„Von hier aus ist es zu weit.", stellte Kaylen mit einem prüfenden Blick fest. Als er seinen Rundumcheck abgeschlossen hatte, schaute er mich direkt hat.

„Aber ich weiß, wo wir hingehen können." Sein Blick war fragend.

„Oh nein. Ich penne nicht mit dir irgendwo.", wehrte ich automatisch ab.

„Du kannst nicht nach Hause laufen. Du weißt, dass ich recht habe. Komm einfach.", forderte er mich auf.

Widerwillig setzte ich mich in Bewegung.

„Wo gehts hin?", fragte ich, als er einfach stehen blieb, während ich schon am Laufen war.

Als erwache er aus einer Starre, schloss er zu mir auf und zeigte mir den Weg.

Es war wirklich nicht weit. Vielleicht 200 Meter.

Es war ein Mehrfamilienhaus, nicht eines von denen, die ich mit meiner Familie bewohnte, eher so in Richtung Bruchbude.

Wir gingen hinein - es gab an der Eingangstür kein Schloss - und mussten einige knarrende Holzstufen erklimmen, bevor wir die richtige Tür erreichten.

Es roch modrig in diesem Haus, als würde was vor sich hin vegetieren - wie ich unter dem Bett.

Die Türen waren großteils in einem dunklen Grün gestrichen, doch der Lack blätterte bereits ab und gab den Blick auf kaputtes Holz frei.

Die Wände waren wohl mal weiß gewesen, aber jetzt glich es eher einem hellen Braun.

Mit ungutem Gefühl folgte ich Kaylen in die Wohnung, die er aufgeschlossen hatte.

„Wohnst du hier?", fragte ich so wenig abwertend wie möglich. Ich war echt eine kleine Prinzessin.

„Ja, hübsch oder?" Ich konnte ehrlich nicht ausmachen, ob er das jetzt ironisch oder ernst meinte.

„Sicher.", murmelte ich und ließ mich auf die braune Couch in der Mitte des Raums fallen. Bildete ich mir das ein oder war da grade eine Staubwolke aufgewirbelt worden?

Steif wie ein Stock saß ich da. Kaylen ging in die Küche und ich wandte ihm somit den Rücken zu.

Unauffällig sah ich mich um. Links von meiner jetzigen Perspektive auf der Couch war ein großes Fenster, vor dem ein Tisch mit zwei Stühlen stand.

Neben der Eingangstür war ein Regal mit Büchern und DVDs, das sich bis zur Tür links neben dem Fernseher gegenüber von mir zog.

Die Einrichtung war sehr simple und meistens holzbraun oder schwarz.
Die weißen Wände machten das ganze komischerweise freundlich.

Die Küche, in der Kaylen gerade Wasser aufkochte, war recht klein.

Ein offenes Regal für Gewürze war das einzige, was die Küche vom Wohnzimmer trennte. Mikrowelle, Backofen, Herd und Kühlschrank waren auf dem engen Raum zusammengepfercht.

Irgendwie war die Wohnung ja schon süß.

Es führte nur diese eine erwähnte Tür aus diesem Zimmer. Dahinter lagen wohl Schlafzimmer und Bad.

Kaylen ließ sich mit zwei Tassen Tee in der Hand neben mir auf die Couch fallen und schaltete den Fernseher ein.

„Ich bin noch nicht müde, aber ich zeige dir gern mein Zimmer, dass du schlafen kannst.", bot er an und schlürfte an seinem gutriechenden Tee.

„Ehrlich gesagt, bin ich auch nicht mehr so müde.", sagte ich ehrlich und nahm eine Tasse entgegen. „Aber ich sollte noch meinen Eltern schreiben."

Hastig stellte ich die Tasse auf den Couchtisch, der aussah, als würde er unter dem Gewicht zusammenbrechen.

Dieser Tee roch so gut, dass es fast wehtat ihn gleich wieder wegzustellen.

Eilig fischte ich mein Hand aus der Tasche hervor und schrieb meiner Mutter. Sie fragte bereits, wo ich abgeblieben war.

Hab einen Freund getroffen, bei dem ich schlafe, weil es schon so spät ist.

Erklärte ich so grob. Im Nachhinein überlegte ich, ob es ein Fehler war einen Freund statt eine Freundin geschrieben zu haben. Meine Eltern würden sicher ausrasten, wenn ich nach Hause kam.

Vergesst nicht zu verhüten😉

Die Nachricht erschien auf meinem Bildschirm und ich drehte sofort mein Handy um. Hoffentlich hatte Kaylen es nicht gesehen, doch er schien in den Fernseher vertieft.

Mit brennenden Wangen nahm ich mein Tee wieder in die Hand und prüfte, was so lief.

Irgendein Teil von Men in Black. Eigentlich ja cool, ich mochte diese Filme.

Ich erinnerte mich nicht mehr, was genau alles noch passierte, aber ich wusste, dass ich an diesem Morgen in einem fremden Bett aufwachte.

Erschrocken sprang ich daraus hervor und sah mich um. Definitiv ein Jungszimmer. Unordenlich und schlich gehalten, aber eigentlich ganz schön.

Am Fenster prüfte ich kurz die Tageszeit. Es war noch gar nicht hell, nur der Schein der New Yorker Lichter fiel wie farbige Samtbänder in das Zimmer.

Der Himmel war zwar nicht mehr schwarz, aber bis zur Dämmerung dauerte es noch.

Komisch, dass ich mich jetzt schon so wach fühlte. Nachdem ich die Toilette besucht hatte, würde ich nochmal versuchen zu schlafen.

Vorsichtig öffnete ich die Tür. Sie knarrte leicht und ich kniff die Augen zusammen. Bitte Kaylen, wach nicht auf!

Auf Zehenspitzen schlich ich über den kühlen Holzboden auf die offene Tür direkt gegenüber zu. Ich konnte erkennen, dass der Boden aus Fliesen bestand, also musste es das Bad sein.

Eilig tapste ich rüber und öffnete die Tür.

Auf der linken Seite stand jemand und pisste im Stehen in die Schüssel.

Ich konnte ein erschrockenes Ups nicht unterdrücken und presste mir schnell die Hand auf die Augen.

„Na aber hallo!", sagte jemand und ich konnte das hämische Grinsen raushören.

Es klang ziemlich nach Kaylen's Stimme, nur etwas rauer und müder. Aber er war es nicht. Ich hatte die Tattoos auf den Armen sofort bemerkt.

„Du kannst die Augen auch wieder öffnen.", gab mir die Person als Tipp. Darauf hörte ich die Spülung und das Wasser des Waschbeckens. Langsam ließ ich meine Hand sinken.

Genau wie ich es mir gedacht hatte.

Vor mir stand Ryder mit den fesselnden grünen Augen und den sexy Tattoos.

„Was machst du denn hier?", entfuhr es mir automatisch erschrocken. Der Toilettendrang war komplett in den Hintergrund gerückt.

Das alles war gerade viel zu unrealistisch. Wie konnte das sein? Hatte ich irgendwas komplett verpasst?

„Naja, ich wohne hier.", erklärte er. „Du jedoch nicht. Aber weiß du, was lustig ist? Es wundert mich nichtmal, das du hier bist."

Verwirrt und fassungslos sah ich also dem Fremden, mit den schönen Augen, beim Hände abtrocknen zu und fragte mich, ob ich gerade einen verrückten Traum hatte.

Die ganze Situation schien mir einfach unwirklich.

Ryder und Kaylen wohnen also zusammen? Nichts Besonderes oder? Nur etwas überraschend...

Truth or KissWhere stories live. Discover now