Kapitel 4 - Nathan

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Ich wachte auf als die Uhr an der Wand sechs Uhr schlug. Eigentlich war das nicht unbedingt meine Zeit, aber heute ging es nicht anders.
Ich sprang aus meinem Bett und schlüpfte in ein Baumwollhemd und Jeans.
Dann eilte ich die Stufen in unser Frühstückszimmer hinunter und grüßte meinen Vater.
"Nathan, schön das du schon da bist."
Ich nickte nur.
"Guten Morgen Vater."
Nachdem ich mein Frühstück gegessen hatte, verabschiedete ich mich von ihm und machte mich auf den Weg.
Heute stand eine Kontrollfahrt um unsere Ländereien an und ich hatte mich entschlossen mitzufahren.
Ich wusste einfach gerne, was auf meinem Land geschah.
Im Stall hatte man mir schon Buzefalus gesattelt.
Ich könnte zwar auch in der Kutsche reiten, aber das dauerte mir zu lange und es war viel zu viel Aufwand.
Nachdem man mir das Tor geöffnet hatte, trabte ich auch schon los. Ich folgte der vorher bestimmten Route und redete mit einigen der Förstern und Bauern auf unserem Gut.
Ihre Bemerkungen und Verbesserungen schrieb ich auf.
Lange hatte ich wenig davon gehalten, das einfache Volk nach seiner Meinung zu fragen, aber mein Vater hatte mich eines besseren gelehrt und ich sah den Nutzen ein.
Als ich gerade auf der Landstraße auf dem Rundweg zurück zu unserem Gut war, scheute Buzefalus und weigerte sich weiter zu gehen.
Vorsichtig stieg ich ab, wenn er sich vor etwas fürchtete, dann aus einem guten Grund.
Als ich die Straße genauer betrachtete, entdeckte ich was im so viel Angst eingejagt hatte. Einige Meter weiter lag eine zerbrochene Glasflasche und die Scherben waren voller Blut.
Nun betrachtete ich noch aufmerksamer die Umgebung und griff in meine Jackentasche in der ich meine Waffe hatte.
Unter einem Baum am Straßenrand entdeckte ich eine schlafende Gestalt.
Sie war beschmutzt und dreckig, wahrscheinlich irgendein Bettler.
Doch dann sah ich, das der Bettler barfuß war und seine Füße voller Blut.
Ich fluchte, denn ich konnte ihn doch nicht einfach hier liegen lassen.
Ich ging näher und wollte die Person gerade wachrütteln, als ich unter dem Schmutz  die feinen Züge und langen Wimpern bemerkte.
Als ich den langen dicken Zopf sah, der dem Bettler über den Rücken hing, bestätigte sich meine Vermutung. Die Person war ein Mädchen.
Vorsichtig hob ich sie hoch und nahm auch die Tasche mit, die neben ihr gelegen hatte.
Ich legte sie, so behutsam es ging über meinen Schoß und ritt  so schnell und so vorsichtig es ging Nachhause.
Als ich auf dem Gut ankam, winkte ich einem Stallburschen der mir sofort Buzefalus abnahm, bevor ich mit dem Mädchen auf den Armen ins Krankenzimmer lief.
Ich legte es auf das Bett und schickte ein Zimmermädchen nach meinem Vater.
Da kam auch schon die Krankenschwester und gute Seele des Hauses, Rosa. Sie blickte fragend zu mir auf und untersuchte mich mit ihren Augen nach Verletzungen, bis ihr Blick auf das Mädchen fiel und sie die Hände über dem Kopf zusammenschlug. 
"Nein, das gibt's ja nicht, armes Ding. Wo hast du sie gefunden?" „Am Straßenrand, sie ist in eine Scherbe getreten." Ich nickte in Richtung ihrer Füße. Zum ersten Mal betrachtete ich die Wunde genauer und mir wurde fast ein bisschen Übel.

Kleine Glasscherben steckten hier und da in ihrer Haut, der Fuß war angeschwollen und das Blut verkrustet. Mir wurde ziemlich mulmig bei dem Anblick und ich musste einmal durchatmen. Rosa lachte. " Wohl eher ein paar viele Scherben."
Mit plötzlich ruhiger Hand fühlte sie nach dem Puls überprüfte Atmung und Blutdruck.

Dann wandte sie sich an mich. " Du solltest gehen."  " Aber ich... Wieso?!" Ihr bestimmter Ton verwirrte mich und ich verstand nicht, weshalb sie mich wegschickte. Auf meine Erwiderung hin grinste sie. " Du kannst auch bleiben, aber dann musst du ihr das Kleid ausziehen Nathan." , befahl sie mir völlig gelassen.
"Aber ich kann doch nicht...", ohne das ich es verhindern konnte schoss mir das Blut in den Kopf. Das war mir mehr als peinlich. Ich legte also schnell noch die Tasche des Mädchens neben dem Bett ab, bevor ich den Rückzug antrat.  „Ruf mich wenn du fertig bist." Sie nickte. Leise zog ich die Tür hinter mir ins Schloss. Ich lehnte mich an und atmete tief durch. Die Wunde hatte mich wirklich erschrocken. Ich hoffte, dass das Mädchen gesund werden würde. Ich rief durch die Tür: " Rosa, kann ich irgendetwas tun?". „Nein, mein Lieber. Sie braucht Ruhe, nachdem ich ihren Fuß behandelt habe, werden wir weitersehen. Obwohl, doch! Bring mir bitte einen Tee und eine warme Wolldecke." Ich nickte und verschwand. Natürlich hatte ich Rosa durchschaut.  Ich wusste, dass sie sich auch wunderbar selbst  darum kümmern konnte, doch sie kannte mich und wusste, dass ich etwas tun wollte. Ich lief also den Gang entlang und die Treppe hinauf in die Küche. Dort herrschte geschäftiges Treiben, da es bald schon wieder Mittag wäre, wie ich mit einem erstaunten Blick aus dem großen Bogenfenster feststellte. Ich war lange mit dem Mädchen beschäftigt gewesen. Eine Magd, ich glaube sie hieß Carlotte, wurde auf mich aufmerksam. " Kann ich ihnen helfen, Herr Beaufort?" Ich nickte: " Ja, dass kannst du. Ich habe eine verletzte Bettlerin aufgegabelt. Rosa behandelt sie gerade. Sie fragt nach einem Tee, hättest du da etwas für mich?" Sie machte große Augen, bevor sie eifrig nickte, mich bat, einen Moment zu warten und im Gewusel verschwand. Ich hatte es ihr absichtlich erzählt. Gerüchte verbreiteten sich wie ein Lauffeuer und lieber wollte ich gleich die Wahrheit verbreiten. Ich beobachtete das Treiben. Dieses verwahrloste Mädchen zu finden, dazu noch auf unserem Gebiet!, hatte mich mehr erschrocken, als ich mir eingestehen wollte. Ich hatte mir lange nicht mehr vor Augen geführt, wie das Leben für manche wirklich war. Die Magd kam zurück und reichte mir ein Tablet mit einer dampfenden Tasse Tee. Darauf befanden sich auch ein Schälchen mit geschnittenen Früchten und eines mit Grießbrei. Skeptisch betrachtete ich das Essen. " Ich glaube nicht, dass die Bettlerin in nächster Zeit wach wird." Die Magd lächelte. " Das ist für Rosa und Sie. Vielleicht sind Sie ja hungrig nach all der Aufregung ." Ich lachte " Hungrig bin ich immer. Danke.." " Ich heiße Carlotta. " Erklärte das Mädchen. " Nun, vielen Dank, Carlotta", meinte ich und deutete eine Verbeugung an, was sie zum Lachen brachte, bevor ich mich auf den Rückweg machte. 

Vorsichtig trat ich ein. Rosa saß am Bett des Mädchens und lächelte mir erschöpft zu. Sie winkte mich heran und ich versuchte leise zu sein, da es so aussah als würde sie schlafen. Leise zu sein, war aber in den schweren Reitstiefeln, die ich noch immer anhatte wirklich schwierig. Ich stellte das Tablett ab und meinte: " Das Essen ist für dich, falls du Hunger hast." 


AmelieWhere stories live. Discover now