Vor drei Generationen waren die Kratorni noch Nomaden gewesen, die auf ihren Pferden durch das Land ritten. Heute dienten die Pferde hauptsächlich als Arbeitstiere, zum Ziehen der Pflüge der Bauern, der Wagen der Kaufleute und der Kutschen der Adligen. Denn Arnold II., der Sohn und Nachfolger von Arnold dem Starken, hatte beschlossen, dass das Nomaden-Leben der Kratorni ein Ende haben und dass das Volk sesshaft werden solle. Er hatte große Teile der Wälder im Norden seines Reiches roden lassen, wo bald mehrere Städte entstanden. Für sich und seine Familie ließ er etliche Meilen südlich des Gizára ein prächtiges Schloss auf einem Hügel am Ufer der Windach erbauen; um den Hügel herum entstanden etliche Dörfer und Bauernhöfe, deren Bewohner durch die Aufzucht von Tieren, sowie den Anbau von Getreide und anderen Feldfrüchten für die Ernährung der Kratorni sorgten. In den Städten nördlich des Gizára wurden Kleidungsstücke, Möbel und andere Waren hergestellt. Kaufleute transportierten die Waren mit ihren Pferdewagen von einem Ort zum anderen.

Für den Bau des Schlosses und der Häuser in den Städten wurden Steine benötigt; darum ließ Arnold II. zahlreiche Steinbrüche anlegen. In den Bergen ließ der König nach Bodenschätzen graben: nach Eisen, Bronze, Silber und Gold, wobei das Gold und das Silber hauptsächlich zur Ausstattung des Königsschlosses verwendet wurde. Da nicht genügend freiwillige Männer für die Arbeit in den Bergwerken und Steinbrüchen zur Verfügung standen, ordnete Arnold II. an, dass jeder, der Gesetze übertrat, gegen Befehle des Königs verstieß oder seine Steuern nicht bezahlen konnte, zur Zwangsarbeit in ein Bergwerk oder einen Steinbruch geschickt wurde. Darum wurde er bald im ganzen Land Arnold der Schreckliche genannt.

Katharina erinnerte sich nur dunkel an ihren Großvater. Während sie ihr Gesicht wusch und ihre langen blonden Haare kämmte, versuchte sie sich zu erinnern, wie er ausgesehen hatte. Er war gestorben, als Katharina zehn Jahre alt war. Nach seinem Tod war ihr Vater, Arnold III., König geworden. Er hatte erklärt, dass die Schreckensherrschaft seines Vaters nun ein Ende habe und dass er dafür sorgen werde, dass jeder seiner Untertanen ein menschenwürdiges Leben führen könne. Er ließ sich Arnold der Sanftmütige nennen, doch das Volk nannte ihn insgeheim nur Arnold der Schwache. Zu seinen Schwächen rechnete man unter anderem, dass er es offenbar nicht schaffte, für einen männlichen Nachfolger zu sorgen. Zwar hatte seine Frau Petra, eine Tochter des Häuptlings des Wolf-Clans, bereits zwölf Jahre vor seiner Königskrönung einen Sohn geboren, der gemäß der Familientradition den Namen Arnold bekam und später einmal als Arnold IV. das Land regieren sollte. Doch der Knabe war von Geburt an kränklich und lebte nicht mal ein Jahr.

Als Petra dann wieder schwanger wurde, hoffte das Volk auf die Geburt eines neuen Sohnes, aber es war eine Tochter, der die Eltern den Namen Katharina gaben. Danach dauerte es mehrere Jahre, bis Katharinas Mutter erneut schwanger wurde. Doch auch diesmal wurde der Wunsch nach einem Stammhalter nicht erfüllt. Das Kind war zwar ein Knabe, kam aber tot zur Welt. Und was noch schlimmer war: Nach dieser äußerst komplizierten Geburt konnte Katharinas Mutter keine Kinder mehr bekommen. König Arnold der Schreckliche war darüber sehr erbost und empfahl seinem Sohn, sich von seiner Frau zu trennen und mit einer anderen Frau endlich einen Thronfolger zu zeugen. Doch Katharinas Vater war nicht bereit, Petra zu verstoßen. So blieb Katharina sein einziges Kind und würde nach seinem Tod Königin von Kratorniland werden. Bis dahin würden zwar noch viele Jahre vergehen, aber Katharina war davon überzeugt, dass sie es ein-mal besser machen würde als ihr grausamer Großvater und ihr schwacher Vater.

Wie soll ich mich heute kleiden? überlegte die Prinzessin und öffnete ihren Kleiderschrank. Nach längerem Überlegen entschied sie sich für eine kurzärmelige rosarote Seidenbluse und einen langen dunkelgrünen Rock, der seitlich geschlitzt war, sodass sie damit bequem reiten konnte.

Nachdem sie in ihre eleganten Lederstiefel geschlüpft war, öffnete Katharina ihre Schmuckschatulle. Ihre Eltern hatten ihr im Lauf der Jahre so viel Schmuck geschenkt, dass sie nie alles gleichzeitig tragen konnte. Katharina hängte sich eine Kette aus weißen und blauen Perlen um den Hals; um ihr rechtes Handgelenk legte sie ein mit Brillanten bestücktes Armband, um ihr linkes Handgelenk einen goldenen Armreif. Als Letztes steckte sie sich noch eine silberne Brosche an die Bluse. Ein Blick in den Spiegel bewies, dass die Prinzessin nun perfekt gestylt war.

Die Seidenbluse ist etwas dünn, dachte Katharina. Wenn ein Wind weht, könnte es kühl werden.

Sie ging zum Schrank und nahm einen Umhang aus schwarzem Samt heraus, in den Muster aus roten und goldenen Fäden eingewebt waren. Schließlich steckte sie noch ein paar Goldmünzen in ihren Lederbeutel und hängte ihn an ihren Gürtel. So konnte sie sich unten im Dorf etwas kaufen, wenn sie Lust dazu verspürte.

Katharina warf einen kurzen Blick ins Schlafzimmer ihrer Eltern, die offenbar noch schlummerten, dann lief sie die Marmortreppe hinunter in die Eingangshalle des Schlosses. Dort traf sie Elsa, die Kammerzofe ihrer Mutter.

»Guten Morgen, Prinzessin!« grüßte Elsa. »Ihr seht heute ja wieder ausgesprochen gut aus.«

»Besser als gestern?« fragte Katharina.

»Ihr werdet von Tag zu Tag schöner«, meinte die Zofe.

»Zweifellos«, erwiderte die Prinzessin lachend und dachte dabei: Von dir kann man das nicht behaupten, du alte Kuh. Aber als zukünftige Königin verkniff sie es sich, so etwas laut zu sagen.

Katharina verließ das Schloss und begab sich in den Pferdestall, wo ihre Lieblingsstute Tara stand. Otto, der Stallknecht, den alle nur Oddo nannten, war gerade dabei, den Tieren ihr Futter zu geben.

»Gudd'n Morch'n, Prinzess'n Kaddarina!« sagte Otto mit monotoner Stimme. »Is' heud' 'n schön'r Dach, nich' wahr? Wollen Hoheid vielleichd 'n biss'n durch die Gech'nd reid'n bei d'm schön'n Wedd'r, was heud' is'?«

Warum hat mein Vater diesen Deppen nicht schon längst gefeuert? fragte sich Katharina. Aber da sie dazu erzogen worden war, immer höflich zu sein, antwortete sie:

»Ja, ich möchte mit Tara ausreiten. Ist sie fertig zum Ausritt?«

»Darra is' ferdisch«, erklärte Otto. »Hoheid könn'n aufsitz'n und losreid'n.«

Die Prinzessin schwang sich auf ihr Pferd und ließ es lostraben – über den Schlosshof durch den großen Torbogen. Dann ging es im Galopp hinunter ins Tal – zu einem Abenteuer, das sie nie mehr vergessen sollte.

Kathy und der ZaubererWo Geschichten leben. Entdecke jetzt