan nimmt ihm die Entscheidung ab, indem er durch die Tür ruft: “Komm rein!“
Sofort wird die Tür aufgerissen und ein abgehetzter Mato steht in der Tür. Als er Nikan und mich gemeinsam im Bett entdeckt, scheint er kurz vergessen zu haben, warum er überhaupt hier ist, doch dann fasst er sich wieder und sagt: “Henry ist auf dem Weg.“
Tja, das war es dann wohl mit dem glücklichen Morgen.

Nikan schält sich aus der Decke und erst da wird mir bewusst, was für eine Hitze sein Körper ausstrahlt. Mir wird nicht direkt kalt, doch der plötzliche Temperaturunterschied versetzt mich in einen kleinen Schock.
“Du bleibst am besten hier“, überlegt er und schaut mich nachdenklich an.
“Gemeinsam. Schon vergessen?“ Ich erinnere ihn an seine Worte, als wir uns erst ein paar Stunden kannten. Er wollte, dass wir das gemeinsam machen und genau das habe ich vor.
Auch ich schaffe es, aus dem gemütlichen warmen Bett aufzustehen und bleibe vor Nikan stehen. Er beobachtet mich. Überlegt. Irgendetwas möchte er sagen, doch spricht es nicht aus.
“Wie lange noch bis er hier ist?“, frage ich also und suche mir schon eine lockere Jeans aus der Komode neben mir, die ich anschließend gegen meine Leggings tausche. Die ganze Zeit von Nikans dunklen Augen beobachtet.
“Er wird als Mensch durch unser Gebiet streifen, damit er sich nicht verwundbar macht, wenn er sich verwandeln muss. Es wird also noch ein paar Minuten dauern“, klärt er mich auf.
Okay, das ist ausreichend Zeit, um uns noch ein bisschen frisch zu machen. Nikan ziehe ich am Handgelenk mit mir ins Bad und stumm putzen wir uns die Zähne.

Henry. Ich habe schon einiges über ihn gehört. Er hat ein großes Rudel und wie Nikan mir berichtet hat, möchte er sein Gebiet erweitern. Ausgerechnet auf das Land, dass die Jungs für sich beansprucht haben.

Als wir fast fertig sind, merke ich wie sich eine Gänsehaut auf meinen Rücken ausbreitet und ein fremder Geruch meine Nase erreicht. Er ist also da. Ein Blick in Nikans Gesicht verrät mir, dass auch er es gespürt hat.
Nikan steht bereits wartend im Türrahmen als ich mir noch ein letztes mal das Gesicht wasche und meine Haare mit den Händen durchkämme. Für mehr haben wir jetzt keine Zeit.
Hinter Nikans breiten Rücken gehe ich die Treppe hinunter und folge ihm in den Konferenzraum. Bis auf Ian, Jesper und Noah sind alle anwesend. Vermutlich bewachen sie gerade die Grenzen unseres Territoriums. Aber am Ende des Tisches sitzt ein fremder Mann. Blonde Locken, grüne Augen und ein leicht grau werdender Dreitagebart. Henry.
“Kommen wir gleich zur Sache.“ Seine Augen kleben an Nikan. Die anderen im Raum beachtet er gar nicht. “Du hast einen meiner Rudelmitglieder. Ich bin hier um ihn mit nach Hause zu nehmen.“ Seine Stimme klingt rau und hätte fast etwas beruhigendes, wenn dieser autoritäre Ton nicht die Oberhand gewinnen würde. Gekleidet ist er in einer simplen Jeans und einem dunkelroten T-Shirt. Nichts an seiner äußeren Erscheinung schreit nach Alpha. Nicht einmal seine Körperhaltung signalisiert seine Machtposition. Ganz im Gegenteil, er sieht gleichgültig aus. Ist er wirklich hier, weil er Atlas mit nach Hause nehmen möchte oder ist er hier, weil es das ist, was man von einem Alpha erwartet?
“Es gab einen Angriff auf meinem Gebiet. Meine Gefährtin wurde dabei verletzt. Ich gebe dir deinen Welpen nicht so einfach wieder“, erklärt Nikan seine Absichten und positioniert sich mit verschränkten Armen auf der anderen Tischseite.
Henry entgegnet seiner Aussage mit einem breiten Grinsen, aber nicht eins von dieser Sorte, das Freundlichkeit ausstrahlt. Nein, sein Grinsen ist scharf wie Jespers Küchenmesser.
“Mir ist schon zu Ohren gekommen, dass ihr Zuwachs bekommen habt.“ Nun ist auch das erste Mal, dass sein Blick von Nikan weicht und auf mir landet, kurz zu Olivia schweift und dann wieder auf mir verweilt. Mein Blick ist ebenfalls starr. Die Macht, die er ausstrahlt und mit der er versucht alle hier im Raum zu unterwerfen, erreicht mich nicht einmal. Vermutlich merkt er es selbst gar nicht. Es liegt in seiner Natur und geschieht ganz automatisch. Wie lange er wohl schon der Alpha seines Rudels ist? Bekommt man da überhaupt noch mit, dass nicht jeder unterwürfig seinen Kopf neigt?
“Warum wusste dann eure Grenzpatrouille nicht bescheid?“, frage ich und versuche herausfordernd eine Augenbraue zu heben. Ob es mir gelingt weiß ich nicht.
“Es tut mir leid, dass du verletzt wurdest. Ich hoffe wir können es unter einem dummen Versehen abspeichern. Niemand wollte dir böswillig Leid zufügen.“ Henrys Worte klingen nun sanfter, doch seine Mine bleibt eisern. Ich kann nicht einschätzen, ob er das sagt, weil es vernünftig ist oder weil er es auch wirklich so meint.
“Du bekommst deinen Jungen nicht so einfach wieder“, unterbricht Nikan das Gespräch und zieht so auch Henrys Aufmerksamkeit wieder auf sich.
“Also, was verlangst du? Sollen deine Gefährtin und Atlas die Angelegenheit in einem Zweikampf austragen?“
“Nein, das kommt nicht in Frage. Ich verlange von dir, dich von unserem Revier fernzuhalten. Wir legen das Kriegsbeil nieder. Du akzeptierst, dass dieses Land uns gehört und bekommst den Jungen wieder.“ Nikans Stimme klingt nun ebenfalls rau und sprüht vor Dominanz. Eine Seite an ihm, die ich so noch nie zu Gesicht bekommen habe. Aber er hat jedes Recht dazu seine Autorität zu benutzen. Ein fremder Alpha befindet sich unter seinem Rudel und er ist ganz allein gekommen. Ein Zeichen von Spott, da Henry weiß, dass ihm hier nichts geschehen wird. Wenn Henry auf diesem Land angegriffen werden würde, müsste unser Rudel gegen seines Kämpfen und das würde niemand von uns überleben.
“Nikan, du weißt, dass ich das nicht machen kann. Es mag sein, dass du deine Gefährtin gefunden hast und glaubst die Zukunft deines Rudels gesichert zu haben. Aber ich sehe hier keine Welpen rumrennen und bis es so weit ist kann noch eine Menge passieren. Sie ist noch nicht mal markiert! Eure Seelenverbindung ist nichts wert und eure Träume sind nichts als ein Haufen Luft.“ Henrys Worte hallen in dem vollen Raum nach. Keiner wagt es sich zu rühren, doch die Luft ist nun geladen. Ein Funken und ich könnte schwören, dass das Haus in die Luft fliegt.
Unsere Seelenverbindung ist nichts wert. Stimmt das? Nein, ich lasse nicht zu, dass seine Worte mich verletzen. Warum stört es mich überhaupt? Er hat keine Ahnung, was ich für Nikan empfinde. Nikan hat es auch nicht. Bei den Göttern! Ich bin mir nicht einmal selbst sicher, was ich empfinde. Liebe ich ihn? Ja. Aber liebe ich ihn wegen der Verbindung unserer Seelen oder gerade deshalb? Ich liebe jeden einzelnen dieses Rudels. In den wenigen Wochen, die ich nun hier wohne sind mir alle ans Herz gewachsen. Mit bloßen Händen würde ich jeden einzelnen von ihnen verteidigen und beschützen. Erst jetzt realisiere ich, dass ich froh bin, dass ich diejenige war, die verletzt wurde und keiner der anderen. Unvorstellbar wie sehr mich die Sorgen zerfressen hätten, wenn allein der Gedanke daran schon schmerzt. Ging es ihnen auch so? Haben sie sich auch so gefühlt? Wie traumatisch es für sie gewesen sein muss mich blutend und verwundet auf dem Tisch liegen zu sehen. Ich war bewusstlos und hatte keine Schmerzen. Aber sie? Sie haben alles gesehen.
“Raus hier. Verschwinde aus meinem Revier.“ Nikans Stimme klingt gefährlich ruhig, aber sein Blut kocht. Ich kann spüren, wie viel Energie es ihm kostet seine Verwandlung zurück zu halten und nicht über den Tisch zu springen, um Henrys Kehle herauszureißen.
Beruhigend und unterstützend lege ich meine Hand auf seine verkrampfte Faust und versuche zwischen seinen Fingern hindurch zu schlüpfen, bis er auch seine Hand um meine schließt und fest zudrückt. Nicht so sehr, dass es schmerzen würde, aber fest genug, dass es unangenehm wird. Aber ich wehre mich nicht. Ich drücke ebenfalls fester und versuche ihm so zu signalisieren, dass ich bei ihm bin, dass wir das gemeinsam durchstehen.
“Vorerst! Aber lass dir eins gesagt sein Nikan, wenn Atlas auch nur ein Haar gekrümmt wird habe ich jedes Recht dieses Land für mich zu beanspruchen und euch Greybloods in Stücke zu zerreißen!“ Er spuckt die Worte nur so aus und in seinen grünen Augen kann ich Gier erkennen, die Gier nach Macht. Atlas ist ihm vollkommen egal. Er wartet nur auf einen Grund Nikan zu vernichten und seine Macht zu stärken.
“Lass dir eins gesagt sein. Ich habe bereits jedes Recht dich un deine Rudel in die Abgründe der dunklen Götter zu schicken. Meine Gefährtin wurde bei einem Angriff deines Rudelmitglieds verletzt. Das Recht ist ganz klar auf meiner Seite. Ich möchte nur kein Blut vergießen. So sind wir nicht. Ich gebe dir ein paar Tage Bedenkzeit und jetzt verschwinde!“
Und mit einem letzten feindseligen Blick auf mich, erhebt sich Henry von dem Stuhl und verlässt das Haus.
“Das ist doch besser gelaufen als gedacht“, bringt Mato hervor und ich muss ihn anschauen, um mich zu vergewissern, dass er das nicht als Scherz gemeint hat. Wie sind denn bisherige Verhandlungen mit Henry abgelaufen?
“Es sind sonst eindeutig mehr Beleidigungen gewechselt worden“, antwortet Nikan, als hätte er meine Gedanken gelesen.
Nun fällt mein Blick wieder auf ihn. Er sieht erschöpft aus und das obwohl wir eine solche erholsame Nacht hatten. Unsere Hände sind noch immer miteinander verschlungen, doch der Druck hat nachgelassen. Als er sich aus unserer Verbindung löst, möchte ich instinktiv wieder nach seiner Hand greifen, doch dann legen sich seine Arme um mich und ich werde an seine Brust gezogen. Ich spüre, dass es genau das ist, was er jetzt braucht und protestiere daher auch nicht, weil eine so offene Zuneigungsbekundung neu für uns ist. Aber wir haben einiges durchgemacht und im Raum befindet sich unsere Familie. Es gibt absolut keine Ausrede mehr für mich diese Gefühle zu ignorieren.
“Wir müssen einen Krieg verhindern“, meldet sich Clayton zu Wort und ich drehe mich in Nikans Armen, um den anderen ins Gesicht schauen zu können, von denen keiner unserer Umarmung merkwürdig findet. Warum auch? Wir sind Gefährten. Die Einzige, die es als ungewohnt und neu empfindet bin ich.
“Wird es nicht. Silver wird es nicht so weit kommen lassen.“ Olivias Worte ziehen die ganze Aufmerksamkeit auf meine beste Freundin.
“Silver?“, frage ich überrascht nach und lehne meinen Rücken etwas näher an Nikans Brust. Seine Arme haben sich um meinen Bauch geschlungen und auch ihm scheint unser Körperkontakt unter die Haut zu gehen. Es ist anders als noch eben im Bett. Jetzt ist die Luft elektrisiert und geladen von dem kurzen Gespräch. Ein Prickeln gleitet unter meine Haut und sammelt sich in meinem Bauch, dort wo Nikans Hände über meinem weißen T-Shirt liegen. Ich scheine empfindlicher auf seine Berührungen zu reagieren. Es fühlt sich intensiver an als zuvor. Nichts im Vergleich dazu, wenn er meine Hand berührt oder meinen Nacken gestreichelt hat. Was passiert mit mir? Ist es, weil ich der Verbindung zwischen uns nun offener gegenüber stehe? So einfach kann es doch gar nicht sein. Meine ganze Haut steht in Flammen und ich kann mich nicht entscheiden, ob es besser ist etwas Abstand zu gewinnen oder mehr von seinen Berührungen zu verlangen.
“Versuch wenigstens dein Verlangen zu unterdrücken. So gerne ich jetzt jeden Zentimeter deiner Haut küssen möchte, müssen wir erst das hier regeln. Aber später, versprochen“, flüstert mir Nikan ins Ohr, doch sein warmer Atem macht es mir nicht einfacher diese Gefühle zurück zu drängen. Schlimm genug, dass er es überhaupt mitbekommen hat.
Zum Glück haben die anderen nichts mitbekommen, denn die schauen immer noch ganz gebannt auf Olivia nachdem Clayton eine Antwort verlangt hat, was Silver mit unserem Problem zu tun hat.
“Silver weiß bescheid. Sie wird zwei Vermittler schicken, damit wir ein Blutvergießen verhindern können“, erklärt sie knapp und streicht eine lila Haarsträhne hinter ihr Ohr, die sich aus ihrem Zopf gelöst hat.
“Woher weiß Silver von den jüngsten Entwicklungen?“, möchte Nikan wissen. Das brummen seiner tiefen Stimme geht direkt in meinem Körper über und erneut flammt das Feuer unter meiner Haut auf und bahnt sich einen Weg meine Wirbelsäule hinauf.
“Mara wird es ihr berichtet haben.“ Oh Verdammt, Mara! Die habe ich vollkommen vergessen! “River und Mara telefonieren jeden Tag und nach dem Angriff hat River noch nicht mit ihr gesprochen. Sie hat sich Sorgen gemacht und mich kontaktiert. Hätte ich sie anlügen sollen?“
“Nein, es ist in Ordnung, dass du ihr alles erzählt hast“, beruhigt Nikan sie und beginnt mit seinem Daumen über meinen Bauch zu streicheln. Doch ich unterbinde dies sofort mit meiner Hand, die ich über seine lege und ihm damit zu verstehen gebe, dass es mir so noch schwerer fällt mein Verlangen zu unterdrücken. Als hätte man einen Schalter bei mir umgelegt, steigen diese Gefühle nun in mir auf und drohen mich zu überrollen.
“Vielleicht ist es gut, wenn sich Silver einmischt. Darauf haben wir die ganze Zeit gewartet. Ihre Unterstützung war Teil der Allianz, die wir eingegangen sind. Tragisch nur, dass erst jemand wirklich verletzt werden musste bis etwas passiert“, bringt Clayton mürrisch hervor.

*

Mein erster Versuch eine Karte für Moonshadow anzufertigen. Größenverhältnisse sollten nicht so ernst genommen werden. ;)

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