Daheim begrüßte mich auch schon gleich Mum, die darüber schimpfte, dass ich klitschnass war und das Wasser, das meine Klamotten aufgesaugt hatten, nun den gesamten Boden des Hauses volltropfte. Ich ignorierte sie, wie immer, und joggte die Treppen nach oben in mein Zimmer, wo ich mich samt nassen Klamotten aufs Bett warf und für einen Moment einfach nur die Augen schloss. Ich hatte es satt, mich für meine Liebe zu rechtfertigen und war einfach nur froh, dass dieses Schuljahr, welches gleichzeitig mein letztes war, in einigen Tagen vorüber sein würde und ich somit wenigstens nicht mehr Leute wie Jim Moriarty oder Sebastian Moran sehen musste. Außerdem würde an diesem Wochenende bekannt gegeben, welche fünfzig der über siebenhundert Bewerber an der University of Cambridge angenommen werden. Auch wenn Mum nicht an mich glaubte, hatte ich ein gutes Gefühl bei der Sache. Okay, zugegebenermaßen waren die Chancen, dass ich wirklich aufgenommen wurde gering, doch es war nicht komplett unmöglich und ich wollte jetzt nicht mehr alles negativ sehen. Wollte mir auch mal selbst ein paar Hoffnungen machen. Und vielleicht könnten Sherlock und ich in den Ferien unserem Alltag ein wenig entkommen und einen kleinen Roadtrip machen … einfach für eine kurze Zeit weg von hier. Nur wir beide, ohne jemanden, der uns in unseren Entscheidungen reinredet.
Doch natürlich war das Pech mal wieder auf unserer – oder eher Sherlocks – Seite, und würde mir sehr bald einen Strich durch die Rechnung machen. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich das allerdings noch nicht ahnen.

                                                               * * *


Nachdem ich noch einige Luftschlösser gebaut und mir überlegt hatte, wie ich Sherlock einen Roadtrip durch England wohl schmackhaft machen könnte, war es dann auch an der Zeit, mich endlich für das Konzert fertigzumachen. Da Sherlocks Privatschule nur für die wohlhabendsten Familien Englands war, entschloss ich mich dafür, einen Anzug anzuziehen, der mir zwar schon ein wenig zu eng, aber noch halbwegs akzeptabel war. Ein wohliges Kribbeln machte sich in meinem Bauch breit, als ich mich auf den Weg zur Bushaltestelle machte. Das Wetter hatte sich noch immer kein bisschen gebessert, doch diesmal hatte ich wenigstens einen Regenschirm mitgenommen, der mich und meinen Anzug vor dem nicht enden wollenden Regen schützte. Keine fünf Minuten später kam auch schon der Bus, der mich geradewegs zu Sherlocks Schule, die sich in einem schicken Vorort befand, brachte. Das Gebäude war riesig: Hohe Steinmauern und ein riesiges Eisentor empfingen mich. Viele Leute in schicker Kleidung standen bereits am Eingang und unterhielten sich freundlich miteinander, fast so, als würden sie den starken Regen gar nicht bemerken. Ich lief an den Massen vorbei, scannte im Vorübergehen die Gesichter ab, in der Hoffnung vielleicht Sherlock zu finden, doch er war mit Sicherheit noch proben oder anderweitig beschäftigt. Ich hatte keine Ahnung, wo ich hin musste oder was ich allein tun sollte, deswegen war ich trotz dem vorigen Streit ein wenig froh, als ich im Foyer Sherlocks Eltern, Mycroft und Greg fand, die sich an der Getränkeausgabe an dem teuren Champagner bedienten.
„Hallo“, begrüßte ich sie ein wenig zerknirscht, immerhin würde ich ihnen lieber aus dem Weg gehen, doch mich alleine in dieser Schule zurechtzufinden wäre wohl unmöglich.
„John!“, Mrs Holmes, welche ich schon längere Zeit nicht mehr gesehen hatte, umarmte mich fest.
„Hallo“, sagte ich erneut, diesmal ein wenig freundlicher und versuchte auch Greg und Mycroft anzulächeln. Ich war immer noch mehr als sauer, aber wollte vor den Eltern meines Freundes keinen Tumult auslösen. Die anderen begrüßten mich ebenfalls und fast wirkte alles wieder normal, auch wenn unsere Unterhaltungen für mich einen bitteren Nachgeschmack hatten.
Dann endlich kam eine Durchsage, die durch den großen Raum hallte und verkündete, dass das Abschlusskonzert in Kürze starten würde. Eine freundlich klingende Frauenstimme bat die anwesenden Gäste deshalb, sich in die Konzerthalle zu begeben. Hunderte von Menschen gingen dieser Bitte nach und es gab ein kleines Gedränge, doch ich blieb dicht bei den Holmes' und setzte mich schließlich auf einen gemütlichen Stuhl neben Greg. Erst als der Schwarm an Menschen und die Unruhe ein wenig abebbte, bemerkte ich, wie groß die Halle eigentlich war. Das ganze Gebäude war einfach riesig. Die Einrichtung war in Rot und Gold gehalten, die Bühne schmückten viele Verzierungen, gigantische Kronleuchter hingen von der Decke und der Fußboden war aus teurem Parkett.
Die gedämpften Unterhaltungen des Publikums verstummten schlagartig, als ein älterer Mann die Bühne betrat. Er stellte sich als der Schuldirektor vor, sah mit seinem Monokel und dem aus der Mode gekommenen Anzug mit Taschenuhr jedoch eher aus wie ein Professor aus dem neunzehnten Jahrhundert. Er hielt eine lange Rede darüber, dass nun ein weiteres Schuljahr zu Ende ging und wie stolz er gleichermaßen auf die Schüler und Lehrer war. Normalerweise fand ich solche Art von Reden immer langweilig, doch diese machte mich doch ein wenig sentimental, da ich erstmals richtig realisierte, dass ich selbst bald kein Schüler, meine Zukunft aber noch in keinster Weise sicher war.
Doch das war erst der Anfang des bevorstehenden Unglücks.

„So, doch nun habe ich genug geredet. Lasse Sie uns das Ende diesen Schuljahres mit einem der talentiertesten Geigenspielern dieser Schule beginnen! Hier ist Sherlock Holmes mit der Sonate I in g-Moll von Johann Sebastian Bach! Applaus bitte!“, das gesamte Publikum begann höflich zu klatschen und der Direktor trat einen Schritt zur Seite und sah erwartungsvoll auf die kleine Treppe der Bühne, auf der nun eigentlich Sherlock hinaufkommen sollen. Ich musste lächeln, als der Direktor die Sonate ankündigte, die Sherlock und mich so verband, doch nichts geschah. Sherlock kam nicht. Der Direktor räusperte sich und klopfte prüfend auf sein Mikrophon, was ein ohrenbetäubendes Geräusch durch die Lautsprecher im Saal jagte.
„Und hier ist Sherlock Holmes!“, rief er erneut, diesmal drängender und mit zusammengebissenen Zähnen. Man konnte sehen, wie sehr ihm die Situation unangenehm wurde. „Sherlock?“ Die Bühne blieb leer und die Zuschauer wurden unruhig Vor allem ich. Aufgewühlt rutschte ich auf meinen Stuhl hin und her.
„Keine Sorge, er wird schon kommen“, flüsterte Greg und tätschelte beruhigend meinen Arm. Am liebsten hätte ich mich von ihm weggerissen, doch ich bemerkte seine Berührungen fast kaum, merkte nur, wie Panik in mir aufstieg. Sherlock würde das Konzert nicht einfach verpassen. Nicht, nachdem er wochenlang dafür geprobt hatte und an nichts anderes mehr denken konnte. Ich wusste, wie sehr er sich darauf gefreut hatte und wie wichtig ihm der heutige Abend war.
Mr und Mrs Holmes tuschelten zusammen mit Mycroft, doch ich verstand nicht, was sie sagten. Dass ihre Unterhaltung allerdings sehr gereizt wirkte, machte meine Stimmung nicht gerade besser. Der Direktor sprach mit einem Schüler, den er auf die Bühne gerufen hatte, welcher kurz darauf hinter den schweren Vorhand verschwand, dann räusperte er sich erneut und brachte damit das Publikum wieder zum Schweigen. Er lachte nervös auf.
„Na gut, so wie es aussieht gibt es hier ein kleines … technisches Problem, weswegen wir gleich zum zweiten Auftritt des Abends kommen, hier ist –“, den Rest seines Versuchs, alles wieder in Ordnung zu bringen, bekam ich nicht mehr mit, da sich alles um mich herum drehte und ich nur noch ein stetig lauter werdendes Summen in meinem Ohr hörte. Ohne ein Wort stand ich auf und drängte mich tollpatschig an den anderen Leuten im Publikum vorbei, trat dabei einer Frau aus Versehen auf den Fuß und schüttete das Getränk eines Mannes um, die sich beide beschwerten und mir irgendwas hinterher riefen. Ich aber musste weg. Musste zu Sherlock. Musste ihn finden. Ich wusste, dass etwas passiert sein musste. Wie in Zeitlupe verließ ich das Schulgebäude und stolperte auf den Gehweg. Ich hatte keine Anstalten gemacht, meinen Regenschirm mitzunehmen, rannte einfach über die Straße und zur Bushaltestelle.
„John, warte!“, hörte ich hinter mir jemanden rufen und sah, dass es Greg war. Er hatte den Kragen seiner Jacke nach oben gestellt und versuchte gegen den Wind und Regen anzukämpfen.
„Ich muss nachhause“, ich war mir nicht sicher, ob er mich hörte, da meine Stimme kaum gegen den Regen ankam.
„Fahr mit uns. Die Holmes' sind mit dem Auto gekommen. Das geht schneller als auf den Bus zu warten. Okay?“
„Okay“

Fünf Minuten später saß ich mit Sherlocks Familie und Greg in ihrem teuren Wagen auf dem Weg nach Hause. Ich beobachtete starr die Regentropfen, die gegen die Fensterscheiben schlugen, während sich Mycroft und Greg über irgendetwas redeten. Sie versuchten immer wieder mich in ihre Unterhaltung zu integrieren, doch ich wollte und konnte mich nicht darauf konzentrieren. Wo war Sherlock? Ich überlegte mir die schrecklichsten Szenarien und ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Ich versuchte mir selbst einzureden, dass es ihm gut ging, dass er vielleicht seinen Bus verpasst oder die Zeit aus den Augen verloren hatte. Doch das alles machte kein Sinn, immerhin stand auf dem Zettel, den er mir heute früh in meinem Zimmer hinterlassen hatte, dass er zur Generalprobe gehen würde. Vielleicht war ihm auf den Weg dorthin etwas passiert? Die komplette Verzweiflung machte sich in mir breit und ließ mir keinen Platz mehr zum Atmen. Ich raufte mir auf der gesamten Heimfahrt immer wieder die Haare, wischte über meine Augen und rutschte auf dem Autositz hin und her. Doch ich sollte schneller erfahren, was passiert war, als ich dachte, denn als wir in die Einfahrt vom Haus der Holmes' einbogen, sahen wir einen Krankenwagen, dessen Blaulicht die Nachbarhäuser im Sekundentakt färbte, Polizisten, die versuchten, Schaulustige von dem Haus fernzuhalten und letztendlich zwei Sanitäter, die mit Leichtigkeit aber todernsten Gesichtern eine Trage zum Krankenwagen brachten.
„Was zur –“, hauchte Greg, doch wurde unterbrochen, als eine junge Krankenschwester an der Fensterscheibe des Autos klopfte, welche Mr Holmes gleich herunterfahren ließ.
„Sind Sie Mr … Holmes?“
„Ja. Was ist passiert?“, Sherlocks Vater, der sonst die Ruhe in Person war sprach mit angsterfüllter Stimme.
„Es geht um ihren Sohn“
Ich wusste nicht, ob es der kalte Wind, der durch das offene Fenster kam, war, der mich erschaudern ließ, oder der Anblick von Sherlock, der mit einer Atemmaske gerade in den Krankenwagen gehievt wurde.

Genius Next Door (Teen!Lock Fanfiction)Where stories live. Discover now