V I E R Z E H N

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Penelope erfuhr alles. Sie hörte mir aufmerksam zu, als ich ihr von Jasper und dem blonden Miststück erzählte. Hörte zu, als ich ihr sagte, in Ms Kanes Wohnung heute morgen aufgewacht zu sein und den halben Tag mit ihr verbracht zu haben. Mir war durchaus bewusst, dass es schwere Konsequenzen für Ms Kane haben könnte, wenn jemand davon erfuhr.

Bei Penny war dieses Wissen jedoch sicher. Manchmal konnte ich kaum daran glauben, dass wir uns erst drei Jahre kannten, denn mein Vertrauen ihr gegenüber war unerschütterlich. Sie kannte meine Ängste und die Gründe dafür und war da, wenn ich sie brauchte.

Bei Jasper war das nicht immer der Fall gewesen. Ich hatte ihm vertraut, aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, ihm alles zu erzählen. Aus Angst, er würde dieses Wissen irgendwann gegen mich verwenden.

Am Abend war ich schließlich Zuhause und aß gemeinsam mit der Familie zu Abend. Da John unter der Woche viel arbeitete, nutze er die gemeinsamen Essen am Wochenende dazu, sich einen kleinen Einblick in das Leben von uns Mädchen zu verschaffen.

Wir sprachen über die Schule, über die anstehenden Klausuren und über Claires und meinen Plan, uns nächstes Wochenende einen schönen Tag in der Stadt zu machen. Claire und ich unternahmen außerhalb des Hauses nicht oft etwas miteinander, aber wenn wir es mal taten, dann genoss ich die Zeit mit meiner jüngeren Pflegeschwester umso mehr.

Dass ich heute so spät gekommen war, fiel mit keinem einzigen Wort. Das verwunderte mich dann doch ein wenig.

Nach dem Abendessen half ich schließlich beim Abräumen, dann verschwand ich hoch in mein Zimmer. Es war nicht wirklich groß, aber ich fühlte mich dennoch wohl darin. Allein die Tatsache, dass es mir gehörte, war für mich schon besonders.

Ich machte es mir mit leiser Musik und meinem Laptop auf meinem Bett gemütlich. Kurz darauf klopfte es an meiner Tür. Claire kam auch gerne mal ohne Vorankündigung in mein Zimmer. John dagegen kam nie hier hoch. Also musste es sich um Karen handeln.

„Komm rein", sagte ich und sah zu, wie die Tür sich öffnete und meine Pflegemutter hereintrat. Auf ihren Lippen lag ein sanftes Lächeln, ihre hellen, braunen Augen jedoch wirkten ernst und besorgt zugleich.

Karen ließ sich mit etwas Abstand auf das Bett nieder. Ich legte meinen Laptop zur Seite und nahm die Kopfhörer aus den Ohren, ehe ich zu ihr sah und ihren Blick erwiderte. Es würde nicht mein erstes ernstes Gespräch mit meiner Pflegemutter sein, dass bedeutete allerdings nicht, dass es leichter sein würde. Das war es nämlich nie.

„Wir haben uns Sorgen um dich gemacht, Melia", begann sie und ich musste schlucken.

„Tut mir leid, ich wollte nicht, dass ihr euch um mich Sorgen macht", kam es mir aufrichtig über die Lippen. Karen und John waren zwar manchmal streng, aber sie behandelten mich gut und ich könnte mir deshalb keine bessere Ersatzfamilie vorstellen.

„Magst du mir erzählen wo du die letzte Nacht tatsächlich warst? Du warst nämlich weder bei Penelope noch bei Jasper."

Ich erstarrte innerlich bei ihren Worten. „Woher ...", begann ich, aber Karen verstand auch so.

„Dein Freund hat mich um drei Uhr in der Früh angerufen, betrunken wie ich vermute, und gefragt, ob du Zuhause wärst. Er hat zuerst bei Penelope angerufen, aber da warst du ebenfalls nicht." Karens Stimme war ruhig, aber dennoch gelang es ihr nicht, die Enttäuschung aus ihr ganz zu verbannen.

Wie aus dem Nichts befiel mich das unerklärliche Verlangen, ihr die Wahrheit darüber zu erzählen, wo ich die Nacht über verbracht hatte.

„Jasper ist nicht mehr mein Freund", klärte ich sie zu aller erst auf und war überrascht, dass die Worte so entschieden über meine Lippen kamen. Unbewusst hatte ich bereits eine Entscheidung getroffen, was Jaspers und meine Zukunft anbelangte, was mir soeben erst richtig bewusst wurde.

„Wir haben uns gestritten und nach unserem Streit hab ich Ms Kane angerufen. Sie hat mir erlaubt, für eine Nacht auf ihrem Sofa zu schlafen." Ich sah vorsichtig zu Karen und rechnete mit dem Schlimmsten. Doch Karen war weder verärgert noch wütend. Nein, sie lächelte erleichtert.

„Danke, dass du ehrlich zu mir warst, Melia. Das schätze ich sehr. Es wäre mir natürlich lieber gewesen, wenn du nicht das Gefühl gehabt hättest, nicht nach Hause kommen zu können", sagte sie. „Ich möchte aber, dass du weißt, dass du jederzeit zu uns kommen kannst, ganz gleich, was der Grund dafür sein sollte. Das hier ist dein Zuhause, Melia, und du bist für John und mich wie eine Tochter. Claire sieht in dir eine große Schwester. Ich weiß, dass du manchmal glaubst wir wären zu streng mit dir, aber in erster Linie sorgen wir uns um dich, da du uns viel bedeutest."

Seit gestern‌ Nacht hatte ich nicht mehr geweint, doch nun Karens Worte zu hören, trieb mir die Tränen in die Augen. Ich wischte sie mit den Händen weg, um nicht vollkommen in Tränen auszubrechen.

Karen erhob sich, um mich anschließend in die Arme zu schließen. Sie legte ihre Arme beruhigend um meinen Körper und drückte mich sachte an sich. Als sie sich schließlich von ihr löste, zierte ein beinahe amüsiertes Lächeln ihre Lippen.

„John war sogar so besorgt, weil niemand wusste wo du bist, dass er fast sogar die Polizei alarmiert hätte."

Bei der Vorstellung, musste auch ich unweigerlich lächeln, obwohl das gar nicht lustig war. Die Tränen waren versiegt und ich erleichtert, dass Karen die Wahrheit so gut aufgefasst hatte.

„Warum hat er es nicht getan?", wollte ich wissen, nicht wissend, wie wenig mir die Antwort darauf gefallen würde.

„Kurz nach Jaspers Anruf, rief Ms Kane an und teilte uns mit, dass du bei ihr wärst. Sie meinte, dein Handy wäre kaputt und sie wollte sicher gehen, dass wir Bescheid wissen wo du bist und uns keine Sorgen um dich machen." Karen konnte unmöglich wissen, was diese Worte in mir auslösten. Nun ergab auch mein Gefühl zu Anfang des Gesprächs einen Sinn. Karen hatte von Beginn an gewusst, was passiert war. Hatte mich getestet.

Ich hätte wütend deshalb sein müssen, aber konnte es nicht sein. All meine Gedanken waren bei Ms Kane. Sie hatte bei mir Zuhause angerufen, obwohl sie gewusst hatte, dass ich nicht wollte, dass Karen etwas von der ganzen Sache mitbekam.

Karen schien nichts von meinem inneren Konflikt mitzubekommen. Und da dieses Gespräch zu Ende war, dauerte es nicht lange, bis sie mir eine gute Nacht wünschte und mein Zimmer verließ.

Ich versuchte lange in dieser Nacht einzuschlafen. Erfolglos.

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Und wieder ein Kapitel, dessen Ende so nicht geplant war, dafür aber durchaus realistischer ist. Ich hoffe, euch hat es gefallen. :)

LG, Aura

Scherbenherz [TxS / GxG]Donde viven las historias. Descúbrelo ahora