Kapitel 11

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Kapitel 11

Eintrag 28, 09.06.2030.

Ich wollte dich nicht mit diesen Worten zurücklassen. Daher schreibe ich noch etwas, was ebenfalls an jenem Tag vor genau sechs Jahren geschehen ist. Diesmal ist es ein Gespräch zwischen mir und ihm. Ein Gespräch, das ich nie vergessen werde. Ein Gespräch, das mich bis heute begleitet. Ein Gespräch, das mich nachdenken lässt.

Das Gespräch mit Melek hatte ich beendet, als mich jemand am Arm packte und von ihr fortriss. Ich wollte aufschreien, kam jedoch nicht dazu. Denn seine Hand legte sich schraubstockartig um meinen Mund und ließ mich leise wimmern. Seine Miene strahlte etwas aus, was ich mit meinen sechzehn Jahren nicht beschreiben konnte. Er sah mich eisern an. Musterte mich abfällig. Drückte unaufhörlich zu. Tränen des Schmerzes traten in meine Augen. Jedoch konnte ich mich in diesem Moment nicht wehren. Ich war machtlos. Zu schwach, um mich gegen ihn zu behaupten.

«Du kleines Biest!», hatte er mir ins Ohr gezischt und fester zugedrückt. Mein Kiefer schmerzte schon. Wenn er nicht bald losließ, würde er zerbersten. «Ich mach dich fertig!»

Hatte er geknurrt und mir vor die Füße gespuckt. Dabei lockerte sich sein Griff kaum merklich. Reflexartig zog ich mein Bein an, nahm Anlauf und rammte es ihm in die Weichteile. Der Mann meiner Träume jaulte auf, wie ein verletztes Tier.

«Du verdammte Hure!», hatte er gebrüllt und sich dabei auf dem schmutzigen Boden gekrümmt. Ich hingegen war davon geeilt. Ich lief so schnell mich meine Beine trugen. Fort von ihm. Fort von allen. Fort von der Wirklichkeit, die mich zu ersticken drohte!

Als ich zitternd an unserer Wohnungstür ankam, schloss ich die Tür auf und stürmte in mein Zimmer. Bis zu diesem Zeitpunkt waren unsere Eltern noch in Berlin und sorgten sich um uns. Erst einige Monate später flogen sie zurück nach New York.

Sie hatten uns allein gelassen! Sie scherten sich einen Dreck um uns! Sie riefen nicht einmal an! Überwiesen nur das nötige Geld, was wir brauchten. Und sonst? Nichts! Funkstille. Pfutsch! Aus und vorbei! Zerrissene Kontaktfäden, die unbeschrieben in der Luft hingen.

Türen, die laut ins Schloss fielen. Schreiende Menschen. Schreiende Teenager, die gegen die Erwachsenen rebellierten. Eltern, denen versehentlich die Hand ausrutschte. Eltern, die sich nicht entschuldigten! Teenager, die sich keiner Schuld bewusst waren.

Und dann? Nichts. Einfach nur Stille, die uns zu erdrücken schien. Mein Bruder ließ sich nichts anmerken, doch er wusste, wie es mich zerstörte. Ganz langsam. Von innen heraus. Es glitt durch mein Fleisch, durch meine Sehnen, durch meine Muskeln, durch meine untere Hautschicht, durch die mittlere Hautschicht und zu guter letzt: durch die obere Hautschicht.

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Besorgt sah er zu Bella herüber, die lethargisch auf einem Papier herum schrieb. Ayden wollte sie nicht stören und ließ sie einfach in Frieden. Als er jedoch leise vom Sofa aufstand, sah Bella zu ihm auf. Etwas lag in ihrem Blick, was ihn alarmierte. Rasch eilte er zu ihr und drückte ihren zierlichen Körper an seine starke Brust. In diesem Moment durchnässte sich sein Shirt, was er angezogen hatte, da es furchtbar warm im Haus war. Beruhigend streichelte er über ihren Rücken, zog sie näher an sich. Ein leises Schluchzen erfüllte die Stille des Raumes. Tief holte Ayden Luft, hob sie kurzerhand hoch und platzierte sie auf seinem Schoß. Wie von Geisterhand krallte sie sich an seine Schultern, weinte bitterlich. Ayden mahlte kleine Kreise auf ihren Rücken und versuchte somit, sie zu beruhigen.

«Ich hasse sie», brachte Bella stammelnd und weinend heraus. «Ich hasse sie!»

«Es wird alles gut», versicherte er ihr und unterdrückte den Kloß, der in ihm aufstieg. Ayden musste stark sein. Für Bella. Er durfte sie jetzt nicht mit seinen Belangen belasten. Sie brauchte ihn in diesem Moment dringender denn je.

Wenn aus Liebe Hass wirdWo Geschichten leben. Entdecke jetzt