╚ Vier Rätsel zuvor╝

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Vier Rätsel zuvor

Ich hatte verdammt viel Angst

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Ich hatte verdammt viel Angst

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F Y N N


„Weißt du, worüber ich froh bin?"

Emily ließ ihre Beine über den Bühnenrand baumeln und hatte ihre Hände hinter den Kopf verschränkt. Leicht drehte sie ihren Kopf in meine Richtung, wartete meine Antwort ab. Ich zuckte nur mit den Schultern und forderte sie somit auf, weiterzureden.

„Dass wir nun endlich in unserem Abschlussjahr sind und ich es somit erfolgreich geschafft habe, in meiner gesamten Laufbahn an der Highschool von Tullbourg nicht in einem einzigen von Mrs. Dawns Theaterprojekten mitgespielt haben zu müssen."

Ich lachte über ihre Äußerung und lehnte mich in dem Stuhl, in dem ich saß, zurück. Wir hatten Mittagspause und da draußen ein Sturm wütete, wie es hier für einen Oktobertag nicht unüblich war, war die Mensa so überfüllt gewesen, dass Emily und ich beschlossen hatten, unsere freie Zeit hier in dem Theatersaal zu verbringen. Dass dies eigentlich nicht erlaubt war, ignorierten wir geflissentlich.

„Nein, im Ernst, Fynn...", Emily richtete sich auf ihre Ellenbogen auf, um mich richtig ansehen zu können, „wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich so viel Glück gehabt hatte, kein einziges Mal einen Baum oder eine grinsende Katze spielen zu müssen? Musste Erin in ihrem ersten Jahr nicht sogar diese singende Porzellanschüssel aus Aschenputtel spielen?"

„Du meinst ‚Die Schöne und das Biest'", korrigierte ich sie immer noch grinsend, „Und ja, du bist schon ein richtiger Glückspilz. Wenn ich mich nicht irre, sind wir vier Theaterkurse, das bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit in all den Jahren kein..."

„Ja, ja, ja, Fynn", unterbrach mich meine Freundin mit einem Händewedeln, „das war nur eine theoretische Frage gewesen. Mein Kopf brummt immer noch von der Mathestunde im ersten Block, ich kann mir jetzt nicht noch mehr Wahrscheinlichkeitsrechnungen anhören. Einigen wir uns einfach darauf, dass ich nur ein totaler Glückspilz bin..."

Mit etwas Schwung richtete sie sich auf und nahm ihren Worten mit einem warmen Lächeln etwas die Schärfe. „Nun gut und da nun auch etwas der Druck von meinen Schultern verschwunden ist, jemals vor der versammelten Schülerschaft mich lächerlich machen zu müssen, kann ich fast sagen, dass ich mich auf die nächsten Theaterunterrichtsstunden freue. Fynn, wir müssen nur noch wenige Stunden lang Stühle anschreien und übertrieben deutlich sprechen, bevor wir unser Abschlusszeugnis in den Händen halten können, ist das nicht unfassbar?" Sie fuhr sich einmal mit der Hand durch ihre Haare und schüttelte dabei ihren Kopf. „Die Zeit vergeht so schnell. Bald ist schon Thanksgiving, Weihnachten, dann kommt das neue Jahr und ehe wir uns versehen, steht jeder von uns mit einem Karton Bücher und Kleidung in den Händen auf dem Uni-Campus."

Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, zog sich etwas in meinem Bauch zusammen. Ich bekam schon wieder nur schwer Luft und versuchte den Kloß, der sich binnen weniger Sekunden in meinem Hals gebildet hatte, herunterzuschlucken.

„Ja, da hast du Recht", brachte ich nur hervor und drehte mich leicht von ihr ab. Die Vorhänge waren zugezogen, aber dennoch konnte man das Toben des Windes von Draußen hören. Nate und Erin befanden sich mit ihrem Biologiekurs auf einer Exkursion und wenn ich ehrlich war, konnte ich mir definitiv besseres vorstellen, als bei diesem Wetter in nasser Erde nach Regenwürmern graben zu müssen.

„Es wird sich so viel verändern. Ich weiß nicht, ob ich mich darauf freuen soll oder nicht, wenn ich ehrlich bin." Emily seufzte auf. „Wie sieht es bei dir aus?"

Mein Blick wanderte wieder zu ihr und langsam zuckte ich die Schultern.
Genau genommen wollte ich mir keine Gedanken darüber machen. Denn sie hatte Recht. Es würde sich so vieles verändern, das gesamte Koordinatensystem könnte sich verschieben. Neue Graphen würden hinzukommen, andere hingegen wegfallen.

Ich schluckte, als mir dies erneut bewusst wurde und schnell schüttelte ich den Kopf, um diesen einen grauenhaften Gedanken verscheuchen zu können, bevor sich die Schwere und Dunkelheit erneut in meinen Körper breit machen konnte. 
ich mochte mein Koordinatensystem so wie es war, doch in letzter Zeit hatte ich mehr und mehr das Gefühl, dass es mir entglitt, mir durch die Finger rann wie fließendes Wasser und ich nichts dagegen tun konnte, dass es sich auflöste, bis nichts mehr davon übrig war.

„Manchmal wünschte ich, dass ich die Zeit anhalten könnte", meinte ich schlussendlich ehrlich. Ich spürte Emilys prüfenden Blick auf mir und sah aus den Augenwinkeln wie sie anfing zu nicken.

Eine Zeit lang blieb es still zwischen uns und das einzige Geräusch, das die Stille durchbrach war das Schlagen von Ästen gegen die Fensterscheiben.

„Fynn?", sprach Emily schlussendlich und ich wendete mich wieder ihr zu. Ihr Blick war ernst. „Du musst keine Angst haben."

„Vor was?", fragte ich und ein müdes Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit.

„Vor Veränderungen."

Ich schüttelte den Kopf. „Das habe ich nicht, Em."

Ich lächelte ihr zu, doch zugleich fühlte ich mich wie überfahren.
Denn in diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass ich nicht nur Emily, sondern auch mich selbst belog: 
Denn die Wahrheit war; ich hatte verdammt viel Angst.

Und ich war mir längst nicht mehr sicher, ob dies ein Rätsel war.


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(24.05.2019)



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