5. Der Kartograph

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Katharina überquerte den Bach auf einem schmalen Steg und überlegte, ob das wohl die dritte der sieben Brücken war. Bald darauf erblickte sie am Rand des riesigen Waldes, der vor ihr lag, ein kleines Haus. Es hatte zwei Stockwerke und ein Giebeldach mit roten Schindeln. Lustigerweise befand sich die Eingangstür im Obergeschoss. Eine Holztreppe an der Hauswand führte hinauf.

Das muss wirklich ein seltsamer Kauz sein, dachte Katharina. Wer baut schon ein Haus, bei dem der Eingang im ersten Stock ist?

Sie stieg vom Pferd und ging auf die Treppe zu. Auf dem Boden bemerkte sie einen blinkenden Gegenstand inmitten zahlreicher zerknüllter Papiere, die offenbar aus dem Fenster im Obergeschoss geworfen worden waren. Die Prinzessin hob den Gegenstand auf und stellte fest, dass es eine kleine Glaskugel war. In der Kugel befand sich eine Flüssigkeit und darin schwebte eine zweite Kugel, die vermutlich aus Metall war. Auf der inneren Kugel standen Zahlen und die Buchstaben N – O – S – W. Wenn man die Glaskugel bewegte, drehte sich die innere Kugel so, dass die Buchstaben immer in dieselbe Richtung zeigten.

Katharina steckte die Glaskugel ein, ging die Stufen hinauf und klopfte zaghaft an die Tür.

»Herein!« rief eine Männerstimme.

Katharina öffnete die Tür und trat ein. Vor ihr lag ein großer Raum mit hohen Regalen an den Wänden. In der Mitte stand ein wuchtiger Schreibtisch, übersät mit geöffneten und geschlossenen Büchern, Ordnern, mehreren Papierrollen, einem Lineal, etlichen Bleistiften und unzähligen teils bekritzelten, teils leeren Zetteln.

Hinter dem Tisch saß ein älterer Mann mit schütterem Haar und einer Brille auf der Nase. Er trug einen ziemlich altmodischen Anzug und sah Katharina neugierig an.

»Grüß Gott, mein Herr!« sagte die Prinzessin höflich.

»Grüß Gott, mein Fräulein!« erwiderte der Mann. »Was bringt sie mit?«

»Äh, nichts«, antwortete Katharina verlegen. »Ich hätte gern eine Auskunft.«

»Ist sie denn keine Forscherin?« fragte der Mann ungehalten.

Er hat keine Ahnung, wer ich bin, ging es der Prinzessin durch den Kopf. Aber wie soll er mich auch erkennen? Ich trage keinerlei Schmuck mehr, meine Schuhe sind schmutzig und meine Haare sind vom Reiten zerzaust. Nun ja, soll er mich ruhig für ein einfaches Bauernmädchen halten. Ist vielleicht sogar besser ...

»Ich bin Kartograph«, fuhr der Mann fort, »und empfange hier Forscher aus allen Teilen des Landes. Und wenn einer eine neue Entdeckung gemacht hat, trage ich es in eine der Landkarten ein, die ich im Archiv in meinem Keller aufbewahre. Also, was für eine Entdeckung hat sie gemacht?«

»Ich – ich habe keine Entdeckung gemacht. Ich ...«

»Was will sie dann hier?« fiel ihr der Kartograph gereizt ins Wort. »Ich habe keine Zeit für sinnloses Geschwätz. Ich bin ein ernsthafter Wissenschaftler.«

»Vielleicht kann ich Ihnen auf andere Weise helfen«, meinte Katharina und betrachtete das heillose Durcheinander, das in dem Raum herrschte. »Ich könnte hier zum Beispiel ein bisschen auf-räumen. Es sieht alles ziemlich unordentlich aus.«

»Gott bewahre!« rief der Kartograph entsetzt aus. »Meine heilige Ordnung durcheinanderbringen! Hier hat alles seinen festen Platz. Dadurch finde ich alles wieder, was ich für meine Arbeit brauche.« Er kratzte sich verdrießlich am Kopf. »Nur meinen kleinen Kugelkompass kann ich im Moment nirgends finden.«

»Ich habe vor dem Haus etwas vom Boden aufgelesen«, teilte Katharina dem Mann mit und zeigte ihm die kleine Glaskugel. »Ist es das, was Sie suchen?«

Kathy und der ZaubererWo Geschichten leben. Entdecke jetzt