⌜Prolog oder das letzte Rätsel⌝

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F Y N N    


Wenn mich etwas wirklich im Leben fasziniert hatte, dann war es Mathe.
Mathe konnte in so vielen Hinsichten das Leben besser erklären als es andere konnten.
Es gab negative Zahlen, aber gleichzeitig gab es die gleiche Anzahl an positiven Zahlen.
Genauso wie es schlechte und gute Tage gab.
Mal kam aus einer Rechnung nicht das heraus, was man erwartet hatte, mal brauchte man einen Taschenrechner und ein anderes Mal musste man erkennen, dass die Gleichung nicht lösbar war.
Aber was mich am meisten beschäftigte, waren die Linien. Manche trafen sich ein einziges Mal und sahen sich dann nie wieder und je länger ich darüber nachdachte, desto trauriger wurde es.
Andere hingegen waren sich so ähnlich, würden sich aber nie kreuzen.

Mathe war wohl eines der wenigen Sachen, die ich vermissen würde, wenn ich mich endlich zusammenreißen und diesen letzten Schritt machen würde.
Zusammen mit schwarzen Kaffee, am besten Eimerweise und mit Strohhalm, sowie dem Rätselblock des Schwierigkeitsgrades 5 ¾.
Und Alicia.

Ich seufzte auf und legte meinen Kopf in den Nacken.
Der Regen prasselte unaufhörlich auf mein Gesicht und meine braunen Haare klebten mir auf der Stirn. Doch ich strich sie mir nicht weg.
Mehrmals blinzelte ich die Tropfen aus meinen Augen und ich spürte wie die Nässe meinen Rücken hinunter wanderte.
Der eisige Wind zerrte an meiner Jacke und ließ meine Finger einfrieren.
Welcher Idiot würde denn sonst Anfang November bei einem Sturm an einem Abhang stehen?
Nun ausgenommen ich.
Wobei ich auch kein Idiot, sondern Fynn war, der sein Leben durch Mathe erklärte und zu viel Kaffee am Tag trank.
Und den nichts mehr im Leben hielt.

Langsam öffnete ich meine zu Fäusten geballten Hände und breitete sie zu beiden meiner Seiten aus.
Wenn irgendjemand mich beobachten würde, würde er mich verrückt halten, dass ich mich bei diesem Wetter hier heraufwagte, doch da kein anderer hier war, musste ich mir keine Sorgen machen, wie ich in den letzten Sekunden meines Lebens ausgesehen habe.
Wäre Alicia hier gewesen, wäre es jedoch etwas anderes gewesen...

Gerade als ich einen Schritt auf den Abgrund zu ging, fing mein Handy in meiner Hosentasche an die Titelmusik von ‚Game of Thrones' zu plärren. Für einen Moment überlegte ich, dies einfach als epische Begleitmusik in den Tod zu nutzen, aber da ich wusste, wem der Klingelton gehörte und sie sich sicherlich aufregen würde, wenn sie erfahren würde, dass ich vor meinem Ableben sogar ihren Anruf ignoriert hatte, zog ich mit kalten Fingern das nervige Ding aus meiner Hosentasche.

„Ja, Mom?", schrie ich gegen den Wind an und hielt mir mit meiner anderen Hand das Ohr zu.
„Fynn, hast du die Spülmaschine ausgeräumt? Nate wollte morgen italienisch kochen und nun ist die Frage, ob du lieber Nudeln oder- Warte, bist du draußen, Schatz? Warum ist es so laut?"

Ich kratzte mir verlegen an der Stirn und räusperte mich, bevor ich das Thema Spülmaschine galant umging und einfach meinte: „Ich bin draußen, das übliche, Mom. Und kaufe lieber Tiefkühlpizza, ich habe das Gefühl, dass weder Nate noch du morgen Lust hat, groß zu kochen. Außerdem ist Pizza auch italienisch..."

Ich starrte in den Abgrund und sah den dunklen Wellen zu, wie sie aggressiv über einander herfielen. Mom seufzte in den Hörer und ich hörte alte Countrymusik im Hintergrund, sodass ich sofort wusste, dass sie in Mrs. Rechfields kleinem Discounter war.

„Okay, dann Fertigpizza. Reicht dreimal Salami, oder denkst du, ihr werdet großen Hunger haben? Machst du eines deiner Rätseln, Schatz? Pass auf dich auf, okay? Es stürmt ziemlich."

Nun fragte ich mich insgeheim warum ich doch noch ans Handy gegangen war. Es verpasste mir einen kleinen Stich in der Seele, dass ich ihre Stimme nun zum letzten Mal hören würde und ich wollte sie nicht anlügen. Zum Glück musste ich dies auch nicht.

„Ich denke, ich werde morgen nicht mehr so großen Hunger haben, Mom. Und ja, ich mache eines meiner Rätsel, ich glaube sogar das Wichtigste von allen."

Die Verbindung hackte für einen kurzen Moment, bevor Mom sich erneut meldete: „Oh wie schön! Du kannst ja heute Abend davon berichten."

„Ich denke, dieses Rätsel muss jeder für sich selbst lösen, Mom", sprach ich sachlich, während ich einen weiteren Schritt auf den Abgrund zuging.

„Oh, okay", Moms Stimme klang leicht überrascht, aber bald wüsste sie, was ich damit meinte. „Du, Fynn, ich muss leider Schluss machen, Macey ist gerade gekommen. Bis nachher!"

„Bis irgendwann, Mom", sprach ich ehrlich und dann war die Leitung tot.
Ich seufzte auf und starrte für einen kurzen Augenblick noch auf mein Handy. Das Hintergrundbild zeigte ein Foto von mir und meinen besten Freunden.
Und ich hatte eine neue Nachricht von Ethan.
Ich denke, er würde mir verzeihen, wenn ich sie mir jetzt nicht auch noch durchlesen würde.
Deswegen sperrte ich mein Handy wieder und schob es zurück in meine Hosentasche.
Erneut hob ich mein Gesicht dem dunklen Himmel entgegen, breitete meine Arme aus und ging einen weiteren Schritt.
Und noch einen.
Und noch einen.

Und dann, als mein Fuß auf keinen Boden mehr traf, fiel ich.
Ich fiel genau in das Gewitter hinein, wurde verschluckt von dem Donnergrollen und der elektrisierten Luft.
Es war erstaunlich wie sich die Zeit bei einem freien Fall in die Länge zog und was für absurde Gedanken man in den letzten Sekunden seines Lebens hatte.

Ich bekam ein schlechtes Gewissen, weil ich vergessen hatte die Geschirrspülmaschine auszuräumen und Mom dies dann noch zusätzlich machen müsste, wenn sie vom Einkaufen kam. Und weil ich eine angebrochene Take-Away Box unter meinem Bett stehen hatte. Sie würde fürchterlich anfangen zu stinken, genauso wie die dreckigen Socken daneben.
Das letzte Rätsel, das ich gelöst hatte, schoss durch meinen Kopf und ich war froh, dass ich zumindest nicht die Neugier hinter der Antwort mit ins Grab nehmen musste.
Und dann war da Alicia.
Ihr Lächeln war es, das ich sah, als ich auftraf und in den aufwühlenden Wellen versank.
Mir war nicht kalt.
Nicht so lange ich sie sah.

Ich versank wie ein Stein, wurde hin und her geschleudert, traf auf Steine und streifte Plastiktüten.
Doch ich ertrank nicht in dem Wasser von einen der so vielen namenslosen Gewässern von Minnesota.
Nein, ich ertrank in den Augen von Alicia und ich musste sagen, dass es keinen schöneren Tod gab.

Ich hatte das letzte Rätsel gelöst.
Mein persönliches.
Und die Antwort war so wundervoll, dass ich nichts bereute.
Außer vielleicht, dass Alicia und ich parallel zueinander waren.

Wir waren parallele Linien und während ihre Linie einfach weiterverlaufen würde, war ich nun eine mathematische Unkorrektheit. Meine Linie fand hier ein Ende.
Denn ich hörte einfach auf zu existieren.

~

(05.08.2016)

Hallo und herzlich Willkommen bei meiner neuen Geschichte.

Die Idee zu Parallel Lines schleppe ich nun schon seit etwas längerer Zeit mit mir herum und soll mein persönlicher Ausgleich zu Skyland werden.

Auch wenn ich naiv wäre, wenn ich glauben würde, dass mir diese Geschichte nicht auch ab und zu aufs Gemüt schlagen würde.... (;

Ich hoffe, ihr habt jetzt schon Gefallen an ihr gefunden und werdet weiterhin Alicia und 'Fynn' begleiten. Auch wenn es für euch wahrscheinlich noch etwas ungewiss erscheint, wie es weitergehen wird... Lasst euch überraschen und ich hoffe, ihr freut euch genauso sehr wie ich mich. 

Viel Spaß beim Lesen und ein riesen Dankeschön an euch!




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