Ich lief über die blühende Wiese und hielt den Korb meiner Mutter in der Hand. Ein einzelner riesiger Baum lag direkt vor mir. Ich wusste, dass ich sie hier antreffen würde.
An manchen Tagen verließ sie unser Haus heimlich und nahm im Schatten des Baumes Platz, um, wie sie uns immer erklärte, den Bienen und Schmetterlingen zuzusehen.
Meine Mutter war sehr naturverbunden und genoss jede einzelne Sekunde, die sie an der frischen Luft verbringen konnte. 
Ich lief geradewegs auf sie zu, doch der Korb, in welchem ich unterschiedliche gelbe Blumen gesammelt hatte, kam meinen Füßen in die Quere, sodass ich mein Gleichgewicht verlor und hinfiel. Meine Mutter bemerkte mich und wollte aufstehen, um mir zur Hilfe zu kommen, doch sie war zu schwach. Ihre Beine wollten sie nicht mehr tragen.
Damit sie sich keine Sorgen mehr um mich machen musste, stand ich trotz meiner schmerzenden Knie auf und lief tapfer zu ihr hin. Sie lächelte stolz und entschuldigte sich bei mir. Ihr bleiches Gesicht wurde von dem orangenen Seidentuch umrahmt, welches ihren kahlen Kopf verdeckte. Eine Träne bahnte sich den Weg über ihre Wange, doch bevor sie ihr Kinn erreichen konnte, fing ich sie mit meinem Finger auf.
“Mein Schatz”, flüsterte sie mit gebrochener Stimme. Ich wusste, dass sie von Tag zu Tag schwächer würde. Selbst ihr Lächeln, welches all meine Schmerzen hatte heilen können, war nicht mehr dasselbe. Ich ließ mir meine Traurigkeit jedoch nicht anmerken, um sie nicht zu verunsichern.
“Ich habe dir etwas mitgebracht”, sagte ich und hielt ihr den Korb voller Blumen hin, die ich sorgfältig gepflückt hatte. Gelb- und Orangetöne waren ihre Lieblingsfarben.
Selbst wenn sie es mir mit Worten oder Gesten nicht mehr gut zeigen konnte, musste ich nur in ihre Augen sehen, um zu wissen, wie sehr sie mich liebte.
“Danke, mein Engel”, wisperte sie in mein Ohr, woraufhin ich mich glücklich an ihre Beine legte. Meine Mutter begann das Lied zu summen, welches sie mir bereits im Kinderbett vorgesungen hatte. Ich schloss meine Augen und lauschte ihrer Melodie. Die Harmonie, die ich in diesem Moment spürte, ließ meinen Atem langsamer werden und veranlasste mich dazu, alle Sorgen aus meinem Kopf zu verbannen.
Nach einer Weile hustete sie jedoch schmerzvoll und war nicht mehr in der Lage dazu, weiter zu summen. “Kannst du Daddy holen gehen, Caden?”, bat sie mich und ich konnte an ihrer Stimme erkennen, dass es sie einiges an Überwindung gekostet hatte, sich ihre Schwäche einzugestehen.

Ich spürte, wie Jamie seine Hand zaghaft auf mein Bein legte. “Ist alles okay, Caden?”, fragte er mich mit besorgter Stimme. Erst, als ich zu ihm aufsah, bemerkte ich, dass mein Körper leicht zitterte.
“Ja… Alles gut”, antwortete ich ihm mit brüchiger Stimme. Es war jedoch mehr als offensichtlich, dass es mir nicht gut ging. Jamie betrachtete mich zweifelnd und schien nicht recht zu wissen, was er tun sollte.
Ich versuchte mit aller Macht, die Erinnerung an meine Mutter beiseite zu schieben.
Jamie streichelte behutsam über mein Bein und flüsterte: “Schau in meine Augen.”
Ich stieß einen langen Atemzug aus und folgte seiner Anweisung. “Jamie, ich kann das hier alles nicht”, sagte ich leise und spürte, wie sich mein Magen umdrehte.
“Doch, du schaffst das. Ich bin bei dir”, entgegnete er und klang zuversichtlich.
Ich merkte, wie sehr ich seine Stimme und den beruhigenden Ausdruck in seinen Augen brauchte, um mich wieder zu kontrollieren.
“Jamie”, flüsterte ich kraftlos und hatte das Gefühl, mich bald übergeben zu müssen. Ich ließ meine Hand auf seine sinken und es war mir egal, was andere darüber denken mochten. Es war, als wäre sie das Letzte, was mir Halt geben konnte.
“Kannst du mich umarmen?”, bat ich ihn hilflos. Jamie zögerte keine Sekunde und nahm mich zärtlich in seine Arme. Ich fühlte mich augenblicklich geborgen und vor all der Traurigkeit, die in meinem Herzen versiegelt war, beschützt.
Er drückte meinen schwachen Körper feste an sich, um mir zu zeigen, dass er für mich da war. Um mich zu beruhigen, konzentrierte ich mich allein auf das Gefühl, Jamie so nah an mir zu spüren.
Seine Körperwärme schien mich ebenfalls zu umhüllen, wodurch sich meine Atmung allmählich wieder neutralisierte
“Jane kommt”, flüsterte Jamie mir ins Ohr, woraufhin er sich zaghaft aus der Umarmung löste. Ich war bloß in der Lage dazu, ihm ein dankbares Lächeln zu schenken, doch es sagte mehr, als tausend Worte. Jamie streifte meinen Arm und als er an meiner Hand angekommen war, drückte er sie einen kurzen Moment lang, um mir Kraft für das Bevorstehende zu geben. Alles in mir sehnte sich danach, seine Hand nicht wieder loszulassen, doch es ließ sich nicht ändern.
Ich richtete meinen Anzug und bemühte mich, meinen Fokus auf Jane zu legen, die am Arm ihres Vaters zum Torbogen schritt.
Janes weißes, mit Rüschen besetztes Kleid, welches ihr wie angegossen passte, wurde hinter ihr auf dem Sand hergezogen. Mit dem dezenten Blumenstrauß in der Hand sah sie ohne Zweifel wunderschön aus.
Mein Dad konnte seine Augen nicht mehr von ihr abwenden, was mehr als verständlich war. Ich konnte ihm ansehen, wie sehr ihm Janes Anblick gefiel.
Im Hintergrund spielte die kleine Band ein langsames, romantisches Lied, das den Augenblick vollkommen machte.
Alle Augen lagen auf Jane und meinem Dad, die sich nun gegenüberstanden.
Beide trugen ein glückliches Lächeln auf den Lippen, welche erahnen ließen, wie lange sie diesen Moment herbeigesehnt hatten. Janes Vater gab ihr einen leichten Kuss auf die Hand, bevor er das Brautpaar alleine zurückließ.
Mein Herz schlug mit jeder Sekunde schneller, doch glücklicherweise war die plötzliche Übelkeit wieder verschwunden.

Unexpected Love (boyxboy) Where stories live. Discover now