»Ja, wer sie ist, habe ich recht? Mom, du weißt, was ich damals gesagt habe oder? Glaub mir, das wollte ich auch nicht ändern, ich-«, er unterbrach sich selbst und schaute keinen von uns beiden an, und die Spannung, die sich vorhin aufgelöst hatte, baute sich langsam wieder auf.

Was wollte er nicht ändern?

In dem Moment hatte ich es aber tatsächlich für besser empfunden, einfach gar nichts zu tun. Ihn nicht beruhigen, ihm nichts sagen. Er sollte seinen Emotionen freien Lauf lassen, denn es gab fast nichts Schlimmeres, als wenn sich diese unnötig aufstauten, denn eins war sicher: Irgendwann kam alles hoch und das endete noch nie besonders gut, glaubt mir.

Zu meiner Überraschung jedoch entwich seiner Kehle kein einziges Wort mehr - in der Luft hing jedoch eine gewisse Unruhe, mit der keiner von uns dreien so richtig wusste, wie man mit dieser umgehen sollte.

Das stille und unangenehme Schweigen unterbrach schließlich Mrs Baker – ihr Lächeln sah zwar etwas müde aus und obwohl Liam seine Mutter ziemlich grob behandelt hatte und seine Worte ihr sanftes Gemüt mit Sicherheit in unzählige Teile zersplittern ließ, schien sie nicht wütend auf ihn zu sein.

Im Gegenteil. Als sei sie es bereits gewohnt.

»Ihr beiden, ich glaube, ich geh lieber wieder. Wie ich sehe, habt ihr noch ein wenig was vor.«

Mrs Baker deutete mit ihrem Kopf in die Ecke des Zimmers, in der wir die Ideen für den Podcast aufgenommen hatten.
»Falls ihr was braucht, dann bin ich entweder im Wohnzimmer oder im Garten, nur keine Scheu und Hailey«, sie drehte sich zu mir und lächelte mich herzhaft an, »schön, dich kennenzulernen.«

»Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Mrs Baker«, entgegnete ich aufrichtig lächelnd und erhielt im Gegenzug ein kleines, etwas wärmeres Lächeln zurück. Sie schritt aus dem Zimmer heraus und schloss sanft die Tür.

»Hey, was ist denn los? Du bist so aufgebracht.«

Das Funkeln in seinen Augen war nicht mehr so klar zu erkennen wie an jenem Tag, als wir zusammen auf dem Dach eines alten Fachwerkhauses saßen und uns das wunderschöne Farbspiel am Himmel angesehen hatten. Nein, tatsächlich war kein Funken mehr übriggeblieben und seine Augen versprühten eine so starke Emotionslosigkeit, dass es mir schon beinahe Angst einjagte.

»Es ist nichts. Lass uns weitermachen.«

Da. Schon wieder. Selbst seine Worte spiegelten den Ausdruck seiner Augen wieder.

Mit einem deutlichen Stimmungswechsel, dem kalten Wasser in der einen, und den zwei Gläsern in der anderen Hand, bewegte er sich herüber zu den zwei Stühlen und vermied weiteren Blickkontakt mit mir.

In ihm ging etwas vor, wovon ich immer noch nichts wusste. Aber meine innere Stimme sagte mir, dass ich immer näherkam. Und zwar dem Geheimnis, was er mit großer Mühe versuchte zu verbergen. Ihm war klar, dass ich wusste, dass etwas nicht stimmte. Er hatte aber immer noch Probleme, sein Inneres zu offenbaren, doch er würde es noch tun. Ganz bald schon. Das spürte ich.

Ich setzte mich also erneut auf den hölzernen Stuhl – Liam mir wieder gegenüber und ich drehte mich um zu meiner Tasche, in der ich nach dem Zettelchen suchte, auf dem ich Idee vier von zwölf notiert hatte.

Idee 4 : »Erfahrungen.«
»Erfahrungen machen unser Leben aus. Gerade sie machen das Leben so vielschichtig. Jeder Mensch ist durch eine Fülle von Erfahrungen geprägt – sowohl guten, als auch schlechten. Doch eins haben positive und negative Erfahrungen gemeinsam: Sie lehren uns. Die schlechten meist etwas mehr, als die guten, da Letztere nicht mit Schmerzen, sondern mit Momenten in Verbindung gebracht werden, die uns erfüllen, uns eine Menge bedeuten, und uns lange in Erinnerung bleiben.

Aber verwunderlich ist das doch schon, oder? Positive Erfahrungen bleiben im Gegensatz zu den negativen nicht so lange im Gedächtnis und das schöne Gefühl, was sie uns bringen, verfliegt sehr schnell.
An schlechten Erfahrungen können wir aber besser wachsen, denn sie machen uns stärker und sie formen unseren Charakter, wodurch wir sehr viel widerstandsfähiger werden. Sie gehören nun mal zum Leben dazu und sind gar nicht vermeidbar.
Menschen brauchen Erfahrungen, die herausfordern, aber nicht überfordern. Gerade wenn wir neue Erfahrungen machen, trägt dies zu unserer Zufriedenheit bei und macht glücklich. Daher sollte jeder von uns Erfahrungen höher schätzen als Dinge, da sie dir niemand nehmen kann. Sie bleiben dir für immer.«

Während das Aufnahmegerät meine Stimme aufzeichnete, ließ ich Liam nicht einmal aus den Augen. Dadurch, dass mein Blick so intensiv war, konnte er gar nicht anders, als zurück zu starren. Dabei bemerkte er gar nicht, dass ich das letzte Wort bereits ausgesprochen hatte und wir schon längst auf den ›Beenden-Knopf‹ hätten drücken müssen, damit die Aufnahme nicht unnötig weiterlief.

Aber vielleicht war gerade das nicht unnötig. Vielleicht sollte die Aufnahme weiterlaufen, da die Worte noch frisch waren und mit tiefen Gefühlen umwickelt waren. So, wie Wolle um eine Stricknadel. Ganz eng zusammen, als könnte sie nichts voneinander trennen.

Mein Herz fühlte sich leicht an, da ich das Gefühl hatte, dass die heutige Idee gerade richtig passte. Heute kamen ein paar unschöne Erfahrungen hoch und mich verletzte es etwas, dass ich nichts tun konnte.
Ich hatte auch nicht gefragt.
Aber selbst wenn, was hätte ich tun sollen? Ich konnte einfach nicht.

Ein Klopfen an der Tür ließ uns beide hochschrecken und wir kehrten zurück in die Realität.

Unsere kleine Welt ist wie eine unsichere Seifenblase, die den Ast eines Baumes berührte, geplatzt.

Zu unserer Überraschung öffnete eine kleine Gestalt die Tür. Die zwei blondgeflochtenen Zöpfe waren unverkennbar. Julia trug ein kleines Tablett mit ganz kleinen und langsamen Schritten auf uns zu – sie blickte dabei nicht uns an, sondern lediglich auf die zwei orangefarbenen Tassen, die beinahe überschwappten.

»Ach hallo Julia«, begann ich, als sie das Tablett letzten Endes auf Liams Schreibtisch abstellte und uns daraufhin breit anlächelte. »Hallo Hailey«, begrüßte sie mich zurück und fiel mir sofort in die Arme, woraufhin ich ihre Umarmung erwiderte.
»Und was ist mit mir?«, fragte Liam und hob seine Augenbrauen an.

Seine Stimme war wieder fest. Nicht schroff, sondern wieder angenehm und leicht rau. Und ich wusste, wieso.
Für sie.

Julia ließ mich gleich los und ging herüber zu ihrem Bruder, der ihr leicht über das Haar strich. Sie war schon eine Süße. »Danke, was hast du für uns mitgebracht?«, fragte ich sie in einem leicht kindlichen Ton und versuchte herüber zu dem Schreibtisch zu linsen, wodurch sie jedoch aktiv wurde und sich protestierend davorstellte.

»Nein, das musst du erraten. Augen zu machen.«

Ich blickte zu Liam, der mir verständnisvoll zu nickte und leicht lächelte, weshalb ich schlussendlich tat, was Julia von mir verlangte. Als ich meine Augen schloss, hörte ich Julia »mach das bisschen kalt« zu ihrem großen Bruder flüstern, woraufhin ich leicht schmunzeln musste, da ich ein leises Pusten vernahm, damit das Getränk etwas abkühlte.

»Okay, jetzt«, sagte Julia, woraufhin ich meinen Mund einen kleinen Spalt öffnete und ich von der Tasse schlürfte.

»Mmh, das schmeckt gut. Das...muss heißer Zitronentee sein«, entgegnete ich und öffnete meine Augen.

»Bingo!«, rief seine Schwester glücklich. Ich lachte.

Als ich die heiße Tasse in die Hand gedrückt bekam, klebte schon bereits heruntergelaufener Tee an der Tasse und nun auch an meinen Fingern. Auf dem Tablett befand sich noch eine kleine weiße Schüssel mit Keksen. Mein Blick glitt Richtung Tür, an der ich Liams Mutter am Türrahmen zufriedenlächelnd ausmachte.

Diesen Moment hätte ich viel zu gerne eingefangen. Aber wer weiß, vielleicht machte mein Gedächtnis gerade Fotos davon und speicherte es als ›positive Erinnerung‹ ab.

LAST SUMMERWhere stories live. Discover now