Kapitel 1

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«Hallo? Hallo!» Er macht die Augen auf. Licht. Er fühlt den Boden unter seinem Rücken. Vor ihm steht eine Frau. Ihr Gesicht ist zur gleichen Zeit besorgt und misstrauisch. Als nicht sehr bequemes Kopfkissen musste eine Bruchsteinwand hinhalten, welche eine erschreckende Menge Blut an sich kleben hatte. Aus diesem roten Fleck eine Schlussfolgerung ziehend fasste er sich an den Kopf und sah danach seine Hand an. An ihr klebte nun dieselbe Flüssigkeit, wie an der Wand hinter ihm. Seinen Blick auf sich ziehend keuchte die Frau nun hörbar und die Spur von Misstrauen verflüchtigte sich nun aus ihrer Miene. «Komm», sagte sie, nahm seine Hand und zog ihn auf. Der Blutverlust beeinträchtigte die Effizienz seines Kreislaufs, sein Blickwinkel wurde enger und er schwankte leicht. Die Frau sah was vor sich ging und stützte den Ohnmachtsgefährdeten. Sein Kopf war schwummrig, doch gingen die Kopfschmerzen nach etwas Zeit weg und das komische Gefühl des Tunnelblicks verflüchtigte sich. Unfähig wie er momentan war liess er sich von der Frau durch den Wald geleiten, darauf konzentriert weder sein Bewusstsein, noch seinen Mageninhalt zu verlieren. Nach einer gefühlten Ewigkeit des Schwindelgefühls traten sie in ein Haus ein, welches nur noch ein halbes Dach hatte. Ihm wurde eine Flasche Wasser in die Hand gedrückt, an welcher er ein paar Mal nippte, während sie seinen Kopf bandagierte und er darüber nachdachte, was er mit einem aufgeschlagenen Kopf auf einem Bauernhof zu suchen hatte.
«Was hattest du mit einem aufgeschlagenen Kopf auf einem Bauernhof zu suchen?», kam die Frage nun nicht mehr von ihm selbst, sondern von seinem Retter. Nach einigen Minuten angestrengtem Nachdenken entschied er sich, aus Mangel einer Antwort, die Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten.
«Warum lebst du in einem Haus mit nur einem halben Dach?»
Ein verwirrter Blick.
«Kannst du dich zufälligerweise an den Atomanschlag erinnern, der uns vorgestern aus unserem schönen Leben katapultierte und uns zu Höhlenmenschen machte?», wurde ein weiterer Versuch gestartet eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten. Das Sonderbarste war, dass dies tatsächlich Neuigkeiten waren.
«Nein?»
Tatsächlich war seine letzte Erinnerung, wie er bei der Arbeit war. Er hatte ein Stück Code fertiggeschrieben und war aufgestanden, er war zum Mittagessen gegangen. Sein Freund kannte diesen Fastfood Laden, welchen er ihm unbedingt gezeigt haben wollte. Und dann... war... er... Er hatte keine Ahnung. Er wusste es nicht mehr.
«Welcher Wochentag ist heute?» «Samstag.»
Verwirrt und noch immer nicht ganz wohl auf folgte er dem Vorschlag der Frau sich erst einmal Schlafen zu legen.

Er wacht auf. Es fühlt sich gut an. Die Kopfschmerzen von gestern sind weg. Während er der Frau zusah, wie sie aus ihrem Rucksack Essen in Blechdosen hervorholte, sie auf ein Feuer stellte und so tat als wäre es Frühstück, konnte er seine Gedanken etwas ordnen.
Dem gestrigen Gespräch nach zu schliessen gab es einen atomaren Anschlag. Ein Atomanschlag, seine Familie? Sie war tausend Kilometer im Norden. Waren sie Ok? War seine Freundin Ok? Alice? Er musste sie finden. Als er gearbeitet hatte war sie zuhause in ihrer Wohnung. Sie arbeitete zurzeit als Krankenschwester in der Nachtschicht. Wenn alles nach dem Evakuationsplan lief musste sie also in dem Bunker in ihrem Wohnort gewesen sein. Das war ein Anhaltspunkt.
Das Essen wurde serviert. Aus Mangel an Besteck mussten sie direkt aus der Dose trinken und versuchen sich weder an den Kannten zu schneiden, noch sich den Mund zu verbrennen. Nachdem die Dosen leergeschlürft waren sassen sie noch dort und starrten hinein, wo vorhin noch ein mittelmässiges Fertigcurry war.
«Ich habe eine Freundin.»
«Fühltest du dich angemacht?»
«Ich muss sie finden.»
Es blieb einen Moment still.
«Du hast eine grässliche Kopfwunde. Wahrscheinlich weisst du deswegen nichts mehr.»
«Ich muss sie finden.»
Eine weitere Pause.
«Du bist wahrscheinlich noch gar nicht in der Lage weite Strecken zu laufen. Und wenn du das alleine machst wirst du garantiert ausgeraubt, oder getötet.»
«Ich muss sie finden.»
Der klägliche Rest Feuer knackte ein letztes Mal. Beide sahen zu wie der letzte nicht ganz verkohlte Ast abbrannte. Schliesslich zog die Frau eine weitere Dose Fertigcurry und eine Flasche Wasser aus dem Rucksack, steckte sie in eine Plastiktasche und reichte sie ihm.
«Danke»
Er stand auf und zu seiner Überraschung war der Demobilisierungsversuch seines angeschlagenen Kreislaufs nicht überwältigend, sondern nur etwas irritierend. Er drehte sich um, trat unter der existierenden Hälfte des Daches hervor und lief die Strasse hinunter. Nach ein paar hundert Metern in Richtung der Stadt, in der er arbeitete fand er seine Orientierung wieder und schlug den Weg nach Hause ein. Er begegnete wenigen Leuten, doch die die er sah hatten ihre misstrauischen Augen, welche zwischen schweren Liedern und tiefen Ringen hervorschauten, fest auf Alles, das sich bewegte, geheftet. Das verwunderte ihn nicht, denn auch er war besorgt, was seine Mitmenschen wohl machen würden, wenn der Staat mindestens für ein paar Tage ausser Kraft gesetzt wurde. Doch der vorwiegende Gedanke galt Alice. Was war mit ihr geschehen? War sie sicher in irgendeinem Bunker? Suchte sie nach ihm? Oder war sie... nein, das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein.
Die meisten Häuser hatten etwas von der Schockwelle abbekommen. Wenige Mauerwerke waren intakt und keine Fensterscheibe stand. Ein Gebäude war ein Rohbau und ein Gerüst lag daneben in Trümmern. Bei dem Gerüst lag ein gelber Sicherheitshelm. Er zog seinen Blick zurück zum Gerüst, wo bei genauerem hinsehen eine Leuchtweste zu sehen war. Es war ein schrecklicher Anblick. Auf eine perverse Art erinnerten ihn die Gedärme, die aus der von dem Gerüst gequetschten Stelle hervortraten, an die eines Igels, den er einmal auf der Strasse gesehen hatte.
Seine Neugier verfluchend wandte er den Blick ab und beschleunigte seine Schritte. Er musste Alice finden. So schnell wie möglich.

Sie wohnten in der Agglomeration der Kleinstadt, in der er arbeitete. Die Wohnung befand sich im dritten Stockwerk eines Blocks. Als er in der Abenddämmerung davor stand hatte er ein ungutes Gefühl. Was wenn er sie dort oben tot auffand? Oder sie durch die Gewaltige Druckwelle aus dem Fenster flog? Nein. Wenn dann wären die Fenster zersplittert und hätten sie zerstochen. Von schrecklichen Gedanken, einem schlechten Gefühl und einem winzigen Hoffnungsschimmer begleitet versuchte er sich zu fokussieren.
Die Vordertür war eine grosse Glastür gewesen. Sie hatte keine Fenster mehr. Er stieg hindurch, daran zweifelnd, dass der Lift noch verlässlich war, erklomm er die Stufen.
Oben angekommen schloss er die Tür auf und sah sich um. Wie erwartet hatte kein Stück Glas die Explosion überlebt. Nun durchsuchte er das Haus. Alices Sneaker fehlten. Auch das Bild von ihnen beiden, welches er ihr einmal geschenkt hatte, fehlte, ebenso wie der Laptop, den sie zur Musikproduktion brauchte. Es schien alles, als hätte sie sich ein paar Dinge geschnappt und wäre dann verschwunden. Hoffentlich zum Bunker.
Er selbst packte nun einige Dinge zusammen. Er nahm den noch verbleibenden Rucksack und füllte ihn mit Proviant, einem zweiten Set Kleidern einer Karte, einem Taschenmesser und Munition. Er besass noch die Waffe, welche er im Militär bekommen hatte. Ein Sturmgewehr 90. Er stellte es neben den Rucksack, ass ein paar Scheiben trockenes Brot und ging ins Bett. Dort kreisten ihm dieselben unangenehmen Gedanken im Kopf, nur nun ohne eine Chance von einer Aktivität abgelenkt zu werden. War sie sicher? War er sicher? Was wenn er sie nicht finden konnte? Doch schlussendlich überwältigte ihn die Müdigkeit und er schlief ein.

Ein Schuss am EndeWhere stories live. Discover now