Kapitel 10

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Die Menschheit
ist zu weit voraus gegangen, um sich zurückzuwenden
und bewegt sich zu rasch, um anzuhalten.
(Winston Churchill)

Falk de Villiers überreichte Gideon einen cremefarbenen Umschlag, der mit rotem Wachs versiegelt war. „Darin steht alles“, sagte er geheimnisvoll. „Ihr werdet nur Elaine Burghley treffen. Es reicht, wenn sie dieser Brief erreicht. Sie wird Lancelot de Villiers Bescheid sagen. Alles, was sie wissen müssen, steht hier drin. Alles klar?“
Ich versuchte zu Nicken, aber der steife Kragen war mir dabei im Weg.
Auch Gideon schien nicht gerade glücklich über sein Outfit zu sein.
Wir befanden uns im Keller irgendeines alten Gebäudes in Westminster. So genau hatte ich nicht aufgepasst. Außer uns waren noch Falk de Villiers, Mr George und Dr White hier versammelt. Letzterer hatte schon eine große Tasche mit medizinischem Werkzeug bereitgestellt. Natürlich nur für den Notfall. Dafür hatte man Gideon auch noch einen Degen mitgegeben.
„Ihr werdet um fünf Uhr nachmittags am 25. Mai 1579 landen. Von da an habt ihr zwei Stunden Zeit. Ihr müsst zwar nur den Brief übergeben, aber wenn ihr schon so hübsch angezogen seid, könnt ihr noch ein Weilchen bleiben“, erklärte Mr George. „Elaine Burghley sollte sich im Salon im Erdgeschoss befinden. Dazu geht ihr einfach die Treppe nach oben, links den Gang entlang und die zweite Tür rechts.“
„Warum können wir nicht gleich von dort aus springen?“, fragte ich.
„Weil deine Vorfahrin einen ziemlichen Schrecken bekommen würden, wenn ihr so plötzlich auftaucht“, sagte Falk mit einem kleinen Lächeln. Dabei klang er, als würde er mit einem Kindergartenkind sprechen. „Außerdem ist dieser Raum momentan bewohnt.“
„Bereit?“, fragte Gideon.
Ich seufzte und ging auf den Chronografen zu. „Bereit, wenn du es bist.“
Den kleinen Stich in meinem Zeigefinger spürte ich kaum, als mich ein Strudel aus rubinrotem Licht davon trug.
Der Raum, in dem ich landete, war stockdunkel.
„Gideon?“, flüsterte ich.
„Ja, hier“, sagte er und ich wusste, dass er links neben mir stehen musste.
„Kannst du irgendwie Licht machen?“, fragte ich.
„Nein. Aber hier muss irgendwo eine Tür sein.“ Ich bemerkte, dass er sich von mir entfernte. Dann ging plötzlich die Tür auf. Ich musste ein paar Mal blinzeln, bis ich mich an das helle Tageslicht gewöhnt hatte.
Gideon streckte mir seine Hand entgegen. „Komm.“
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Hier unten wimmelte es bestimmt nur so von Spinnen und Ratten.
Ich musste meinen Rock mit beiden Händen hochraffen, um über die Treppen laufen zu können.
„Warum müssen wir uns so einen Aufwand mit diesen Kostümen machen? Es sieht uns doch sowieso nur Elaine Burghley und die weiß sowieso, dass wir Zeitreisende sind.“
„Es geht um die Authenzität.“ Er seufzte. „Glaub mir, ich bin auch nicht glücklich darüber.“
„Madame Rossini hätte wenigstens diese dämlichen Krägen weglassen können.“
„Diese Krägen werden Krause oder Kröse genannt. Im Gegensatz zu späteren Modellen, sind diese hier noch recht klein. Es gab Krausen, die so weit waren, dass man nicht mal mehr seine eigenen Schuhe sah, wenn man nach unten blickte.“
Auch wenn er wieder den Besserwisser raushängen ließ, fand ich das doch recht interessant.
„Oh, bevor ich’s vergesse“, sagte er. „Ich hab deine Sachen zusammengepackt. Deine Reisetasche und dein Schulrucksack liegen in meinem Auto. Du kannst es dann später mitnehmen.“
„Danke“, sagte ich. „Zu Hause ist es wieder relativ angenehm.“
„Wie geht es Charlotte?“
„Du hast sie gesehen. Sie ist total überdreht.“
„Ja. Das ist irgendwie seltsam.“
Als ich vorhin bei Madame Rossini auf diese Zeitreise vorbereitet worden war, waren Charlotte und Giordano auch da gewesen. Giordano hatte noch versucht mir so viel Wissen über das ausgehende 16. Jahrhundert einzutrichtern wie möglich, während Madame Rossini meine Haare zu winzigen Löckchen drehte und hochsteckte. Charlotte war dabei wie verrückt um mich herumgewuselt und hatte davon gequasselt, wie toll es doch sei, dass ich auf eine Mission gehen würde. Damit war sie nicht nur mir, sondern auch Giordano und der sonst so gutmütigen Madame Rossini auf den Keks gegangen.
„Wir sind da“, meinte ich, als wir vor der Tür standen.
„Bist du schon auf deine Vorfahrin gespannt?“, fragte er.
„Ja.“ Ehrlich gesagt war ich gerade ziemlich nervös.
Er klopfte.
„Tretet ein!“, rief eine helle Stimme.
Gideon öffnete die schwere Eichentür und betrat den Raum als Erstes.
Die Stimme, die uns hereingebeten hatte, gehörte zu einem jungen Mädchen in meinem Alter. Sie saß vor dem Fenster und bestickte ein Kissen. Ich wusste sofort, dass sie meine Vorfahrin Elaine Burghley sein musste. Die roten Haare, die alle in meiner Familie – außer mir – hatten waren unverkennbar. Ihre Haut wirkte fast schon durchsichtig, so blass war sie.
„Ach, Mr de Villiers, Ihr seid es wieder“, sagte sie erfreut und erhob sich. Dann machte sie einen kleinen Knicks. Ich tat es ihr gleich, obwohl es bei mir bestimmt weniger anmutig aussah, als bei ihr. Und Gideon machte eine förmliche Verbeugung.

„Es sind erst ein paar Wochen seit Eurem letzten Besuch vergangen“, fuhr sie fort. „Jedoch seht Ihr nun viel älter aus. Ich nehme an, in Eurer Zeit müssen einige Monate verstrichen sein.“
„Das trifft in der Tat zu“, antwortete Gideon.
„Was verschafft mir dieses Mal die Ehre Eures Besuches? Benötigt ihr wieder mein Blut?“, fragte sie.
„Nein. Es geht um etwas ganz anderes.“ Er überreichte ihr den versiegelten Brief von Falk. „Das hier sollte alles erklären.“
Sie nahm den Umschlag entgegen, musterte mich dann allerdings. „Ihr habt mir noch gar nicht Eure Begleitung vorgestellt“, meinte sie.
„Oh, Verzeihung“, sagte Gideon. „Das ist Gwendolyn Shepherd, der Rubin.“
„Ach, wirklich?“ Sie betrachtete mich ein wenig fasziniert. „Dann bist du eine meiner Nachkommen. Aber sagtet Ihr nicht etwas von einem anderen Mädchen, bei Eurem letzten Besuch?“
„Ja, aber dabei handelte es sich um einen Irrtum“, erklärte er.
„Soso“, meinte sie und wandte sich dann wieder dem Brief zu. „Es ist an Lancelot und mich adressiert. Lancelot ist aber nicht hier.“
„Das wissen wir“, sagte Gideon. „Wenn Ihr Ihn wieder trefft, sollt Ihr Ihm diesen Brief zeigen.“
„Ist sie etwa stumm?“, fragte Elaine mit einem Seitenblick auf mich.
„Nein“, sagte ich ein wenig irritiert. Na gut, ich hatte bis jetzt noch kein Wort gesagt.
„Sie ist noch nicht ganz mit den Sitten dieser Zeit vertraut, deswegen spreche ich für sie“, meinte Gideon.
„Natürlich. Die Weiber sollen schön brav den Mund halten, während ihre tapferen Männer das Denken für sie übernehmen.“ Sie bedachte Gideon mit einem abfälligen Grinsen und zwinkerte mir zu.
Ich kicherte. Meine Vorfahrin schien es faustdick hinter den Ohren zu haben.

Gideon räusperte sich. „Der Brief…“
„Nur keine Eile“, meinte sie und brach das Siegel.
Sie las sich den Brief aufmerksam durch und sagte dann: „Euer Großmeister will ein Treffen mit allen Zeitreisenden. Verstehe ich das richtig?“
„Ja“, sagte Gideon.
„In zwei Monaten?“
„Von Euch aus gesehen.“
„Nun gut.“ Sie legte den Brief auf einem zierlichen Tischchen ab. „Wann habt Ihr vor, wieder zu gehen?“
„Gegen sieben Uhr“, meinte Gideon.
Elaine warf einen Blick auf eine große Standuhr. „Da haben wir ja noch Zeit in Maßen. Warum wollt ihr Euch nicht setzen und ein wenig plaudern?“
„Gerne“, sagte ich, um der Unterhaltung wenigstens ein Wort beizusteuern.
Sie wies auf ein bequem aussehendes Sofa. „Mein Verlobter weilt derzeit in Amsterdam, aus geschäftlichen Gründen. Ich langweile mich hier ganz alleine. Und die Dienerschaft ist auch nicht gerade sehr unterhaltsam.“
„Ihr seid verlobt?“, fragte ich.
Sie nickte und ihre Wangen nahmen die Farbe von reifen Pfirsichen an.
„Aber, Ihr seid doch noch so jung“, bemerkte ich.
„Ganz und gar nicht“, erwiderte sie. „Siebzehn ist ein gutes Alter. Meine Freundinnen aus Kindertagen sind alle längst verheiratet.“
Ich sah sie ungläubig an. Ich war bloß ein Jahr jünger und dachte noch nicht einmal im Entferntesten ans Heiraten.
„Das ist zu dieser Zeit eben so“, murmelte Gideon zu.
„Bei Euch nicht?“, fragte Elaine und runzelte die Stirn.
„Nein“, sagte ich. „Die Meisten heiraten erst viel später oder gar nicht.“
„Gar nicht?“, fragte sie verwirrt. „Aber das ist doch gotteslästerlich! Die Ehe ist etwas Heiliges.“
„Bei uns ist sie nicht mehr ganz so heilig.“
Sie öffnete überrascht den Mund. „Was für schreckliche Zeiten das sein müssen.“
„Ich finde, jede Zeit ist auf ihre Art und Weise schrecklich. Immer gibt es irgendwo Kriege, Hungersnöte, Epidemien oder Naturkatastrophen. Egal, wie weit der Fortschritt ist“, sagte ich.
„Interessanter Standpunkt“, meinte Elaine.
„Wollen wir nicht über etwas anderes sprechen?“, fragte Gideon.
„Gerne“, sagte Elaine. „Es gibt doch gewiss erfreulichere Gesprächsthemen.“
„Wisst ihr von der Existenz der italienischen Zeitreislinie?“, wollte ich wissen.
„Eine italienische Linie? Nein, das sagt mir nichts“, meinte sie.
„Das liegt daran, dass Clara Huntington erst in etwa zwanzig Jahren geboren wird. Eure Enkelin“, sagte Gideon an Elaine gerichtet. Und an mich gewandt sagte er: „Kannst du dich nicht an den Stammbaum erinnern, den Helena uns gezeigt hat?“
„Doch“, grummelte ich. Ich hatte nun mal Schwierigkeiten, mir Zahlen zu merken.
„Meine Enkelin, sagt Ihr? Ich habe doch noch gar keine Kinder. Es ist amüsant, dass Ihr Dinge wisst, bevor sie überhaupt erst geschehen.“
„Nun, aus unserer Sicht sind sie bereits geschehen“, erklärte Gideon.
Mir fiel wieder ein, dass die ersten vier Zeitreisenden noch keinen Chronografen besaßen. „Sagt, wie oft springt Ihr in der Zeit?“, fragte ich.
Sie dachte nicht lange nach. „Zwei Mal.“
„In dieser Woche?“
„Nein, in meinem ganzen Leben.“
„Wann seid ihr das erste Mal in der Zeit gesprungen?“
Diesmal dachte sie angestrengt nach. „Das muss vor etwa einem halben Jahr gewesen sein.
Ich zog überrascht die Augenbrauen nach oben. „Zwei Mal in einem halben Jahr. Wie unfair! Wir müssen jeden Tag mit dem Chronografen elapsieren!“
„Was ist ein Chronograf, was bedeutet elapsieren und warum springt Ihr so oft in der Zeit?“, fragte sie verwirrt.
Elaine und ich sahen Gideon fragend an.
Mr Oberschlau musste darauf doch eine Antwort parat haben.
„Der Chronograf ist eine Apparatur, die verhindert, dass man unkontrolliert in der Zeit springt und ermöglicht eine genaue Bestimmung des Zeitpunkts, an dem man in der Vergangenheit landet. Elapsieren ist lediglich eine andere Bezeichnung für das kontrollierte Zeitreisen. Und warum die späteren Zeitreisenden öfter in der Zeit springen, als die früheren, weiß man nicht so genau.“
„Aha“, meinte Elaine.
Aber ich war keinen Tick schlauer geworden. Die ersten beiden Dinge wusste ich bereits und das dritte war nicht wirklich eine Antwort.
Dann riss Gideon Elaine und mich wieder aus unseren Grübeleien. „Wollt Ihr nicht etwas über die Zukunft erfahren?“
Das schien Elaine sehr zu interessieren. „Nun denn, erzählt!“

„Also auf mich hat sie einen sehr netten Eindruck gemacht.“, meinte ich, als wir im Keller auf unseren Rücksprung warteten.
„Ja. Nur leider wird sie bald sterben“, sagte Gideon.
„Was!?“, rief ich.
„Sie wird heiraten und sterben, nachdem sie eine Tochter zur Welt bringt“, erzählte er.
„Das ist ja schrecklich!“
„Ja. Bis dahin springt sie nur noch fünfzehn Mal in der Zeit.“
Plötzlich kam mir ein erschreckender Gedanke. „Wenn erst der Graf von Saint Germain den Chronografen entdeckt, wie kommen dann die nächsten beiden Zeitreisenden zu unserem Treffen?“
Gideon wollte etwas sagen, doch dann hielt er Inne und runzelte die Stirn. „Du hast Recht. Sie hatten keinen Chronografen.“
„Weiß Falk das?“, fragte ich.
„Bestimmt. Wenn sich einer mit der Geschichte der Zeitreiselinie auskennt, dann ja wohl er. Immerhin ist er der Großmeister der Loge.“
„Dann wollen wir mal hoffen, dass er einen guten Plan hat.“

„Natürlich weiß ich darüber Bescheid“, sagte Falk, als wir in der Limousine saßen, die uns wieder zurück nach Temple brachte. Ich benötigte mit meinem Kleid mal wieder mehr Platz als alle anderen. Wenigstens konnten Gideon und ich jetzt diese scheußlichen Krägen abnehmen.
„Und was hast du jetzt vor?“, fragte Gideon.
„Naja, wir…“ Er machte eine Bewegung, die Mr George, Dr White und ihn miteinschloss. „… haben gemeinsam einen Plan erstellt.“
„Und wie sieht der aus?“, fragte ich neugierig.
„Tja, wir bräuchten dazu deinen Chronografen, Gwendolyn“, sagte Mr George.
„Meinen Chronografen?“ Ich war verwirrt.
„Genau genommen, ist es nicht ihr Chronograf, Thomas“, warf Dr White ein. „Lucy und Paul haben ihn der Loge gestohlen.“
Ich verdrehte genervt die Augen. Immerhin hatten meine leiblichen Eltern gute Gründe dazu.
„Mein Daddy ist immer so nachtragend. Er vergisst solche Sachen nicht so schnell“, erklärte der Geist vom kleinen Robert, der seinem Vater wie immer nicht von der Seite wich.
„Ich verstehe nicht, wozu wir den zweiten Chronografen brauchen“, sagte Gideon nachdenklich.
„Also“, begann Falk. „Folgendes: Ihr springt zwar mit dem einen Chronografen in die Vergangenheit, nehmt aber den anderen mit. Das heißt, einer von euch Beiden hält sich daran fest. Wir werden euch direkt zu William de Villiers und Cecilia Woodville schicken und den zweiten Chronografen richtig einstellen. Ihr müsst nur dafür sorgen, dass die Beiden damit weiter in die Vergangenheit springen. Das Ganze wird nicht lange dauern, wir haben dafür fünfzehn Minuten eingeplant. Sobald William und Cecilia weg sind, schnappt ihr euch den Chronografen und wartet, bis ihr wieder zurück springt. Alles klar?“
Ich musste Falk wohl wie ein Schaf angeglotzt haben, denn er fragte: „Soll ich es dir nochmal erklären?“
„Nee, schon okay“, meinte ich nachdenklich. Ich ließ mir das Ganze nochmal durch den Kopf gehen, aber es war eben sehr verwirrend.
„Ich glaube, ich habe verstanden, worum es geht, Onkel Falk“, sagte Gideon.
„Es reicht auch, wenn Gideon den Plan kennt und Gwendolyn das tut, was er sagt“, warf Dr White ein.
Ich starrte ihn entsetzt an. Nicht zu fassen! Das war genau das, was Elaine gemeint hatte: Die Weiber sollen schön brav den Mund halten, während ihre tapferen Männer das Denken für sie übernehmen.
„Wann wird diese Mission stattfinden?“, wollte Gideon wissen.
„Nun, eigentlich könnten wir das gleich morgen Nachmittag machen“, meinte Falk. „Heute werdet ihr noch für zwei Stunden in Ruhe elapsieren.“
„In Ordnung“, sagte Gideon und ich murmelte: „Okay.“

Helena und Benjamin saßen schon im alten Alchemielabor, als wir dort ankamen.
„Wir müssen bald wieder nach Italien zurück“, erklärte Helena. „Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, um das Problem zu lösen.“
„Wozu genau braucht ihr unsere Hilfe?“, fragte ich.
Helena sah Gideon verwirrt an. „Hast du ihr denn gar nichts erzählt?“
„Naja, ich wollte ja, aber dann haben wir uns gestritten. Und dann war der Schulball und die Mission heute… Ich hatte gar keine Gelegenheit mit Gwendolyn darüber zu reden.“
Das italienische Mädchen verdrehte seufzend die Augen und wandte sich dann an mich. „Dann erkläre ich‘s: Der Graf hat eine Geheimgesellschaft gegründet, die…
Ich unterbrach sie: „Ja, die Wächter. Also so dumm bin ich dann auch wieder nicht.“
„Gwenny, sie spricht nicht von den Wächtern“, erklärte Gideon.
„Ich spreche von der Bruderschaft des Grünen Adlers“, sagte Helena.
„Der was!?“, fragte ich.
„Der Bruderschaft des grünen Adlers“, wiederholte Gideon. „Es liegt auf der Hand, was damit gemeint ist. Grün steht für den Smaragd, der bekanntlich der Edelstein des Grafen am Chronografen ist. Und der Adler steht ebenfalls für ihn.“
„Danke, Gideon“, sagte Helena und fuhr fort. „Wann genau er diese Bruderschaft gegründet hat, wissen wir nicht. Vermutlich erst nachdem er aus London abgehauen ist.“
„Er ist genau genommen noch nicht abgehauen“, erwiderte Gideon.
„Die Betonung liegt auf dem ‚noch‘ “, meinte Helena. „Irgendwie hat er es geschafft. Lange Rede, kurzer Sinn: Seine Leute haben uns aufgespürt. Er will das Blut aller italienischen Zeitreisenden, um wieder unsterblich zu werden. Seine Leute können nicht in der Zeit reisen, Benjamin und ich aber schon. Und er will sich anscheinend nicht die Finger schmutzig machen. Deswegen hat die Bruderschaft Benjamins Mutter entführt, damit sie ein Druckmittel haben.“
„Ja, das hast du uns schon mal erzählt“, sagte ich.
„Aber wir können die anderen Zeitreisenden nicht finden. Wir wissen zwar, wann sie gelebt haben und auch in etwa wo, aber wir können sie nicht finden“
„Bis auf Antonio und Clara“, warf Benjamin ein. „Deswegen war ich beim gestrigen Treffen nicht dabei. Ich habe die Zeit genutzt, um die ersten Zeitreisenden unserer Linie aufzusuchen, während sie noch in London gelebt haben. Ich habe es geschafft, sie davon zu überzeugen, uns ein wenig Blut zu geben.“
„Was!?“, rief ich entsetzt. „Aber der Blutkreis darf nicht geschlossen werden! Er darf nicht wieder unsterblich werden!“
„Sie hat vollkommen recht“, pflichtete Gideon mir bei.
„Das ist mir klar“, sagte Benjamin. „Es geht hier aber um meine Mutter. Sie ist unschuldig. Sie hat mit der ganzen Sache überhaupt nichts zu tun. Sie wird sterben, wenn wir nicht das tun, was er sagt. Ich will sie da verdammt noch mal endlich raus holen!“
Tränen stiegen in seine Augen und Helena legte ihm fürsorglich einen Arm um die Schultern.
„Verstehst du jetzt, warum wir eure Hilfe brauchen, Gwendolyn?“, fragte Helena. „Wir können den Blutkreis nicht schließen und falls wir es doch tun, wird er wieder unsterblich. Beides keine schönen Szenarien. Ihr habt es aber irgendwie geschafft, den Grafen zu besiegen.“
„Tja, das war aber mehr oder weniger Zufall“, meinte ich. „Wir hatten zwar einen ziemlich guten Plan, aber letztendlich hat Dr White ihn K.O. geschlagen.“
„Aber wir brauchen eure Hilfe“, sagte Helena und auch in ihren Augen glitzerten die Tränen. „Wer weiß, wem er als nächstes etwas antut?“
„Dann machen wir also Folgendes: Ihr geht wieder zurück nach Venedig“, schlug Gideon vor. „Und vollkommen egal, was noch passiert, ihr dürft auf gar keinen Fall den Blutkreis schließen. Denn wenn der Graf einmal unsterblich ist, kann man nichts mehr dagegen machen.“
„Es sei denn, man heißt Gwendolyn Shepherd“, warf ich ein.
Helena und Benjamin starrten mich verwirrt an.
„Oh, die Prophezeiung“, erklärte Gideon. „Doch achte, wenn der zwölfte Stern geht auf, das Schicksal des Irdischen nimmt seinen Lauf.“
„Das bedeutet, dass er ab meiner Geburt nicht mehr unsterblich war“, fügte ich hinzu.
„Verstehe“, meinte Helena. „Aber wenn wir nicht den Blutkreis schließen, was sollen wir dann machen?“
„Welchen Tag habt ihr in eurer Zeit?“, fragte Gideon und stand auf. Er suchte etwas auf den Tischen und Regalen, die in diesem Raum standen.
„Den 22. Oktober 2024“, antwortete Helena.
Gideon hatte einen Stift und ein Blatt Papier gefunden. „Dann schlage ich vor, dass wir uns am 26. Oktober 2024 in Venedig treffen. Habt ihr einen Idee, wo genau wir uns treffen könnten?“
Helena überlegte.
„Wie wäre es mit dem ‚La Donna Nero‘?“, schlug Benjamin vor.
„Ja“, sagte Helena. „Das ist unser Stammcafé. Es ist gleich in der Nähe der Rialto-Brücke. Ihr findet es bestimmt ganz leicht.“
„In Ordnung“, murmelte Gideon und riss das Blatt Papier in zwei Stücke. Auf beide Hälften schrieb er dasselbe: 26. Oktober 2024, 17 Uhr, La Donna Nero.
Ein Blatt gab er Helena, das andere steckte er in seine Hosentasche.
„Eine Frage habe ich aber noch“, sagte sie. „Ihr habt vorhin von einer Mission gesprochen. Was habt ihr damit gemeint?“
„Nun, du kannst dich doch an diese Prophezeiung erinnern, die ich dir gestern gezeigt habe?“
Sie nickte.
„Mein Onkel, unser Großmeister, will, dass sich alle Zeitreisenden treffen.“
„Warum?“, fragte Benjamin.
Tja, das fragte ich mich insgeheim auch.
Gideon zuckte mit den Schultern. „Er will sehen, was passiert. ‚Erst wenn alle versammelt sind, das Geheimnis Erkenntnis bringt‘.
Helena runzelte die Stirn. „Klingt ziemlich vage.“
„Die Wächter haben auch keine allzu hohen Erwartungen, was das betrifft“, meinte Gideon. „Aber es ist bestimmt interessant, wenn einmal alle Zeitreisenden unserer Linie versammelt sind. Wer weiß, was am Ende dabei heraus kommt.“
„Und wenn es eine Falle ist?“, überlegte Benjamin und damit richteten sich alle Augen auf ihn.
„Wie meinst du das?“, fragte ich.
„Weiß nicht“, meinte er. „Ich würde jedenfalls vorsichtig sein.“
„Da hast du Recht“, sagte Gideon. „Wir sollten uns für den Notfall einen Plan B zurechtlegen.“
Helena lächelte verschwörerisch. „Plan B, wie Benjamin.“

Bernsteingold -Liebe geht durch alle ZeitenWhere stories live. Discover now